Dieter Zurwehme wurde 1942 als Sohn einer deutschen Frau und eines polnischen Zwangsarbeiters in Bochum geboren. Er wuchs bei Adoptiveltern in Nordrhein-Westfalen auf und kannte seine leibliche Familie nicht. Schon in seiner frühen Jugend zeigte er aggressives Verhalten – meist gegen Mädchen und Frauen gerichtet.
Im Alter von 13 versuchte Zurwehme, bewaffnet mit einem Stein, ein 15-jähriges Mädchen in einem Wald zu überfallen. Passanten störten den Übergriff. Zurwehme kam ohne Konsequenzen davon, weil er noch nicht strafmündig war. Noch im selben Jahr schlug er eine 20-Jährige mit einem Holzstock zusammen, bis sie sich nicht mehr wehren konnte. Er stahl ihr Fahrrad und war anschließend das erste Mal auf der Flucht. Das für ihn zuständige Jugendamt entschied damals, dass Zurwehme fortan in einem Erziehungsheim leben müsse – aus dem er ebenfalls regelmäßig ausriss.
1959 versuchte der damals 17-jährige Zurwehme erstmals, eine Frau zu vergewaltigen. Im selben Jahr wurde er wegen Diebstahls und schweren Raubes zu seiner ersten Jugendstrafe verurteilt. Als er die Strafe mit 26 verbüßt hatte, lagen hinter Zurwehme bereits neun Jahre Gefängnis. Trotzdem beging er in Freiheit immer wieder kleinere Straftaten – bis zum 16. November 1972.
Der damals 30-Jährige überfällt an diesem Tag eine 51-jährige Mitarbeiterin eines Immobilienmaklers. Zuwehme bedroht die Frau mit einem Messer, fordert Geld und sticht mindestens fünfmal auf sie ein, als sie um Hilfe schreit. Die Frau stirbt. Zurwehme ist bis Ende Januar 1973 auf der Flucht und vergewaltigt in dieser Zeit ein 15-jähriges Mädchen in der Nähe von Aachen. Dann wird er gestellt und vom Aachener Landgericht wegen Mordes und weiteren Sexual- und Raubstraftaten zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Fatale Fehleinschätzung
Zurwehme war zunächst im geschlossenen Vollzug in Rheinbach untergebracht und wurde später in die JVA Geldern, ebenfalls in Nordrhein-Westfalen, verlegt. Geschlossener Vollzug bedeutet: hohe Mauern, dicke Türen, Kontrolle und Überwachung der Insassen außerhalb ihrer Zellen. Ziel dieses Vollzuges ist es, den Inhaftierten eine Flucht unmöglich zu machen. Diese Form des Maßregelvollzugs wird besonders dann gewählt, wenn ein großes Flucht- oder Gefährdungspotenzial von den Inhaftierten ausgeht.
In dieser Zeit lernte Dieter Zurwehme verschiedene Sprachen, schrieb Briefe und galt als umgänglich. Ein Psychiatrieprofessor schrieb in einem Gutachten Ende der Achtzigerjahre, dass Zurwehmes Haft bedenklos gelockert werden könnte und Freigänge oder Hafturlaube kein Fluchtrisiko darstellen würden.
Basierend auf dem Gutachten und guter Führung wurde Dieter Zurwehme 1995 schließlich in den offenen Vollzug der JVA Bielefeld-Senne verlegt. Hier sollte er auf ein späteres Leben in Freiheit vorbereitet werden – etwa durch eine geregelte Arbeit.
Zurwehmes Gefühlswelt und Entwicklung wurden dennoch regelmäßig von Experten begutachtet. In einem Gespräch 1996 hielt ein Gefängnispsychologe folgende Aussage des Verurteilten fest: „Wenn ich in die Enge getrieben werde und keinen Ausweg mehr sehe, vergewaltige ich wieder eine Frau.“ In einer Vollzugskonferenz wurde deshalb entschieden, dass Zurwehme vorerst keine weiteren Lockerungen, wie beispielsweise Freigänge, zugesprochen werden sollten.
Kurz darauf meldete sich ein Psychologe des Justizvollzugsamtes Hamm zu Wort, rügte den Bielefelder Psychologen für seine Einschätzung zu Zurwehme und forderte weitere Lockerungen für den Mörder, der – nach eigenen Aussagen – unter gewissen Umständen erneut dazu bereit wäre, eine Frau zu vergewaltigen.
Zurwehme wurden Freigänge zugesprochen. Insgesamt 116 dieser Freigänge verliefen ohne Probleme. Der verurteilte Mörder kehrte jedes Mal pünktlich in seine JVA zurück. Spätere Ermittlungen belegen, dass Zurwehme sich während dieser Zeit mit einer Gaspistole, Fesseln, Messer und einem Elektroschocker ausstattete.
Am 2. Dezember 1998 kehrte er von seinem 117. Freigang nicht zurück und war seitdem auf der Flucht. In den darauffolgenden 260 Tagen gingen deutschlandweit mehr als 1.800 Hinweise auf den Aufenthaltsort Zurwehmes ein.
