Die „Superstar Libra“ liegt nicht mehr im Hafen von Wismar. Das ausrangierte Kreuzfahrtschiff von 1988 war dort als Wohnschiff für befristete Werftmitarbeitende gedacht. Mit rückläufigen Aufträgen im Zuge der Corona-Pandemie und schließlich der Insolvenz der MV-Werften wurde sie nicht mehr gebraucht. Die Überlegung, sie als Unterkunft für Geflüchtete zu nutzen, wurde schnell verworfen. Laut Christoph Wohlleben, Landkreissprecher von Nordwestmecklenburg, seien dafür die „technischen Hürden und Sicherheitsbedenken für eine große Anzahl Menschen als zu hoch beurteilt worden“. So sollte die „Libra“ endgültig verschrottet werden, in der Türkei. Jetzt aber hat der Eigentümer – die Star Cruises Germany GmbH, ein Tochterunternehmen von Genting – sie kurzfristig nach Griechenland verkauft. Mitte April wurde verschifft. Wofür die „Libra“ dort genau eingesetzt werden soll, sei nicht bekannt, heißt es vom Sprecher der Insolvenzverwaltung für Star Cruises, Andreas Jung. Infos über den neuen Eigentümer habe er auch nicht. Vorerst bleibe die „Libra“ aber erst einmal bestehen. Früher oder später wird das 34 Jahre alte Kreuzfahrtschiff aber verschrottet werden müssen. Nur wo? Die „Superstar Libra“ an ihrer letzten bekannten Position, im Hafen von Wismar (Foto: Martje Rust) Europaweit 34 Abwrackwerften Kreuzfahrt- und Containerschiffe bestehen zu bis zu 95 Prozent aus Stahl und vielen wiederverwertbaren Materialien. Bis in die 1970er-Jahre wurden Schiffe größtenteils in Europa und den USA verschrottet. Heute gibt es europaweit 34 Werften, die auf das Recycling von Fracht- und Passagierschiffen spezialisiert sind. Nach wie vor kritisieren Verbände und Nichtregierungsorganisationen jedoch, dass ausgesonderte Schiffe aus der EU über Mittelsmänner nach Südasien verschifft werden, um sie dort kostengünstiger zu verschrotten. Europa ist dabei eine der aufgelisteten Regionen, was das fragliche Abwracken angeht. Auch Deutschland kann sich nicht davon freisprechen, einige nach Südasien verschifft zu haben. Von Schiffen, Stränden und Menschen Etwa 90 Prozent der weltweiten Verschrottungstonnage werden derzeit in Indien, Pakistan und Bangladesch abgewrackt. Viele Einzelteile werden von dort aus weiterverkauft. Ein lukratives Geschäft. Aber auch für die Schiffseigner ist es einfacher: Deutlich geringere Lohn- und Sozialkosten, kaum kontrollierte, lasche Umweltauflagen und geringer Verwaltungsaufwand. Nach Angaben der Shipbreaking Platform wurden 2021 weltweit 763 hochseetüchtige Handelsschiffe und schwimmende Offshore-Einheiten an Verschrottungswerften verkauft. Davon landeten 583 große Tanker, Frachter, schwimmende Plattformen und Passagierschiffe an den Stränden der drei südasiatischen Staaten. Beim sogenannten „Beaching“ werden die Schiffe auf den Strand gefahren und dort von Arbeitern per Hand zerlegt. Etwa 120.000 Menschen bearbeiten in Indien, Bangladesch und Pakistan den dort ankommenden maritimen Schrott aus aller Welt. Seit 2009 wurden allein in den drei Ländern 429 Todesfälle unter den Arbeiter:innen an den Abwrackstränden offiziell registriert. Die Internationale Arbeitsorganisation bezeichnet die Arbeit auf Schiffsschrottplätzen als eine der gefährlichsten Arbeiten weltweit. Mangelnde Ausbildung, kaum vorhandene Sicherheitsausrüstungen und fehlende Kontrollen der Vorschriften im Umgang mit Gefahrstoffen und toxischen Substanzen führen zu lebensverkürzenden Berufserkrankungen. Neues Abkommen soll Besserung bringen, nur wann? Um die Arbeits- und Umweltbedingungen zu verbessern, soll das sogenannte Hongkong-Abkommen zum