Der heutige Angriff auf die Ukraine kam nicht ohne Vorbereitung. Bereits am 18. März 2014 beschloss der Kreml die Annexion der Krim und überrumpelte damit den Westen. International anerkannt wurde diese Anschließung bis heute nicht. Während die Welt und der Rest von Deutschland damals über Sanktionen beratschlagte, hatte die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern eine ganz besondere Idee: Man wollte just in diesen Zeiten einen Russlandtag in Rostock veranstalten, bei dem Wirtschaftsvertreter:innen und Politiker:innen aus Deutschland und Russland zusammenkommen und netzwerken. „Die Veranstaltung liegt im wirtschaftlichen Interesse unseres Landes“, verteidigte der damalige Ministerpräsident Erwin Sellering (SPD) den Beschluss. Zu Gast waren im Oktober 2014 unter anderem der russische Botschafter in Deutschland, Wladimir Grinin, sowie Altbundeskanzler Gerhard Schröder. Zu den Sponsoren dieses Events zählten schon damals das russische Erdgasunternehmen Gazprom und die Nord Stream AG. Rückkehr zu einem „vernünftigen Verhältnis“ zu Russland Im September 2014 wurde bei Verhandlungen in Minsk durch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ein Waffenstillstand zwischen Ukraine und Russland vereinbart („Minsk I“), jedoch nur kurz darauf wieder gebrochen. Die Stadt Delbalzewe in der Ostukraine wurde von den selbsternannten „Volksrepubliken“ erobert. Unterstützung kam von Russland. Fünf Monate später konnte ein zweites Abkommen („Minsk II“) unterschrieben werden, eingefädelt von Deutschland und Frankreich. Gehalten wurde sich wieder nicht dran, Beobachter der OSZE zählten bis heute Tausende Verstöße gegen die Waffenruhe. Die Sanktionen gegen Russland wurden daraufhin verschärft, doch die Landesregierung von MV war weiterhin um Schlichtung bemüht. Man wollte das Verhältnis zu Russland nicht verschlechtern, sei man doch wirtschaftlich eng miteinander verbunden. Sellering nannte damals vor allem die Werften als entscheidenden Faktor, warum man an der Beziehung festhalte: Drei der großen Werften in MV gehörten damals zu Nordic Yards unter Leitung des russischen Investors Vitali Jusufov. Es sei „ein guter Kontakt, aber das ist im Moment bei den Verhältnissen zwischen Russland und Deutschland sehr problematisch“, hieß es von Sellering. Aber er zeigte sich optimistisch, dass sich die erhitzten Gemüter rund um Menschenrechtsdebatten wieder abkühlen werden und somit bald zur Normalität zurückgekehrt werden könne. Wörtlich sagte er: „Und deshalb ist es für mich wichtig, dass wir in baldiger Zeit zurückkehren zu einem vernünftigen Verhältnis zu Russland.“ Russlandtag zur Hälfte von Gazprom und Nord Stream finanziert Zwei Jahre nach der Krim-Annexion wurde es medial ruhig um die Region. Von einer Krise war kaum mehr zu lesen. Und das obwohl in den umkämpften Regionen im Osten der Ukraine nach wie vor Krieg herrschte. Zudem erließ Russland in dieser Zeit vermehrt Gesetze, die kontinuierlich die Medien- und Pressefreiheit beschnitten. Für das nordöstlichste Bundesland schienen die Wogen wieder geglättet zu sein, man lud ungeachtet der Geschehnisse wieder zum Russlandtag ein. Bei dieser zweiten Konferenz im Mai 2016 waren drei der vier größten Sponsoren Gazprom, (das damals noch) Konsortium Nord Stream 2 und die Erdgastransportfirma Gascade, die ebenfalls einer Gazprom-Holding gehört. Alle drei hatten großes Interesse daran, dass die bereits bestehende Pipeline Nord Stream 1 ausgebaut wird. Auf die Frage, ob es in dieser Situation vertretbar sei, eine vom Land organisierte Veranstaltung von russischen Erdgaslieferanten sponsern zu lassen, antwortete der damalige Regierungssprecher Andreas Timm: „Wir sehen da kein Problem. Die Landesregierung hält den geplanten Ausbau der Ostsee-Pipeline für richtig.“ Diese Einschätzung deckte sich mit den Interessen der großzügigen Sponsoren. 