Im August 1992 war ich sieben Jahre alt und bekam das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen kaum mit. Das Einzige, was sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat, waren Flammen, die aus einem Haus loderten, und die entsetzten Gesichter meiner Eltern, die auf den Fernseher starrten. Rostock war überall Wir lebten damals als staatenlose vietnamesische Boatpeople in der Nähe von Aachen in einer Asylunterkunft. Lichtenhagen schien von der westdeutschen Provinz sehr weit entfernt. Jedoch war die Vorstellung, dass etwas Ähnliches vor unserer eigenen Haustür geschehen könnte, greifbar nah. Die Neunzigerjahre waren für uns Geflüchtete in Westdeutschland nicht einfach. Häufig hörten wir Männersprechchöre: „Deutschland den Deutschen – Ausländer raus!“ Und hin und wieder auch das dumpfe Prallen von Steinen gegen unsere Hauswand. Einmal fuhr ein Auto ganz nah an mich heran und die Menschen darin zeigten mir mit einem Lächeln den Hitlergruß. Oft mussten wir Hundeexkremente von der Hausfassade wegwischen. Wir waren halt die „Ausländer“ in der Straße. Mein Vater, Metallschlosser in einem nahegelegenen Braunkohlekraftwerk, brachte uns in dieser Zeit von der Arbeit Starkstromleitungen mit, die er in etwa 80 Zentimeter lange Stücke geschnitten hatte. Er brachte mir als Siebenjährigem bei, wie man sich damit gegen Menschen wehrte, sollte unser Haus gestürmt werden. Diese improvisierten Knüppel hatten wir in jedem Raum versteckt. Nur nicht nahe der Betten, damit man uns nicht im Schlaf mit den eigenen Waffen den Schädel hätte einschlagen können. Auch wenn Rostock-Lichtenhagen für mich als Siebenjährigen noch kaum ein Begriff war – die Verrohung des Menschlichen in den Neunzigern, die spürten auch wir. Rostock war überall. Tief gespaltene vietdeutsche Community Was vielleicht den meisten Menschen in Deutschland nicht bewusst ist: Die sogenannte vietnamesische Community ist zutiefst gespalten. Wenn ich versuchen würde, diese Spaltung zu beschreiben, dann würde ich sie grob in einen „südvietnamesischen Teil“, der überwiegend in den sogenannten alten Bundesländern lebt, und einen „nordvietnamesischen“ in den sogenannten neuen Bundesländern untergliedern. In Deutschland stehen sich Bootsgeflüchtete im Westen und DDR-Vertragsarbeiter:innen im Osten gegenüber. Und diese beiden unterschiedlichen Communitys unterscheiden sich nicht wirklich ethnisch oder kulturell. Sie sind vielmehr durch die Gemengelage der historischen und sozialen Gegebenheiten beeinflusst. Im Westen lebten die größtenteils antikommunistischen Geflüchteten und im Osten die durch den Kommunismus geprägten Vertragsarbeiter:innen. Die vietnamesischen Communitys sind durch die vier politischen Himmelsrichtungen des Kalten Krieges geprägt: Ost und Nord sowie West und Süd. Das sind die politischen Paarkonstellationen, die bis heute das Leben der Vietnames:innen in Deutschland prägen. Nach wie vor gibt es kaum Verbindungen zwischen diesen beiden Gemeinschaften. Ostdeutsch-Nordvietnamesisch trifft sich selten mit Westdeutsch-Südvietnamesisch. Mit uns hat man nicht gefeiert. Uns hat man angegriffen. Dan Thy Nguyen, Regisseur des dokumentarischen Theaterstücks „Sonnenblumenhaus“ Auch wenn wir als vietnamesische Bootsgeflüchtete in Westdeutschland nichts mit den vietnamesischen Vertragsarbeiter:innen der ehemaligen DDR gemein hatten, wussten wir doch zu gut, dass ein Nazi diese feine Unterscheidung nicht machen würde. Für mich war diese Zeit durch ein merkwürdiges Paradox geprägt: Während auf der einen Seite Menschen auf der Straße (tagelang) die Wiedervereinigung feierten, war uns klar, dass nicht alle Menschen in den beiden deutschen Staaten vereint wurden. Wir – die Bootsgeflüchteten und die Vertragsarbeiter:innen –, das haben Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen gezeigt, waren nicht Teil dieser großen, neuen, demokratischen Einheitsfeier. Wir waren wohl nicht deutsch genug für dieses vereinte Deutschland. Mit uns hat man nicht gefeiert. Uns hat man angegriffen. Der NSU und die fehlende Perspektive der Betroffenen Fast zwanzig Jahre später, 2011, war ich 27 Jahre alt, Theaterregisseur und Autor. Und ich hatte das Pogrom von Lichtenhagen vergessen. Aber die Aufdeckung der rechten Terrorserie des NSU war in aller Munde. Das rechtsterroristische Netzwerk, welches zwischen 2000 und 2007 Menschen aus rassistischen Gründen ermordet hatte, blieb bis zur sogenannten „Selbstenttarnung“ unentdeckt. Die Polizei hatte bis