Regen von oben und von vorn. Die Herbst- und Wintersaison ist rau. Wenn Stürme zu Orkanen und bewegte See zu Sturmfluten werden, setzen sie besiedelte Küstengebiete unter Stress. Das ist schon im Vorfeld herausfordernd, weil es schwer vorhersehbar sei, wann Orkane und Sturmfluten eintreffen würden, erklärt Arne Arns, der die Professur für Küstenschutz und Küstendynamik an der Universität Rostock innehat. Vielmehr gehe es darum, zu erkennen, wie hoch zukünftige Sturmfluten auflaufen werden. „Die Gefahr einer Sturmflut ist immer da, aber die Probleme, die sie auslöst, sind in Zukunft mit einem gestiegenen Meeresspiegel deutlich gravierender als heute.“ In den letzten Jahrzehnten war Meck-Vorps Ostseeküste immer wieder betroffen. So kam es im November 1995, im Februar 2002 sowie im November 2006 zu bis zu zwei Metern hohen Sturmfluten. Die verheerende Sturmflut von 1872 erreichte die mecklenburgische Küste sogar mit einem Spitzenwert von 2,83 Meter über dem mittleren Pegelstand. Sie gilt als die bisher gesichert höchste Sturmflut an der deutschen Ostseeküste. Der Meeresspiegel kennt nur eine Richtung: nach oben Die Sturmfluten der Vergangenheit sind Grundlage für eine Modellrechnung, „anhand der wir alle 100 oder 200 Jahre eine Sturmflut von der und der Höhe erwarten“, berichtet Arns. Daraus lässt sich pauschal jedoch keine Vorhersage ableiten. Vielmehr werden mit den ermittelten Daten aktuelle Küstenschutzmaßnahmen und relevante Schutzhöhen festgelegt. Dabei haben die Berechnungen künftiger Sturmfluten eine Konstante: den Meeresspiegel der Ostsee. Steigt er an, ändert sich auch die Eintrittswahrscheinlichkeit der Sturmfluten. „Bei einem Meeresspiegelanstieg von einem halben Meter läuft auch die Sturmflut einen halben Meter höher auf“, erklärt Arns. Das ist problematisch, weil MVs Küstenschutzmaßnahmen an erwartbare Sturmfluten angepasst sind, die auf den aktuellen mittleren Wasserstand aufsatteln. Ist der Meeresspiegel erhöht, braucht es entsprechend weniger Windenergie, um aktuelle Sturmfluthöhen zu erreichen. Die bestehenden Schutzhöhen werden zukünftig wohl öfter und schneller überschritten: „Eine Sturmflut, die heute alle 200 Jahre auftritt, kommt dann in deutlich geringeren Abständen von vielleicht nur noch zehn oder fünf oder zwei Jahren.“ Dass der globale Meeresspiegel infolge der Klimaerwärmung ansteigt, betrachtet der Weltklimarat IPCC als wissenschaftlichen Konsens, der auch von der Politik mitgetragen wird. Stieg der Meeresspiegel zwischen 1993 und 2002 noch um 2,1 Millimeter pro Jahr, so waren es im Vergleichszeitraum 2013 bis 2022 bereits 4,5 Millimeter. In welchem Ausmaß der Anstieg künftig zu erwarten ist, hängt auch davon ab, wie schnell die polaren Eismassen in der Antarktis schmelzen und ob dieser Prozess noch aufgehalten werden kann. Ein vollständiges Abschmelzen des antarktischen Eisschildes habe einen Meeresspiegelanstieg von weit über 50 Metern zur Folge, so Arne Arns. Dieses Szenario ist theoretisch; dass es so weit kommt, nicht wahrscheinlich. Es verdeutlicht dennoch die Richtung, in die sich der Meeresspiegel weltweit bewegen wird: stetig nach oben. Teure Dünen Die Küstenschutzmaßnahmen im Land beruhen auf Beobachtungen in der Vergangenheit. Dafür werden sogenannte Bemessungshochwasserstände (BHW) ermittelt, die ortsabhängig sind und auf dem höchsten Wasserstand basieren, der bisher bei einer Sturmflut zuverlässig gemessen wurde. Ein BHW ist eine ausschlaggebende Größe bei der Planung von Küstenschutzbauwerken. Er enthält auch einen Zuschlag, um den zu erwartenden Meeresspiegelanstieg entlang der Küste kompensieren zu können. Bis 2021 wurden 50 Zentimeter zu den historischen Sturmfluthöhen addiert. Seit 2021 gilt ein sogenanntes Vorsorgemaß, das einen zusätzlichen Schutz von einem Meter vorsieht. Dieses neu eingerichtete Vorsorgemaß deckt eine größere Spannbreite potenzieller Anstiege