Ein Sommerabend in Demmin. Es ist heiß, drückend. Ich bin zu früh dran. Der Nahverkehr gibt mir keine andere Möglichkeit. Am ZOB blinzle ich in die Sonne. Der Busfahrer, mit dem ich gerade hergekommen bin, zündet sich eine Zigarette an. Sonst ist niemand zu sehen. ZOB ist eine übertriebene Bezeichnung für diesen Ort. Der zentrale Omnibusbahnhof ist nichts weiter als eine Schleife mit drei oder vier überdachten Bänken. Daneben steht das Bahnhofsgebäude. Es ist ebenso verwaist. Wer zu den Gleisen möchten, geht nicht hindurch, sondern außenrum. Im Augenblick möchte niemand zu den Gleisen. Vom ZOB aus sind es nur ein paar Schritte bis zur Waldbühne. (Foto: Morten Hübbe) Auf der anderen Seite des ZOB prangt ein Werbeschild über einer gläsernen Tür. Dönerpalast steht darauf. Dönerpalast. Viel mehr Provinz geht nicht, denke ich und schlendere die Straße entlang Richtung Stadion und weiter zum Netto. Die obligatorische Filiale eines Bäckers, die sich im Vorraum fast jeden Supermarktes befindet, ist geschlossen oder war noch nie geöffnet. Schwer zu sagen. Draußen hocken eine Handvoll Jugendliche um zwei Mopeds. Ein älterer Herr geht mit einem Hund und grimmigen Mundwinkeln spazieren. Demmin, was ist los? Ich bin mit Albert Münzberg und Pablo Himmelspach verabredet. Die beiden jungen Männer kommen aus der Region, haben ihre Jugend in und um Demmin verbracht. Beide sind Musiker, Rapper. Hinterlandgang nennen sie sich und plakatieren heute die Straßen von Demmin. 100 Tage Sommer heißt ihr Open Air, das sie auf der städtischen Waldbühne organisieren. Es ist nicht ihr erstes Konzert in Eigenregie, aber ihre erste Veranstaltung in dieser Größenordnung. Schatten der Provinz „Demmin ist eine typische ostdeutsche Kleinstadt“, sagt Himmelspach. Früher, zur DDR- und Nachwendezeit, war sie ein wichtiges Zentrum der Region. Hier befanden sich Kultureinrichtungen, Ämter, Einkaufsmöglichkeiten. „Die Leute sind dafür nach Demmin gefahren“, erklärt Münzberg und zeigt auf eine riesige verblichene Werbetafel. Die Logos der Marken Levis, Diesel und Wrangler sind darauf zu erkennen. Statussymbole der frühen 90er-Jahre; nicht nur in Ostdeutschland.  Nach der Wende kam der Wandel. Abwanderung. Viele junge Menschen verließen die Region. Vor allem Kreativschaffende suchten neue Herausforderungen in den Großstädten. Die Provinz und so auch Demmin verloren Kraft und Energie. Was blieb, war eine gefühlte Perspektivlosigkeit, die besonders junge Menschen zum Gehen aufforderte.  Zur Stadt gehört auch die dunkle Geschichte des Massenselbstmordes Hunderter Zivilisten zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Tragödie wurde nicht nur medial, sondern auch politisch ausgenutzt. Seit Jahren marschieren Faschisten und Neonazis am 8. Mai durch Demmin, um den Toten zu „gedenken“. Bis heute schwingt deshalb eine gewisse Schwere durch die Stadt, glaubt Himmelspach. Tristesse und Trauer wirken in die Gegenwart. „Es ist eine Summe verschiedener Dinge“, erklärt der Rapper. Gemeinsam bewirken sie, dass Demmin kein blumiger, einladender Ort ist. Stimme aus dem Osten „Die Stadt ist teilweise arm“, sagt Himmelspach, „Sie hat wenig Struktur und Kultur, aber es gibt hier mittlerweile einige Menschen, die Bock haben, etwas auf die Beine zu stellen“. Die Hinterlandgang gehört dazu. „Wir hätten nach Berlin gehen können“, erklärt Münzberg, „aber künstlerisch hat uns das nie gereizt“. Die Berlingeschichten seien auserzählt, ist er überzeugt. „Wir wollen uns selbstverwirklichen und dazu haben wir in MV viel mehr Möglichkeiten“. Den Freiraum der Provinz wollen Münzberg und Himmelspach nutzen.  