Schiffsrecycling helfen. Es sieht weltweit einheitliche Regelungen vor, unter anderem bei der vollständigen Auflistung von Gefahrstoffen und dem Ablauf des Recyclings sowie ein international gleichermaßen anerkanntes Zertifikat der jeweiligen Werft. Seeschiffe dürften demnach nur auf Werften verschrottet werden, die alle Umwelt- und Sicherheitsauflagen des Abkommens einhalten. Das Hongkong-Übereinkommen, das 2009 auf den Weg gebracht wurde, ist noch nicht in Kraft getreten. Dafür müssten etwa 15 Staaten mit mindestens 40 Prozent der Welthandelstonnage dem Übereinkommen beitreten. Die Kriterien werden nur erfüllt, wenn auch Länder wie Bangladesch und Pakistan das Abkommen unterzeichnen. Bangladesch hat nun für 2023 angekündigt, den Vertrag zu ratifizieren. Indien ist diesem Abkommen bereits 2019 beigetreten, im selben Jahr wie Deutschland. Seitdem haben sich laut der weltweiten Dachorganisation der Industriegewerkschaften „IndustriAll-Global Union“ auch dort die Schutzeinrichtungen und die Arbeitsbedingungen verbessert. „Die zuständige indische Gewerkschaft hat im nationalen Komitee für die Einhaltung des Hongkong-Abkommens einen Sitz, sodass sie die Umsetzung kontrollieren kann“, erklärt Walton Pantland, südafrikanischer Schiffbauexperte in der Genfer Zentrale von IndustriAll. Das sei schon mal ein Erfolg. Arbeiter vor einem Wrack 2016 in Bangladesch (Foto: Andreas Ragnarsson) Länder, die eine sicherere und nachhaltigere Verschrottung wollen, können mit der Unterzeichnung des Abkommens wachsenden Druck auf die „Verweigerer“ ausüben. Langfristig würden die so ihr Geschäftsmodell verlieren, ist sich Walton Pantland sicher. Da die meisten Schiffe zur Verschrottung aus Asien und Europa kommen, liege auch die Verantwortung für deren umweltgerechtes Recycling und sichere Arbeitsbedingungen genau dort. Für Deutschland etwa spiele dabei auch das Lieferkettengesetz eine wichtige Rolle: „Die Nachverfolgung der Verantwortlichkeiten ist einer der Wege, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten zu verbessern“, so Pantland. Aber noch sprechen die Zahlen für sich: Während laut Shipbreaking Platform 2021 insgesamt mehr als 500 Schiffe in Südasien verschrottet worden, waren es lediglich 37 in zertifizierten Werften der EU und 77 in der Türkei. Vermehrtes Abwracken in der Türkei Prozent der im letzten Jahr ausgesonderten Fracht- und Passagierschiffe wurden in türkische Abwrackwerften gebracht, zum Beispiel nach Aliağa. Die Stena Line etwa ließ die ehemalige Fähre „Sassnitz“ dort verschrotten, 2020 wurde die „MS Astor“ dorthin verschifft. Die Reederei „Pullmantur Cruises“ musste wegen der coronabedingten Krise der Kreuzfahrttouristik Konkurs anmelden und ihre gesamte Flotte verschrotten lassen. Ebenfalls in der Türkei. Auch wenn die Europäische Union acht Verschrottungsbetriebe in Aliağa offiziell zertifiziert hat, kommt es immer wieder zu Unfällen und Verstößen gegen Arbeitsgesetze. Im Februar traten nach zwei tödlichen Arbeitsunfällen 1.500 Arbeiter:innen der insgesamt 22 Verschrottungswerften in den Streik. Sie protestierten gegen Arbeitsdruck, unkontrolliert ausgedehnte Arbeitszeiten und fehlende Sicherheitsmaßnahmen. Eine Abwrackwerft für Deutschland? Laut dem Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie gibt es derzeit keine zugelassene Werft für das Recycling von Schiffen in Deutschland. Doch laut der IG Metall Küste bietet die Branche durchaus eine mögliche Perspektive für geeignete Werften. International müsse verhindert werden, dass „das Abwracken zu teils unmenschlichen Bedingungen an