ab. Wissenschaftlerinnen und Küstenschutzplanerinnen möchten so dem steigenden Meeresspiegel der nächsten 100 Jahre begegnen. Der Schutz der Außenküste sei damit vergleichsweise gut aufgestellt, unabhängig davon, ob die aktuellen Projektionen des Meeresspiegelanstiegs in der Ostsee zutreffend oder zu niedrig sind, erklärt Arns. Der Küstenschutz im Land bleibt jedoch eine fortwährende Aufgabe. „Wir schauen von Ortslage zu Ortslage und wenn wir einmal durch sind, können wir von vorn beginnen“, sagt Lars Tiepolt, Abteilungsleiter Küste des Staatlichen Amtes für Landwirtschaft und Umwelt (Stalu) Mittleres Mecklenburg. Um an der gesamten Küstenlinie im Außen- und Binnenbereich einen ausreichenden Schutzstandard zu gewährleisten, seien gut 25 Jahre notwendig, berichtet er. Vorausgesetzt, es gibt in dieser Zeit keine Sturmfluten. Im Bereich der Flachküsten übernimmt bereits der Strand eine Schutzfunktion, weil er einen Teil der Energie des Seegangs aufnimmt. Die dahinterliegenden Dünen werden permanent ausgebaut, um die aktuellen Schutzhöhen einzuhalten. „Die meisten Menschen denken, wir hätten natürliche Dünen, dabei sind fast alle aufgespült“, sagt Arns. Alle acht bis zwölf Jahre werden sie mit Sedimenten vom Grund der Ostsee ausgebessert. Diese Aufspülungen sind wesentlicher Bestandteil des Küstenschutzes in MV. Mit einer Gesamtlänge von mehr als 100 Kilometern leisten Schutzdünen einen wichtigen Beitrag. Ihr Erhalt verschlingt allerdings auch den Großteil des Landesbudgets von etwa 25 Millionen Euro für den Schutz vor Sturmfluten und Hochwasser. Im Schnitt werden in MV jährlich etwa 500.000 Quadratmeter Sand zum Schutz der Küste aufgespült. Künstliche Stabilität an sich verändernden Küsten Ohne diese Aufspülungen gebe es manche Strände entlang der Ostseeküste nicht mehr, die in 100 Jahren im Durchschnitt um etwa 35 Meter abgetragen wird. Herausfordernd sind dabei räumlich stark schwankende Extreme des Küstenrückgangs. So verliert der Uferabschnitt Rosenort zwischen Rostock-Markgrafenheide und Graal-Müritz bis zu 210 Meter in 100 Jahren. Am Strandabschnitt Streckelsberg bei Koserow auf Usedom schwindet die Küstenlinie um bis zu 90 Meter in 100 Jahren. „Unsere Küste ist sehr dynamisch und würde sich ohne unser Zutun stark verändern“, so Arns. Hochwasser, Sturmfluten und Erosion sind natürliche Prozesse, die sich nicht verhindern lassen. Zur Katastrophe komme es, weil zu nah an gefährdeten Gebieten gesiedelt wird. „Wir stellen gerade fest, dass das für uns ein Bumerang wird.“ Mit den aktuellen Schutzmaßnahmen könne lediglich auf die Veränderungen der Küstenlinie reagiert werden. „Wir wollen, dass das System stabil bleibt, damit unsere Siedlungsgebiete sicher sind“, betont Arns. Üblicherweise greifen dafür mehrere Küstenschutzanlagen ineinander, um den größtmöglichen Schutz zu bieten. Neben Buhnen, die den Längstransport von Sedimenten im ufernahen Wasser verringern, gehören Dünen, Küstenschutzwälder und Deiche zu den etablierten Maßnahmen gegen Hochwasser und Sturmfluten. So wird etwa die Ostseeküste der Halbinsel Fischland-Darß mit all diesen Maßnahmen geschützt. „Generell gibt es an der Außenküste kaum Punkte, wo eine Sturmflut durchbrechen könnte“, bescheinigt Lars Tiepolt. Der städtische Hochwasserschutz sei dagegen schwieriger. Hier beginnt der Küstenschutz gerade erst mit der Anpassung an das neue Vorsorgemaß. Küstenschutz in Städten ist kompliziert Küstenschutzbauwerke sind statisch. Steigt der Meeresspiegel, verringert sich ihre Schutzwirkung im gleichen Umfang. Das ist problematisch, denn nicht überall ist es möglich, Schutzmaßnahmen anzupassen. Vor allem in küstennahen Städten sind die Schadenspotenziale hoch und die Schutzanlagen oft unzureichend. Ein historisches Stadtbild, gewachsene urbane Strukturen, begrenzt verfügbarer Raum, eine relativ niedrig liegende Hafenkante: All das erschwert es, neue Schutzsysteme