Das erste Plakat „100 Tage Sommer“ hängt am Laternenpfahl gegenüber vom Stadion. „Da wollen wir auch noch mal spielen“, sagt Himmelspach und blickt durch den Zaun hinüber auf den Fußballplatz. Münzberg nickt zustimmend. Beiden jungen Männern ist die Region wichtig. Über die Provinz sprechen sie reflektiert und selbstbewusst. Mit Demmin verbinden sie vor allem Jugendjahre. Biertrinken hinterm Netto, weil es keinen Jugendclub gab. Erwachsenwerden im Hinterland. „In Demmin habe ich viele Erfahrungen gesammelt“, sagt Himmelspach. Gute und schlechte. Er erzählt von betrunkenen Männern, die ihn als damals Minderjährigen verprügeln wollten und davon, dass die gleichen Typen noch immer stadtbekannt seien. Demmin hat ziemlich graue Seiten. Diese Lebensrealität ist es, die die Hinterlandgang seit 2016 in eigenen Songs verarbeitet. Das ist nicht trostlos, sondern auf den Punkt. Rap war für beide der einfachste Weg, um ohne Instrumente Musik machen zu können. „Entscheidend war der Moment, als wir gemerkt haben, dass wir mit einer eigenen Stimme über unser Leben erzählen können“, sagt Münzberg.  Albert Münzberg und Pablo Himmelspach von der Band „Hinterlandgang“ haben sich bewusst für ein Festival in der Provinz entschieden. (Foto: Morten Hübbe) „Unsere Texte haben Relevanz, weil die Leute verstehen, worüber wir sprechen“, ergänzt Himmelspach. „Wir zeichnen eine Gegend, die strukturschwach ist, wo wenig für Jugendliche stattfindet, wo es normal ist, sich auch im Winter an der Tankstelle oder Bushaltestelle zu treffen, weil es keine anderen Orte gibt.“ Gleichzeitig ist es Münzberg und Himmelspach wichtig zu zeigen, dass die Provinz sehr lebendig sein kann. Sie rappen von stolzen Frauen, hochgestellten Kragen, einem Wir-Gefühl, Authentizität, vom Umgang mit dem Scheitern. 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist die Hinterlandgang Teil eines Wandels im kulturellen Diskurs. Die Provinz, gerade die ostdeutsche, gewinnt immer mehr Stimmen, die selbstbewusst über die eigenen Lebenswirklichkeiten sprechen. Es wird nicht mehr nur über den Osten debattiert, auch der Osten spricht. In Meck-Vorp zählen neben der Hinterlandgang, auch Bands wie Feine Sahne Fischfilet oder Zugezogen Maskulin dazu. „Wir sind alle in eigenen Wirklichkeiten gefangen und darum versuchen wir in unseren Texten das eigene Verhalten zu reflektieren“, erklärt Münzberg. Für ihn hat Kunst immer einen Selbstbezug. „Die Hinterlandgang sei nicht politisch genug, hören wir immer mal wieder“, sagt der Musiker. „Wir benutzen nicht das Vokabular der linken Bubble, aber als Personen und Künstler haben wir eine klare Haltung. Das muss ich aber nicht in jedem Songtext aufs Neue ausdrücken“.  Mit Blick auf die Provinz fügt Himmelspach an: „Du kommst nicht aus deiner Lebensrealität heraus, wenn dir nichts anderes vorgelebt wird.“ Auch deshalb wollen die beiden ihr Open Air in Demmin feiern. Mittlerweile hängen etwa sechs bis sieben Plakate in der Jarmener Straße. Weitere folgen in der Innenstadt. Für die Region, aus der Region 100 Tage Sommer ist für die Jugend in der Provinz. „Wir machen etwas los, wo eigentlich nichts geht“, erklärt Himmelspach. Das Open Air soll Menschen zusammenbringen. „Wir wollen uns kennenlernen und gemeinsam Haltung zeigen“, spricht Münzberg weiter. Darum arbeiten beim Open Air ausschließlich lokale Dienstleister. Bühnentechniker:innen, Sicherheitsfirma, Catering – alles aus der Region. „Ich wünsche mir, dass wir das auch nach außen tragen können. Dass die Menschen hier sehen, dass das Open Air nicht nur für uns, sondern auch für die Region wichtig ist“, so Münzberg.  „Wir wollen den Menschen aber auch nicht erzählen, wie sie leben und was sie machen sollen“, fügt Himmelspach an. Es gehe nicht darum zu belehren oder den Zeigefinger zu heben. Stattdessen soll das Open Air Perspektiven sichtbar machen, aber auch Freude und Selbstbewusstsein transportieren. Darum stehen bewusst Künstler:innen mit Wurzeln in Meck-Vorp auf dem Lineup. „Das sind alles coole Leute, die Bock haben, etwas anzugehen“, lobt Himmelspach. „Wir wollen uns mit ihnen vernetzen, statt uns alleine abzufeiern.“  Paul Schmidt gehört zur Gruppe Attic109, die beim 100 Tage Sommer ebenfalls auf der Bühne stehen wird. Für ihn ist das Open Air ein Heimspiel, Demmin sein Zuhause. „Das solche Veranstaltungen bei uns vor der Tür stattfinden, ist nicht alltäglich“, sagt er und freut sich auf einen unterhaltsamen Abend vor und auf der Bühne. „Künstler:innen unterstützen sich hier in MV gegenseitig“, weiß Münzberg. Es sei etwas besonderes, sich ohne missgünstiges Konkurrenzdenken über den Erfolg anderer freuen zu können, die aus der gleichen Region stammen. In MV kämen Musikschaffende deshalb schnell miteinander ins Gespräch. „Aus diesen Kontakten entstanden Beziehungen und sogar Freundschaften, so wie zu Attic109“, erzählt Himmelspach. Auch Konrad Wandsleb aus Rostock und Ludwig Weidemann aus Greifswald stehen beim Open Air auf der Bühne. Als Gruppe KiDZ werden sie ihr erstes Konzert überhaupt spielen. Dabei teilen sie sich die Bühne mit Nanti und Zugezogen Maskulin. Die Aftershowparty liefert DJ Holly North, der sich besonders auf das bespielen der Provinz freut. „Der beste Widerstand gegen Einöde im Kopf ist und bleibt Kultur“, sagt er. Große Show auf der Waldbühne Mehr als 20 Plakate hängen inzwischen in Demmin. Zeit für Pizza im Dönerpalast. Letzte Kunden. Essen auf den Vorstufen, denn der Imbiss schließt bereits. Von hier ist es nicht weit zur Waldbühne. Einmal über den ZOB, der eigentlich keiner ist, vorbei am Bahnhofsgebäude, in das man sowieso nie rein muss, über die Gleise und in ein Waldstück.  Zu DDR-Zeiten war die Waldbühne ein großer Veranstaltungsort mit multifunktionaler Einrichtung. Damals eine Vorzeigebühne, heute in die Jahre gekommen. Dennoch gibt der Ort viel her, schwärmen Münzberg und Himmelspach. Früher gab es regelmäßige Tanzveranstaltungen, Roland Kaiser und Nena haben hier gespielt, erzählen sie. Doch für Jugendliche sei auf der Bühne auch in den Jahren vor der Pandemie kaum etwas passiert.  Die beiden Rapper wollen das ändern. „Wir brauchen kein durchgestyltes Ding oder moderne Technik. Wir nutzen was da ist“, blicken sie erwartungsfroh voraus. Sie sind nicht allein. Von der Stadt Demmin gab es eine Förderung über 1.000 Euro. Weitere 5.000 Euro kamen aus einem Kulturförderprogramm des Landes. Die Fördersummen allein reichen jedoch nicht, um die Kosten zu decken. Trotzdem bieten Münzberg und Himmelspach auch kostenlose Solitickets für das Open Air an. Jeder und jede soll kommen können, denn unter dem darbenden Kulturprogramm in der Provinz leiden alle. 100 Tage Sommer will nicht nur  eine Konzertveranstaltung sein. Es geht auch um einen Ausblick auf Möglichkeiten, um das selbstbewusste Darstellen der eigenen Fähigkeiten. MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!