Es ist einer der schöneren Herbstsonntage auf Rügen. In Frankenthal bei Samtens bricht die Nachmittagssonne durch die Baumkronen. Eine Jurte ist in einem Garten aufgebaut. Schafe grasen in der Nähe. Schön ist es hier. Idyllisch. Und so soll es bleiben. Nebenan tagt die Bürgerinitiative Lebenswertes Rügen. Katja Grossmann begrüßt etwa 30 interessierte Insulaner im „LebensGut Frankenthal“. Um sie herum stehen Protestplakate. „Herzerwärmung statt Erderwärmung“ oder „Stoppt Großinvestitionen auf Rügen“ ist darauf zu lesen.
Das große Thema wird sofort klar. Es ist ein altbekanntes. Der Massentourismus begleitet Rügen seit Jahrzehnten. In der Hauptsaison sind Straßen und Betten voll. Niemand weiß genau, wie viele Urlauber auf der Insel tatsächlich unterwegs sind. Sicher ist nur: Es ist ein Vielfaches der einheimischen Bevölkerung. Der einst gemeinsam mit dem Tourismusverband Rügen festgelegte Schlüssel von 1,5 Gästebetten pro Einwohner wird vor allem in den Ostseebädern seit vielen Jahren weit überschritten.
Massentourismus überfordert Infrastruktur und Einwohner
Was an Betten zu viel, ist an Infrastruktur zu wenig vorhanden. Straßen und öffentlicher Nahverkehr sind dem saisonalen Zustrom nicht gewachsen. Die Einkommen auf der Insel sind gering, Arbeitsplätze begrenzt. Es fehle an nachhaltigen Perspektiven, die über den Tourismus hinausgehen. Ein Inselrat, so Thomas Kunstmann von der Bürgerinitiative, solle sich der Probleme annehmen. Eine Expertenrunde, erweitert mit Vertretern von Verbänden und Gemeinden, aber auch mit Mitspracherecht für Laien von der Insel, könne er sich vorstellen. Zusammenkommen, Synergien nutzen. Basisnah und transparent soll der Inselrat sein und zugleich am runden Tisch mit Ministerien und der Tourismusbranche sitzen. Die Idee des Rügenrats hat die Bürgerinitiative auch in ihrem Leitbild verankert. Nach dem Modell des Zukunftsrates MV soll der Rügenrat aus Persönlichkeiten und Vertreter:innen zivilgesellschaftlicher Gruppen der Insel bestehen und eine Zukunftsvision für Rügen erarbeiten, öffentlich diskutieren sowie Forderungen und Empfehlungen zu aktuellen Problemen an Kommunal- und Landespolitik formulieren.
Langfristig denken und breit aufgestellt handeln sei die Devise, denn kurzlebige Projekte und Großinvestitionen, die Geld von der Insel abziehen, sind auf Rügen zuhauf bekannt.
Eine Katze spaziert durch die Reihen des Publikums. Hier und dort eine Streicheleinheit. Fast alle Anwesenden gehören zur Generation der Über-60-Jährigen. Sie fragen sich, was getan werden muss, damit junge Familien auf der Insel ihren Lebensunterhalt verdienen können. Bleiben statt gehen, auch das gehört für die Anwesenden und Mitglieder der Bürgerinitiative zu einem lebenswerten Rügen.
Die Ortsgruppen von „Lebenswertes Rügen“ stellen sich und ihre Anliegen vor. Exemplarisch für die Insel stehe Mönchgut. Der Südosten Rügens gehöre schließlich zu den schönsten Regionen der Insel, aber auch zu den überfülltesten. Hier befinden sich die Ostseebäder, die seit den 90er-Jahren Spekulations- und Investitionsobjekte sind. Ferienwohnungen entstehen. Dörfer sterben. Gerade kleinere Orte wie Thiessow schrumpfen immer weiter in sich zusammen. Es ist die Endhaltestelle, nicht nur für den spärlichen Nahverkehr, sondern auch für ein nachhaltiges Sozialgefüge.
„Wir wollen Druck machen“
„Wir wollen Rügen vernetzen und uns kennenlernen“, erklärt Katja Grossmann, um dann schlagkräftig agieren zu können. Lebenswertes Rügen will ein Aufbäumen von unten sein. Aber auch Grossmann weiß um die Herausforderungen, mit denen sich die Bürgerinitiative konfrontiert sieht. Unklare Zuständigkeiten, Rechtslagen, Interessenkonflikte, Bürokratie. „Man zerrt so viel und schafft so wenig“, doch entmutigen lassen wollen sich weder Grossmann noch die anderen Anwesenden.
Stattdessen wollen sie Druck auf Gemeindevertreter und Gremien ausüben, denn gerade dort fehle oft der Wille zur Veränderung, meint Klaus Kleinmann, pensionierter Journalist. Wolfgang Kannengießer von der Wählervereinigung Bergener Bündnis stimmt zu, wenn er sagt: „Wir rennen Entscheidungen hinterher, die vor vielen Jahren getroffen wurden.“ Der folgende Applaus ist der längste an diesem Nachmittag. Es ist ein Ausdruck der Unzufriedenheit mit den Entscheidern und Entscheidungen auf der Insel. Für den 14. November ist das nächste Treffen der Bürgerinitiative angesetzt. Themenschwerpunkt wird das Baurecht sein, denn egal ob auf dem Bug bei Dranske oder am Südstrand von Göhren – nach wie vor entstehen neue touristische Großprojekte auf Rügen.