zu installieren. Wismar und Rostock, aber auch Barth oder Ueckermünde stehen vor diesen Herausforderungen. So gab es in Rostock die Idee, eine Schutzmauer im Stadthafen zu errichten. Doch Anwohnerinnen und Gastronominnen lehnten den Vorschlag ab. Zu hoch, zu hässlich. Um das Ausmaß der Schutzmauer zu begreifen, ist es notwendig, sich die Sturmflut vor Augen zu führen, vor der sie schützen soll. Bemessungsrelevant sei aktuell eine Höhe von 2,75 Meter inklusive Zuschlag, erklärt Küstenschutzforscher Arns. Wenn eine Sturmflut mit entsprechender Höhe durch die Warnow läuft, wächst sie ein paar Zentimeter an, weil sie vom Fluss wie durch einen Trichter gestaut wird. Das 2021 eingeführte Vorsorgemaß setzt die geforderte Schutzhöhe noch weiter herauf. Ausgehend von der Hafenkante im Rostocker Stadthafen bedeutet das eine anderthalb Meter hohe Schutzmauer, die dort errichtet werden müsste. Hübsch wäre das tatsächlich nicht. Es gebe Möglichkeiten, den Küstenschutz eleganter ins Stadtbild zu integrieren. Aber alles, was attraktiver ist als eine Mauer, kostet mehr Geld. Schutzsysteme seien immer auch an wirtschaftliche Kriterien gebunden, so Arns. Kosten und Nutzen müssen sich die Waage halten. Unter Einbeziehung der Wirtschaftlichkeit ergibt sich für den Rostocker Hafen momentan nicht viel mehr als eine Schutzmauer. Doch der Hochwasserschutz in Rostock ist noch komplizierter. Hinter dem Stadthafen befinden sich Wohn- und Geschäftshäuser sowie die Landstraße 22, eine der meistbefahrenen Straßen MVs, im überflutungsgefährdeten Bereich, „der im Fall eines Hochwassers relativ schnell absäuft“, wie es Arns ausdrückt. Grund dafür ist unter anderem das städtische Entwässerungssystem, durch das Wasser in den Straßenbereich gedrückt werden kann. Dieses Entwässerungssystem muss modernisiert und gleichzeitig offen gehalten werden, damit auch starke Regenfälle abfließen können, ohne die Straße volllaufen zu lassen. Die Planungen des Stalu zum Hochwasserschutz in Rostock sind abgeschlossen. Bis 2030 könnten die Maßnahmen umgesetzt werden. Doch zunächst müsse die Stadt ihr Entwässerungssystem im Hafenbereich angehen, erklärt Abteilungsleiter Tiepolt. Das wiederum sei abhängig von den zu erwartenden Kosten und der Art der Finanzierung. Für Rostock, aber auch für Städte mit ähnlichen geografischen Voraussetzungen, wie Lübeck, gebe es zwei Wege, um vor Sturmfluten zu geschützt zu sein, meint Arne Arns. Deiche oder Schutzwände sind eine Option, die aufgrund des begrenzten Platzangebotes jedoch schwer umsetzbar ist. Eine weitere Möglichkeit wäre der Bau von Sperrwerken, die Sturmfluten daran hindern, überhaupt in die Flüsse einzudringen. Ein solches Sperrwerk im Mündungsbereich der Warnow darf jedoch den Schiffsverkehr nicht beeinträchtigen. „Diese Bauwerke sind relativ komplex und kosten eine Menge Geld“, so Arns. Berechnungen aus dem Jahr 2014 zufolge kostet jeder Meter Sperrwerk durchschnittlich etwa 2,2 Millionen Euro. Auf dieser Grundlage betragen die Baukosten für ein mögliches Warnow-Sperrwerk ungefähr 220 bis 330 Millionen Euro – ohne Inflation und die seit 2014 deutlich gestiegenen Materialkosten. Hinzu kämen die laufenden Betriebskosten, die rund zehn Prozent der Bausumme entsprächen. Allein diese zehn Prozent liegen bereits über dem Jahresbudget für den gesamten Küstenschutz in MV. Masterplan für ein Leben im Moor Weiter östlich, in Vorpommern, wird die Stadt Greifswald seit 2016 von einem Sturmflutsperrwerk geschützt. Es ist ein Ausnahmefall an der Küste MVs und nur möglich, weil der Ryck, den das Sperrwerk im Notfall verschließen würde, ein vergleichsweise schmaler Fluss ist. Die Anlage bietet den notwendigen Schutz für die kommenden Jahrzehnte. Doch „nach 2070 wird das Sperrwerk vermutlich nicht mehr ausreichen“, prophezeit Harald Kegler vom Institut für urbane Entwicklungen und nachhaltige Raumplanung an der Universität