dato rechtsextreme Motive weitgehend ausgeschlossen und suchte die Täter:innen im Umfeld der Opfer. Schockierend war für mich nicht nur, dass die Perspektive der Betroffenen und Angehörigen der Ermordeten ausgeblendet wurde: Sie wurden in den Ermittlungen selbst zu Täter:innen gemacht. Stellenweise wurde den Opfern eine Verwicklung in kriminelle Machenschaften unterstellt. In Richtung rechtsextremer Täter:innen wurde kaum ermittelt, stattdessen wurden die Familien der Opfer stellenweise als Täter:innen stigmatisiert. Ich fragte mich, ob es ähnliche Muster auch bei anderen rassistischen Mord-, Brand- und Terroranschlägen gegeben hat. An Rostock kommt man nicht vorbei Ich stieß bei meiner Recherche auf das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen. Wer über rechten Terror und menschlichen Wahnsinn recherchiert, kommt in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands nicht an Rostock vorbei. Als ich mir die Dokumentationen anschaute, die es damals zu diesem Thema gab, kamen sofort die Erinnerungen hoch. Das brennende Sonnenblumenhaus aus dem Fernsehen, der Klang von Steinen gegen unsere Hauswand und die Menschen, die „Deutschland den Deutschen!“ und „Ausländer raus!“ grölten. Und plötzlich dachte ich, dass ich da hinmusste. Ich musste mit den Menschen sprechen, die damals in diesem Haus waren. Zu Beginn meiner Suche nach Überlebenden des Pogroms war ich, als „West-Süd“-Deutschvietnamese, sehr naiv. Ich hatte Vorstellungen vom Leben im Kommunismus, die klar durch die Sozialisation in einer konservativen und antikommunistischen Familie geprägt waren. Die Begegnung mit den Betroffenen des Pogroms verdeutlichte mir meine eigene Ignoranz. Eigentlich war ich gekommen, um zu verstehen, was in den Tagen im August 1992 geschah. Doch den Menschen, die ich interviewte, war es sehr wichtig, ihre ganze Geschichte zu erzählen. Und so führte ich stundenlang bereichernde Interviews mit Überlebenden des Pogroms. Über ihre Kindheit im sogenannten Vietnamkrieg, über ihre Zeit als Vertragsarbeiter:innen, über das Pogrom selbst und dessen Nachwirkungen. Es waren Gespräche über Hoffnungen und Enttäuschungen im real existierenden Sozialismus, über den generationenübergreifenden Kampf um ein würdevolles und menschliches Leben, um die schonungslose Offenlegung der unmenschlichen Bedingungen für Vertragsarbeiter:innen in der DDR, über die Verrohung der Gesellschaft nach dem Mauerfall und über die eigenen, allzu menschlichen Fehlbarkeiten. „Sonnenblumenhaus“ interessierte nahezu niemanden Diese Interviews habe ich transkribiert und zuerst zu einem Theaterstück mit dem Namen Sonnenblumenhaus zusammengestellt. Die Premiere fand im April 2014 im Markk Hamburg statt, dem ethnologischen Museum der Stadt. Und es interessierte nahezu niemanden. Manchmal waren nur acht Personen im Saal, der eigentlich für 200 Zuschauer:innen ausgelegt war. Nach drei Vorstellungen waren wir überzeugt, dass wir dieses Stück nie wieder würden aufführen können. Es war nur durch die Unterstützung meiner Kollegin Friederike Falk und des FSK-Radios möglich, aus dem Theaterstück ein Hörspiel zu produzieren. Es feierte im Januar 2015 seine Premiere. Bis heute gehört es zu den meistgehörten freien Hörspielproduktionen der Bundesrepublik und ist offenbar für viele Zuhörer:innen noch nicht verjährt. Leider ist dieses Projekt bis heute die einzige künstlerische Arbeit, die sich breit und ausschließlich mit der Perspektive der betroffenen vietnamesischen Vertragsarbeiter:innen beschäftigt. Ein Projekt etwa aus Rom:njaperspektive allerdings steht selbst nach dreißig Jahren noch aus. Wenn ich heute auf diese Arbeit zurückschaue, finde ich es erstaunlich, wie Sonnenblumenhaus mit jedem Jahr mehr Aufmerksamkeit gewinnt. Dieses Stück ist für mich immer eine Brücke zwischen dem Pogrom von Lichtenhagen, meiner Kindheit, den aktuellen Zerwürfnissen unserer Gesellschaft und einer verhältnismäßig starken Rechten in Deutschland gewesen. Die westdeutsch-südvietnamesische Community, also meine eigene, hat diese Arbeit bis dato weitgehend ignoriert. Vor einigen Jahren wurde mir sogar von einigen Menschen vorgeworfen, mit dem Stück selbst Kommunist geworden zu sein. Anscheinend haben wir bis heute den Kalten Krieg nicht überwunden. Der Gastbeitrag erschien in unserer aktuellen Zeitung. Sie ist eine Sonderausgabe zum Pogrom in Rostock-Lichtenhagen 1992 und kann auch im KATAPULT-Shop bestellt werden. MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!