Um 23 Uhr am Freitag klingelt das Handy von Seyhmus Atay-Lichtermann. Der Vorsitzende des Migrantenrats Rostock kennt die Frau nicht, die am Telefon ist. Doch sofort macht er sich auf in den Neudierkower Weg, zur Gedenkstätte für Mehmet Turgut.
Vor genau 18 Jahren wurde dort der damals 25-Jährige vom Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) in einem Imbissstand mit drei Kopfschüssen ermordet. Am Freitag waren etwa 150 Menschen an dem Tatort zusammengekommen, um Mehmet Turguts zu gedenken und Blumen, Kerzen und Kränze niederzulegen. Unter ihnen waren auch Abgeordnete und die Präsidentin der Rostocker Bürgerschaft. Keine Anzeige aufgenommen Was Seyhmus Atay-Lichtermann vorfindet, als er um 23.30 Uhr an der Gedenkstätte eintrifft,  ist ein Bild der Zerstörung – aus Hass: Blumen seien auf den Boden geschmissen worden, Kränze umgeworfen und Kerzen zerbrochen. „Wen ich auf dem Boden gesehen habe, waren nicht Blumen und Kränze, sondern Mehmet Turgut“, sagt Atay-Lichtermann. „Sie haben versucht, Mehmet Turgut noch mal zu zerstören. Sie wollen, dass wir ihn vergessen, sie wollen nicht, dass wir seinen Namen rufen. Aber er gehört zu Rostock und zur Rostocker Geschichte.“ Laut Atay-Lichtermann hat der Allgemeine Studierendenausschuss der Universität Rostock aufgrund der Verwüstung der Gedenkstätte Anzeige bei der Polizei erstattet. Nach Angaben einer Polizeisprecherin sei keine Anzeige aufgenommen worden, da keine Straftat vorliege: Die Blumen, Kränze und Kerzen seien offenbar vom Wind umgeweht worden, nicht vorsätzlich von Menschen. „Es waren keine Spuren zu sehen, nichts war zertreten.“ Die Streife, die in der Nacht vor Ort war, habe die Blumen aufgehoben und wieder an dem Denkmal platziert. Am Abend des 25. Februar wehte der Wind in Rostock mit etwa drei Windstärken. Der Vorsitzende des Migrantenrats Rostock geht von mutwilliger Verwüstung des Denkmals aus, die Polizei von Wind. (Foto: Seyhmus Atay-Lichtermann) „Das ist nicht der Wind gewesen“, ist sich Atay-Lichtermann sicher. Unter anderem sei eine drei Kilogramm schwere Vase umgeweht worden. „Und es war überhaupt nicht windig.“ Auch auf dem Video, das Atay-Lichtermann in den Sozialen Netzwerken geteilt hat, sei kein Windhauch zu hören. Genau dieses Wegschauen tötet uns. Nichts hat sich geändert. Seyhmus Atay-Lichtermann, Vorsitzender des Migrantenrats Rostock Für Atay-Lichtermann zeigt die aus seiner Sicht absichtliche Verwüstung der Gedenkstätte, wie nötig die Umbenennung des Neudierkower Wegs in Mehmet-Turgut-Weg für die Erinnerungskultur und nachhaltige Aufarbeitung von Rassismus sei. Das sei nicht nur in ganz Deutschland versäumt worden – was der Mord an Walter Lübcke 2019 und der rassistische Anschlag in Hanau 2020 zeigten –, sondern auch in Rostock und insbesondere nach dem Mord an Mehmet Turgut: die jahrelange Leugnung rassistischer Tatmotive durch die Untersuchungsbehörden, die fehlende Aufklärung rassistischer Strukturen in Mecklenburg-Vorpommern und der Umgang der Rostocker Zivilgesellschaft mit dem rassistischen Mord illustrieren institutionellen Rassismus und eine desolate Aufarbeitung. Schwieriger Weg des Erinnerns Erst zehn Jahre nach Turguts Ermordung und drei Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU wurde die Gedenkstätte eingeweiht und es begannen die offiziellen jährlichen Gedenkveranstaltungen. Während Städte wie Hamburg und Kassel bereits 2014 Straßen und Plätze nach Opfern des NSU benannten, wurde der Vorschlag in Rostock durch den zuständigen Ortsbeirat Dierkow Ost/West 2012 abgelehnt. Bürgerschaftspräsidentin Regine