Das Morden geht weiter
Im März 1999, als Zurwehme bereits knapp vier Monate auf der Flucht ist, wird er von einem 71 Jahre alten Hausbesitzer in Remagen (Rheinland-Pfalz) zufällig überrascht, als dieser routinemäßig sein leerstehendes Haus kontrollieren will. Zurwehme ersticht den Mann mit einem Messer und nimmt ihm sämtliche Wertsachen ab. Als das Telefon des Opfers klingelt, nimmt Zurwehme den Anruf an und spricht mit dessen 60-jähriger Frau. Indem er behauptet, dass etwas „Schlimmes“ passiert sei und er es der Frau „persönlich erklären“ müsse, gelangt Zurwehme an ihre Adresse. Mit dem Auto seines zweiten Mordopfers fährt Zurwehme zum Wohnort der Frau und verletzt sie lebensbedrohlich mit einem Messer. Als kurz danach der Bruder der Verletzten gemeinsam mit seiner Frau die Wohnung betritt, ersticht Zurwehme zwei weitere Menschen. Er erbeutet außerdem 8.000 Mark. Die verletzte Frau des ermordeten Hausbesitzers stirbt nach fünf Tagen in einem Krankenhaus. Mit dem Geld setzt Zurwehme seine Flucht fort, er reist dabei häufig mit Nachtzügen.
Ende Juli 1999 gelang es Zurwehme sogar, aus einem umstellten Maisfeld zu entkommen, nachdem er der Polizei schon über ein halbes Jahr erfolgreich entgehen konnte.
Polizei überfordert
In verschiedenen Teilen Deutschlands wurde intensiv nach dem mittlerweile vierfachen Mörder gefahndet. Ohne Erfolg. Die Polizei nahm regelmäßig Personen fest, die sie für den geflohenen Zurwehme hielt. In einem besonders tragischen Fall erschossen zwei Zivilpolizisten im thüringischen Heldrungen sogar einen Urlauber aus Köln. Dieser glaubte, in seinem Hotelzimmer überfallen zu werden, und verbarrikadierte sich. Die Polizisten, die zu dem Zeitpunkt kein Foto zur Identifizierung Zurwehmes bei sich trugen, glaubten in dem Verhalten des Urlaubers den flüchtigen Mörder zu erkennen und erschossen ihn durch seine Zimmertür.
Zu einem späteren Zeitpunkt wurde ein Förster in Niedersachen von Zurwehme nach dem Weg nach Hannover gefragt. Die Polizei fand anschließend auf einem Hochsitz das Nachtlager Zurwehmes – aber wieder einmal ohne den flüchtigen Mörder.
Zugriff in MV
Im Juli 1999 scheiterte Zurwehme in Niedersachsen mehrfach beim Versuch, Frauen zu vergewaltigen. Schließlich überfiel er am 15. August 1999 einen Laubenbesitzer in Waren an der Müritz. Vier Tage später wurde Dieter Zurwehme von den Schutzpolizisten Herrmann Seeck und Horst Ebeling in der Gützkower Straße in Greifswald festgenommen. Kurz zuvor hatten Passanten den 1.836 Hinweis im Zusammenhang mit der Flucht Zurwehmes gegeben. Zu dem Zeitpunkt waren 10.000 Mark Belohung auf Hinweise ausgeschrieben, die zur Festnahme des fünffachen Mörders führen.
Die Beamten sprachen einen stark gebräunten und deutlich hagereren Mann an, als sie ihn von den Fahndungsfotos kannten: „Ich bin der, den Sie suchen“, antwortete Zurwehme, und ließ sich widerstandslos festnehmen. Im Gepäck des Flüchtigen fanden die Polizisten ein Messer und eine Gaspistole.
Zurwehme, der nach seiner Festnahme nach Pasewalk gebracht wurde, wurde anschließend per Hubschrauber nach Koblenz überführt. Im Juni 2000 wurde er erneut zu einer lebenslangen Haftstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Nach Angaben des ehemaligen Hauptkommissars Gerhard Starke, damals zuständig für die Morde in Remagen, erhielt Zurwehme während seiner Haft etwa 15 Heiratsanträge. Im Sommer 2001 heiratete er schließlich eine Kellnerin aus Berlin.
Dieter Zurwehme starb 2020 mit 78 Jahren in einem JVA-Krankenhaus.
Dieser Text erschien in KATAPULT-MV-Ausgabe 23. Er wurde am 19. August 2024 aktualisiert und korrigiert. In der ursprünglichen Version hieß es, dass Zurwehme noch in einem Bochumer Gefängnis lebe. Richtig ist, dass er bereits 2020 verstarb. Wir haben diesen Fehler korrigiert. Zudem waren die Städte Frankfurt am Main und Stadthagen auf der Karte nicht korrekt verortet. Auch hier haben wir angepasst.
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