Stränden in Asien stattfindet“, so Leiter Daniel Friedrich. „Auch in Deutschland Schiffsrecycling unter guten Umwelt- und Arbeitsstandards anzubieten, ist ein willkommener Schritt in eine nachhaltige Wirtschaft, die gute Arbeit schafft“, sagt er. In einzelnen IG-Metall-Geschäftsstellen gebe es sogar schon Initiativen für „alternative Produktionen“. Nach der Zukunftsfähigkeit des Schiffsrecyclings in Deutschland gefragt, äußert sich Jochen Tholen, Experte für maritime Wirtschaft an der Universität Bremen, dagegen skeptisch: „Gelegentlich können kleinere Schiffe an deutschen Küsten wirtschaftlich verschrottet werden. In nennenswerten Größenordnungen wird es aber absehbar kein tragbares Geschäftsmodell werden.“ Für Tholen könnten auch europäische Länder Marktchancen haben, wenn sich die Schiffseigner auf eine freiwillige Vereinbarung globaler Normen bei der Abwrackung einließen. MVs Fischereifahrzeuge brauchen keine Abwrackwerft Chancen auf eine Abwrackwerft in Deutschland oder gar Mecklenburg-Vorpommern sieht auch Michael Schütt vom Landesverband der Kutter- und Küstenfischer nicht. Dafür gebe es zu wenig Schiffe. Fischereiboote aus MV müssten zum Beispiel gar nicht auf eine Werft, um abgewrackt zu werden. Die meisten der rund 600 noch existierenden Kutter im Land seien kleiner als zwölf Meter und eher aus Holz statt aus Stahl. Daher werden sie nach ihrer Stilllegung in der Mitte durchgesägt und in Abfallcontainern auf Wertstoffhöfe gebracht. Von den rund 20 entsorgten Booten im letzten Jahr fielen wegen ihrer Größe nur zwei unter die Vorschrift, auf einer Abwrackwerft entsorgt werden zu müssen. Das eine Schiff wurde jedoch vorher von einem Museum in Ueckermünde gekauft – als Ausstellungsstück für MVs Fischereitradition. Das andere wurde zu einer Recyclingwerft in Dänemark verschifft, erzählt Schütt. Das bestätigt auch das Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie – dabei sei es wichtig, in eine genehmigte Abwrackwerft zu exportieren. Ein Export von ausgesonderten Schiffen sei aber in den letzten zehn Jahren nur zweimal nötig gewesen. Für die Zulassung von Abwrackwerften sind übrigens die Umweltbehörden der jeweiligen Bundesländer zuständig. Kompetenz aus MV Zwar scheinen die Bedingungen für eine Abwrackwerft in MV (noch) nicht günstig genug zu sein, Kompetenz in maritimer Technologie ist aber vorhanden und kann genutzt werden: Als es um eine mögliche Verschrottung des Wismarer Wohnschiffs „Superstar Libra“ ging, war in Kapitänskreisen in Stralsund und Cuxhaven auch im Gespräch, es doch am besten auf der stillgelegten MV-Werft in Stralsund zu zerschneiden. Dort gebe es die nötige Technik und das Know-how. So hätte man auch die hohen Auflagen für einen Export umgehen können. Dass Ressourcen aus MV bereits zum Schiffsrecycling genutzt werden, zeigt eine neue Kooperation zwischen den zwei Rostocker Unternehmen Ingenieurtechnik und Maschinenbau (IMG) und dem Fraunhofer-Institut für Großstrukturen in der Produktionstechnik mit dem Technologieunternehmen Leviathan aus Cuxhaven: Gemeinsam wollen sie eine Schiffsrecyclingwerft in Deutschland ohne Umweltbelastungen entwickeln, sagte Leviathan-Geschäftsführer Simeon Hiertz bei der Unterzeichnung einer Absichtserklärung vor knapp einem halben Jahr. „Kaum ein Bereich hat Innovation derart nötig wie das Recycling von Schiffen. Diese wollen wir von den Stränden holen und in sauberen, industriellen Anlagen die strategischen Rohstoffe für eine CO2-neutrale Wirtschaft in Deutschland und Europa gewinnen.“ MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!