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Filmfest im Rostocker Stadthafen

„2083“ – Liebe zwischen Konsumwahn und Entfremdung des Selbst

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Lesedauer: ca. 6 Minuten

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Dystopien das sind meist in der Zukunft spielende Erzählungen, in denen eine erschreckende oder nicht wünschenswerte Gesellschaftsordnung dargestellt wird. Dazu zählen viele Klassiker, die den meisten bekannt sein dürften: Seien es Schöne neue Welt (Aldous Huxley, 1932), 1984 (George Orwell, 1949) oder Fahrenheit 451 (Ray Bradbury, 1953). Später kamen auch feministische Auslegungen dieses Genres dazu, zum Beispiel Margret Atwoods Der Report der Magd aus dem Jahr 1985 oder die jüngsten Geschichten, die explizit die Zielgruppe Jugendliche ansprechen, wie Maze Runner (James Dashner, 2009) oder Die Tribute von Panem“ (Suzanne Collins, 2011).

Sie alle entstanden zwar in völlig unterschiedlichen sozialen und kulturellen Kontexten, doch einige grundlegende Themen und Ängste finden sich in allen: Die vollständige Ersetzbarkeit des Individuums, der Verlust von Lebenssinn, die Hypertechnologisierung und – in manchen Fällen – auch die maximale Kapitalisierung jeglicher Lebensbeziehungen.

Der Film 2083 von Luis Babst bildet da keine Ausnahme. Neben seiner Tätigkeit als Regisseur und Autor macht der 22-Jährige Musik und studiert Film in Berlin und Prag. Vor 2083 hat er bereits zwei Kurzfilme veröffentlicht, Caught On Tape und Caro. Beide erhielten verschiedene Preise und Auszeichnungen. Caught On Tape belegte beim REC-Filmfestival Berlin 2020 sogar den ersten Platz. Seinen neuesten Film 2083 kann man durchaus als Hommage an all die zuvor genannten Dystopien verstehen. Schon im Titel trägt er eine Referenz an Orwells berühmtes Werk.

Dystopie mit doppeltem Boden

Aber: Babst hat einen Twist eingebaut. 2083 ist ein retrofuturistisches Werk, das heißt, es zeigt „eine Zukunft der Vergangenheit“. Hier wurde eine Dystopie schaffen, wie man sie sich in der Vergangenheit vorgestellt haben könnte. Betrachtet man das Set-Design, so scheint es, als verfilme Babst hier eine Zukunft, wie man sie sich vielleicht in den Achtzigerjahren vorgestellt hat.

Umso erschreckender ist es, dass diese dystopische Vision nur knapp 40 Jahre später schon fast eingetreten zu sein scheint: So unähnlich ist die Gesellschaft von 2083 unserer heutigen Realität nicht.

Babsts Kurzfilm transportiert das Publikum in eine dystopische Zukunft; eine Welt, in der sprechende Kühlschränke für Produkte wie Tomaten mit Schokoladenaroma werben („mindestens 40 Prozent Tomatenanteil“). Eine Welt, in der Dating nur über ein Programm namens „Teledate“ läuft, sodass man für jede Sekunde Videochat Geld bezahlen muss. Sogar die Seelsorge findet nur per Telefon statt. Dort bekommt man dann von einer künstlich klingenden Stimme erzählt, wie schön doch das Wetter ist.

Kurzum: Alles wird kapitalisiert. Die gesamte Welt, die Babst in 2083 kreiert, wirkt blutleer. Ganz so, als habe der ständige Konsumdruck die Menschen komplett ausgelaugt und ihnen jeglichen Lebenswillen entzogen. Wir sehen beige-graue, farblose Gebäude und blasse Gesichter, die nur so etwas wie Leidenschaft ausstrahlen, wenn sie über den neuesten „Holofertilisator 3000“ berichten.

Nicht einmal die strammsten Neoliberalen können das ernsthaft wollen. Oder?

Denn wenn man es recht bedenkt, lassen sich doch einige Parallelen zu unserer modernen Welt finden. Es gibt Dating-Apps wie Parship und Elitepartner, doch auch noch stärker kommerzialisierte Seiten wie Onlyfans. Wir werden täglich stundenlang mit Werbung bombardiert und sogar Therapie-Apps fürs Handy werden mittlerweile entwickelt, um Menschen mit psychischen Störungen zu helfen. Da kann man dann einer künstlichen Intelligenz von seinen Problemen erzählen. Inwiefern diese einen echten, ausgebildeten Menschen ersetzen können, ist fraglich. Vielleicht ist unsere Welt den klassischen Dystopien also doch viel näher, als man meinen würde.

Und genau deshalb brauchen wir dystopische Werke: Sie zeigen uns Trends, die es in der Gegenwart gibt, und überspitzen diese, sodass wir uns der Gefahren der aktuellen Gesellschaft bewusst werden können.