Kassel. Setzt sich die aktuelle Dynamik des Klimawandels fort, werden in 100 Jahren die Gebiete nördlich des Rycks und östlich von Greifswald dauerhaft überflutet. Das traditionsreiche Fischerdorf Wieck wäre ebenso verschwunden wie die Fliegersiedlung Ladebow. Lubmin mit den Reaktoren des stillgelegten Kernkraftwerks würde zu einer Insel werden. Kegler beruft sich auf die Hochrechnungen des Weltklimarates, die einen Anstieg des Meeresspiegels von etwa einem Meter in den kommenden 100 Jahren voraussagen. Das sei keineswegs pessimistisch und könne auch schön früher eintreffen, warnt Kegler. In diesem Zusammenhang leitet er ein Studierendenprojekt, das sich mit den zukünftigen Auswirkungen des Klimawandels und insbesondere mit dem steigenden Meeresspiegel in der Region Greifswald auseinandersetzt. Dass der Küstenschutz bisher danach strebe, einen Istzustand immer wieder herzustellen, sei vorübergehend richtig, sagt Kegler. Doch der Meeresspiegelanstieg ist kein vorübergehendes Phänomen. „Das Wasser wird Tatsachen schaffen.“ Unter Keglers Leitung haben Studierende der Universität Kassel einen Masterplan für die Region Greifswald für das Jahr 2123 entworfen. Darin plädieren sie für einen Perspektivwechsel. „Bisher wollen wir das Wasser abwehren“, beschreibt Kegler, doch entscheidend sei es, zu agieren, statt zu reagieren. „Wir müssen uns fragen, was wir tun können, um mittelfristig mit dem steigenden Meeresspiegel leben zu können.“ Kegler hofft auf eine neue Denkweise im Umgang mit dem Wasser. Die Küstenregionen werden sich anpassen müssen. Dafür brauchen sie eine veränderte Siedlungsstruktur, aber auch die Bereiche Wirtschaft, Kommunikation und Infrastruktur müssten neu und vor allem nachhaltig und widerstandsfähig gegen Wetterextreme gedacht werden. „Mit dem Meeresspiegelanstieg werden neue Moore entstehen, weil der Grundwasserspiegel steigen wird“, erklärt Kegler. Diese Moore können einerseits land- und forstwirtschaftlich genutzt werden. Andererseits schränken sie die bisherigen Siedlungsräume ein. Der Masterplan sieht deshalb unter anderem Wohngebiete in Mooren vor. Südöstlich von Greifswald könnten Gebäude dann womöglich auf Stelzen errichtet werden, so wie sie heute in ländlichen Gebieten Süd- und Südostasiens üblich sind. Auch für die Infrastruktur sagt der Masterplan massive Einschnitte voraus. So wird die Bahnstrecke zwischen Greifswald und Stralsund in 100 Jahren ebenfalls in weiten Teilen dauerhaft überflutet sein. Sie müsste bis dahin entweder erhöht oder alternativ über Grimmen verlegt werden. Sowohl Stadt als auch Universität Greifswald zeigen großes Interesse am Kasseler Masterplan. Mit ihrem Projekt wollen die Studierenden jedoch keine Richtung vorschreiben, sondern Denkansätze liefern. Das sei wichtig, denn „wir müssen schon heute darüber diskutieren, wie ein zukünftiges Leben mit gestiegenem Meeresspiegel und veränderter Küstenlinie funktioniert“, so Harald Kegler. Den aktuell geführten Kampf gegen die Küstendynamik und Sturmfluten werde der Mensch verlieren, sagt auch Lars Tiepolt vom Stalu. Küstenschutz sei weiterhin notwendig, aber nur dort zulässig, wo Sachwerte gefährdet seien. „Wir schützen Ortsinnenbereiche, aber keine Campingplätze, landwirtschaftliche Flächen oder Naturschutzgebiete.“ Der gesetzliche Auftrag sei an enge Vorgaben gebunden, wonach menschliches Leben und Infrastruktur geschützt werden sollen. „Wir werden die bebauten Gebiete, die einen Ortskern haben, schützen. Aber wir werden nicht jedes Einzelgehöft schützen können“, erklärte auch Umweltminister Till Backhaus im November 2022 im Gespräch mit dem ZDF. Und er sprach auch einen Satz, der beinahe ungehört in seiner Brisanz verdeutlicht, was den Küstenregionen womöglich bevorsteht: „Wir werden uns auch daran gewöhnen müssen, uns aus bestimmten Gebieten zurückzuziehen.“ MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!