2018 sollte der Bau der zweiten Pipeline „Nord Stream 2“ beginnen. Gute Freunde bleiben gern gesehene Gäste Im Mai 2018 eröffnete Wladimir Putin die Krim-Brücke, die erste direkte Landverbindung der besetzten Halbinsel zum russischen Festland. Die Europäische Union verurteilte dieses Vorgehen scharf. Russland verletzte damit erneut die territoriale Integrität der Ukraine. Am selben Tag beschloss ein Gericht die Verhaftung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny. Kein Grund für Mecklenburg-Vorpommern, in Unruhe oder gar Kritik an Russland zu verfallen. Stattdessen konzentrierte man sich wieder auf die Wirtschaft und plante den dritten Russlandtag in Rostock. Die neue Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) eröffnete diesen im Oktober 2018 mit den Worten: „Als ostdeutsches Bundesland verbindet Mecklenburg-Vorpommern mit Russland eine ganz besondere Beziehung.“ Der Russlandtag sei eines der größten und bedeutendsten Wirtschaftstreffen in Ostdeutschland, führte sie weiter aus. Mecklenburg-Vorpommern und Russland verbinde so viel, „aus der gemeinsamen Geschichte, aus persönlichen Freundschaften heraus“. Auf dieser wohlwollenden Basis konnte im Vorfeld des Russlandtages auch die Baugenehmigung für Nord Stream 2 erfolgen. Sie sollte unmittelbar neben der 2011 in Betrieb genommenen Pipeline Nord Stream 1 verlaufen, um fast noch einmal so viel Gas auf direktem Weg nach Deutschland zu transportieren. Auch für das Verlegen der Rohre wurden zunächst zwei russische Schiffe beauftragt. Mit dem ganzen Projekt griff das Land Mecklenburg-Vorpommern indirekt in die gesamte deutsche Außenpolitik ein. Bis heute spielt diese Entscheidung eine bedeutende Rolle für die weltpolitische Lage. MV gründete Stiftung mit russischer Beteiligung Die Spannungen zwischen Russland und dem Westen spitzten sich Mitte 2020 erneut zu. Der Giftanschlag auf Nawalny im August veranlasste die EU und Länder wie Großbritannien, Kanada und Australien zu vermehrten Sanktionen gegen Russland, vor allem gegen die in den Anschlag involvierten Politiker:innen. In Mecklenburg-Vorpommern hatte man indes eine neue Idee. Im Januar 2021 wurde die mittlerweile stark umstrittene Stiftung „Klima- und Umweltschutz MV“ gegründet. Diese soll es – mit russischer Beteiligung durch Gazprom-Tochter Nord Stream 2 – ermöglichen, was der deutsche Gesetzgeber bis dahin erschwerte: Die Fertigstellung der zweiten Pipeline Nord Stream 2 zu vollenden. Kurz nachdem weitere Sanktionen formuliert werden, reicht es den Russen dann: Außenminister Sergej Lawrow äußert in einem Interview, dass Russland im Falle weiterer Sanktionen die Beziehungen zur Europäischen Union ganz abbrechen werde. Russland werde sich dementsprechend vorbereiten. „Wenn du Frieden willst – dann bereite dich auf den Krieg vor“, so Lawrow vor einem Jahr. Und genau diesen sich auf Krieg vorbereitenden Gast lud MVs Landesregierung im Juni, nur wenige Woche nach Lawrows Aussage, erneut nach Rostock ein. Coronabedingt fand der vierte Russlandtag ein Jahr später als geplant statt, eigentlich wäre man schon 2020 gerne erneut Gastgeber gewesen. Die Zusammenfassung des Events kann auf der dafür ins Leben gerufenen Website russlandtag-mv.de angeschaut werden. In dem Imagefilm erklärt Ministerpräsidentin Schwesig freudestrahlend die Gründe der guten Partnerschaft: „Es gibt viele Wirtschaftsbeziehungen, wir liegen zusammen am Ostseeraum. (...) Es gibt eine sehr sichere Energieversorgung über die Ostseepipeline.