Im Grunde sind Dystopien also Warnungen, die ungesunde Entwicklungen greifbar machen. Die Entwicklung, oder eher das Problem, auf das Babst mit 2083 aufmerksam machen will, ist eindeutig der Kapitalismus. Doch auch wenn einige Intellektuelle den Kapitalismus schon heute in seiner Spätphase sehen, so haben wir momentan noch etwas, das es in 2083 nicht mehr gibt: echte, aufrichtige zwischenmenschliche Beziehungen.

Menschlichkeit in Zeiten der Hyperkommerzialisierung

In Babsts Werk begleiten wir zwei junge Menschen, Mia und Bob. Sie beide sind unzufrieden mit ihrer Situation, scheinen zu spüren, dass etwas fehlt. Beide versuchen auf ihre Art, dieses fehlende Teil zu finden. Mia nutzt das bereits erwähnte Teledate, Bob ruft bei einer Telefonhotline an.

Diese beiden Figuren verkörpern den menschlichen Widerstand, sie rebellieren auf ihre Art. Ihrer feindseligen Umwelt zum Trotz hören sie nicht auf, daran zu glauben, dass es irgendwo noch mehr geben muss. Im Kern dieses futuristischen Dramas steht also eine Liebesgeschichte.

Ohne zu viel vorwegzunehmen, sei doch gesagt, dass Babst einige herausragende Aussagen zum Zusammenspiel zweier Menschen gelingen. Was passiert, wenn man aufeinandertrifft? Wie harmonieren die einzelnen Charakterzüge beider Individuen miteinander, wo stößt man auf Konflikte? Und erschafft man allein durch das Zusammensein schon ein Kunstwerk? Der 22-Jährige wirft diese Fragen äußerst geschickt visuell auf.

Im wunderbaren Film Before Sunrise fasst Celine, verkörpert von Julie Delpy, einige Ideen zu diesem Thema mit folgendem Zitat schön zusammen:

„Ich glaube, falls es einen Gott gibt, würde er in niemandem von uns sein. Nicht in dir, nicht in mir, sondern in diesem kleinen Platz dazwischen. Falls es irgendeine Magie auf dieser Welt gibt, dann muss sie in dem Versuch liegen, andere Menschen verstehen zu wollen. Ich weiß, es ist nahezu unmöglich, dies zu schaffen, aber wen kümmert das? Die Antwort muss im Versuch liegen.“

Um genau diesen Versuch geht es auch Luis Babst. Gegen alle Umstände muss man einfach versuchen, diese Verbindungen zu finden, ohne aufzugeben.

Der Regisseur hat mit 2083 einen beeindruckenden Film geschaffen, der nicht nur aufgrund des ästhetischen Set-Designs im Kopf bleibt. (Besonders die letzte Einstellung könnte glatt aus einem Wes-Anderson-Film stammen). In gerade einmal zwölf Minuten zeigt Babst eine stille Rebellion gegen die herrschenden Verhältnisse. Doch hier geht es nicht nur um Taten, die dem System trotzen, sondern auch um Kunst und Ästhetik. Der 23-Jährige erzählt seine Geschichte ruhig und konsequent, es ist keine überflüssige Szene dabei und alles fügt sich konsistent zusammen. Auch die Welt, in der sich die Protagonist:innen befinden, wird hier elegant etabliert und kommt ohne aufdringliche Erklär-Monologe aus.

Zu kritisieren sind einzig die beiden Hauptcharaktere: Es erscheint doch sehr fragwürdig, wie zwei Menschen, die in einer dermaßen oberflächlichen, konsumorientierten Gesellschaft aufgewachsen sind, so gänzlich unberührt und unverfälscht bleiben können. Andererseits muss auch das Format Kurzfilm respektiert werden, und da bleibt einfach keine Zeit für einen langwierigen Prozess der Erkenntnisgewinnung. Von daher ist dieser Punkt ein absolut verzeihbarer Makel.

Somit kann man 2083 nicht nur Fans von Science-Fiction-Filmen und düsteren Zukunftsszenarien ans Herz legen: Auch Zuschauer:innen, die gern ein wenig Romantik auf der großen Leinwand sehen, können diesen Film bedenkenlos genießen!

Diese Rezension entstand im Rahmen der unabhängigen filmab!-Redaktion zum FiSH-Filmfest im Stadthafen Rostock vom 28. April bis 1. Mai 2022 in Kooperation mit KATAPULT MV. Hier stellen sich die jungen Redakteur:innen vor: Das ist die filmab!-Redaktion 2022

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Fußnoten

  1. Simmank, Jakob; Kühl, Eike: Mach doch 'ne Handy-Therapie, auf: zeit.de (11.9.2017).

Autor:innen

war Teil der filmab!-Redaktion im Rahmen des FISH-Filmfest im Rostocker Stadthafen vom 28. April bis 1. Mai 2022.

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