Lück (Die Linke) bat im März 2021 den Ortsbeirat erneut, den Vorschlag zu besprechen. Die Bitte wurde vom Vorsitzenden Uwe Friesecke (CDU/UFR) mit Hinweis auf die Ablehnung 2012 zurückgewiesen. Beispiele aus anderen Städten haben gezeigt, dass eine Umbenennung einer Straße das Bewusstsein für dieses Ereignis in der Bevölkerung verstärkt und eine positive Erinnerungskultur schafft. Seyhmus Atay-Lichtermann in der Petition Nach einer Umbenennung der Straße würden laut Atay-Lichtermann die Menschen darüber reden, über den neuen Namen, den Menschen, die Tat. Doch damit die Bürgerschaft die Straßenumbenennung beschließen kann, muss der zuständige Ortsbeirat seine Zustimmung erteilen. Und das sei immer noch nicht der Fall. Doch Atay-Lichtermann möchte den Rückhalt der Ortsbeiräte, bevor er einen Antrag auf Straßenumbenennung in die Bürgerschaft einbringt. Denn der Antrag dürfe nicht scheitern, nicht schon wieder. Bereits 2012 versuchte der Migrantenrat zusammen mit der Familie von Mehmet Turgut, den Weg umbenennen zu lassen. Ohne Erfolg. Die Gründe seien scheinheilig: Mal, weil er sich illegal in Deutschland aufgehalten habe, mal, weil er kein Rostocker gewesen sei, mal, weil die Familie dagegen wäre. „Das ist ein Gerücht“, sagt Atay-Lichtermann zu Letzterem. „Ich kenne die Familie, ich kenne Mehmets Brüder Mustafa und Yunus.“ Druck auf Ortsbeiratsmitglieder befürchtet Seiner Ansicht nach fehle der politische Wille, den Straßennamen zu ändern. „Stattdessen soll die Einwohnerperspektive berücksichtigt werden“, sagt er. Für die Familie Turgut sei das ein Schlag ins Gesicht. „Es ist wichtig, die Betroffenenperspektive zu achten.“ Wir wollen 2012 nicht noch mal erleben, wir wollen nicht noch mal scheitern und der Familie erklären müssen, dass der Sohn, der kaltblütig ermordet wurde, in der Stadt nicht gewürdigt wird. Seyhmus Atay-Lichtermann Daher wünsche er sich einen Dialog mit den Stadtpolitiker:innen. Vor über einem halben Jahr hat der Migrantenratsvorsitzende Kontakt zu allen Fraktionen der Bürgerschaft aufgenommen. Keine Reaktion. Doch mittlerweile steht er in Kontakt mit Anne Mucha, der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der SPD in der Bürgerschaft. Sie möchte ein Gespräch organisieren zwischen dem Migrantenrat, Mitgliedern des Ortsbeirats und den Fraktionsvorständen. „Wir haben als Rot-Rot-Grün definitiv die Mehrheit im Ortsbeirat“, so Mucha. Doch in dem Gespräch sollen die tatsächlichen Hinderungsgründe für eine Zustimmung zur Straßenumbenennung benannt werden können. Sie befürchtet, dass Mitglieder mit Drohungen unter Druck gesetzt worden sein könnten. Antworten auf ihre Gesprächsanfragen blieben bis jetzt unbeantwortet. Mucha erwartet Antworten in der kommenden Woche. Petition sammelt Unterschriften „Ich habe nun Hoffnung“, sagt Atay-Lichtermann. Hoffnung auf ein Gespräch mit der Stadtpolitik und mindestens eine Begründung für die Ablehnung der Straßenumbenennung. Sind die Anwohner:innen dagegen, weil sie bürokratische Folgen fürchten? „Dann bezahlen wir die Pässe“, verspricht Atay-Lichtermann. „Oder ist der Name euch zu fremd, ist er nicht deutsch genug?“ Doch bis es so weit ist, hat Atay-Lichtermann eine Petition gestartet. Innerhalb der letzten vier Tage haben 433 Menschen unterschrieben. „Das reicht nicht, das müssen mehr sein“, appelliert Atay-Lichtermann. Haben genug unterschrieben, wird der Vorsitzende des Migrantenrats die Petition Bürgerschaftspräsidentin Lück und Oberbürgermeister Claus Ruhe Madsen (parteilos) überreichen. MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!