“ Bei diesem vierten Kongress wollte man sich aber vor allem auf die gemeinsame Zukunft fokussieren. Auf besagter Website liest man bis heute, dass sich alle Beteiligten bereits jetzt auf ein Wiedersehen zum fünften Unternehmertag, wie er offiziell betitelt wird, im Jahr 2023 freuen. Dieses Mal ernteten die Veranstalter jedoch wieder mehr Kritik, vor allem weil Außenhandelsstatistiken längst belegen, dass Russland nicht zu den wichtigsten Wirtschaftspartnern des Bundeslandes zählt. Russlandtag, Klimastiftung und Pipeline auf Eis gelegt Acht Jahre und unzählige Rechtsbrüche später passiert es nun doch: Die Ereignisse in der Ostukraine seit dem 21. Februar zwingen MVs Spitzenpolitiker:innen, sich von Russland schrittweise zu distanzieren. Während Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verkündete, dass die Gaspipeline Nord Stream 2 auf Eis gelegt wird, will man es in MV nicht so richtig wahrhaben. Die ersten Reaktionen kommen mit ein paar Stunden Verzögerung: Die stellvertretende Ministerpräsidentin Simone Oldenburg (Linke) forderte die Klima- und Umweltstiftung MV auf, alle Geschäfte niederzulegen. Manuela Schwesig zwitscherte aus dem Krankenhaus, dass die Landesregierung die Entscheidung der Bundesregierung, Nord Stream 2 auszusetzen, unterstütze. Doch konsequente Distanzierung sieht anders aus. Patrick Dahlemann (SPD), Chef der Staatskanzlei, verkündete am Dienstag zwar, dass der nächste Russlandtag vorerst nicht stattfinden solle. Jedoch relativierte er Mittwoch auf Twitter: „Nächstmöglicher Russlandtag könnte frühestens 2023 stattfinden. Man kann heute noch nicht sagen, wie die Lage sein wird.“ Ihn für immer Geschichte sein zu lassen, steht also nicht auf der Agenda. Eher denkt man an eine Verschiebung, bis sich alles wieder ein bisschen beruhigt hat. Selbst am heutigen Donnerstag, dem Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine, hofft er noch auf Diplomatie: „Ich bin entsetzt und auch fassungslos. Das Unvorstellbare ist eingetroffen. Krieg in Europa. Lasst uns gemeinsam hoffen, dass das heute ein Tag der Diplomatie wird und Waffenhandlungen sofort eingestellt werden.“ Hoffnung auf Diplomatie Abseits der Landespolitik wirkt es auch auf kommunaler Ebene so, als wolle man Russland die Treue halten. Auf die Entscheidung der Bundesregierung, Nord Stream 2 zu stoppen, reagiert man gelassen. „Insofern sehe ich die jetzt getroffene politische Entscheidung zurzeit lediglich als einen weiter verzögernden Zeitfaktor unbekannter Dauer“, gibt sich Axel Vogt (vormals CDU, nun parteilos), der Bürgermeister von Lubmin, optimistisch. Er gehe außerdem „nach wie vor von einer diplomatischen Lösung des Ukraine-Konfliktes aus“. Solange eine Lösung des von Russland ausgehenden Konflikts nicht in Aussicht ist, muss sich die Landesregierung ein paar Gedanken machen. Wie der Umgang mit dem großen Wirtschaftspartner und -freund künftig aussehen soll, wird kommende Woche auf einer Sondersitzung des Landtags beraten. Die Opposition hat diese einberufen und fordert die Regierungsparteien auf, endlich vollständige Transparenz zu zeigen. Von der Landesregierung kam bis jetzt noch keine Reaktion auf die Angriffe Russlands auf ukrainische Städte, Patrick Dahlemanns Äußerung ausgenommen. Was es aber aktuell gibt, ist eine Stellungnahme des Flüchtlingsrates MV: „2014 kamen rund 800 Asylsuchende aus der Ukraine nach MV. 2015 waren es rund 1.500. Derzeit sind gut 700 Ukrainer*innen ausreisepflichtig.“ Der Rat ergänzt ein besonders prekäres Detail: „Das Land Mecklenburg-Vorpommern führt aktuell noch Abschiebungen in die Ukraine durch.“ Inzwischen hat das Land einen Abschiebestopp verhängt. Mehr dazu hier: MV beschließt Abschiebestopp in die Ukraine – Landesregierung beruft Krisenstab ein Korrekturhinweis: In der ursprünglichen Version des Textes hieß es, dass der russische Journalist und Autor Arkadij Babtschenko tot in seiner Wohnung gefunden wurde. Da es sich laut Medienberichten jedoch um einen fingierten Tod handelte, Babtschenko also lebt, haben wir die entsprechende Stelle gelöscht. MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!