Am 12. Oktober läuft ein blutverschmierter 42-Jähriger durch Barth. Er soll mehrfach auf seine Ehefrau eingestochen haben, auf ihre Arme, ihren Oberkörper, ihren Kopf. Sie stirbt noch am Tatort, in einem Zimmer der zentralen Geflüchtetenunterkunft des Landkreises Vorpommern-Rügen. Gegen den mutmaßlichen Täter wird Haftbefehl wegen Mordes erlassen – laut Staatsanwaltschaft habe er die Frau bestrafen wollen, weil sie sich auf einen anderen Mann eingelassen habe. Am 11. Dezember, einem Sonntagabend im Schweriner Plattenbauviertel Großer Dreesch, hören Nachbar:innen einen lauten Streit aus einer Wohnung und alarmieren die Polizei. Diese findet dort eine 42-Jährige tot auf. Erstochen, mutmaßlich von ihrem Lebensgefährten. Der 44-Jährige befindet sich in Untersuchungshaft, es wird wegen Totschlags ermittelt. Das Motiv sei unklar, so die Staatsanwaltschaft. Täglich versucht ein Mann in Deutschland, eine Frau umzubringen. Jeden dritten Tag gelingt es. In der Regel ein (Ex-)Partner – um Macht auszuüben, sich für eine Trennung zu rächen oder aus verletztem Stolz. Es sind keine Einzelfälle, Familiendramen oder Eifersuchtstragödien, auch wenn Medien das nach wie vor häufig so nennen. Denn solche Begriffe verharmlosen Morde. Sie vertuschen die gesellschaftliche Dimension, privatisieren und entpolitisieren die Tat, normalisieren Geschlechtergewalt. Das Töten von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts sind sogenannte Frauenmorde beziehungsweise Femizide. Femizide sind ein Zeichen der Ungleichstellung von Frauen und Männern. „Wenn Frauen körperliche Gewalt erleben, findet diese Gewalt meistens in privaten Räumen statt und geht vom männlichen Beziehungspartner aus“, erklärt die Landeskoordinierungsstelle gegen häusliche und sexualisierte Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern (Cora). Und das betrifft alle Bevölkerungsgruppen und sozialen Schichten. Sogenannte Ehrenmorde Grund dafür, dass vor allem Frauen Opfer häuslicher und sexualisierter Gewalt werden, ist die Ungleichheit zwischen Mann und Frau. Denn bei häuslicher und sexualisierter Gewalt geht es um Demütigung und Machtmissbrauch. Es geht darum, die Partnerin bewusst zu kontrollieren, zu beherrschen, zu unterwerfen und zu verletzen. Bei Partnerschaften mit häuslicher und sexualisierter Gewalt ist keine Partnerschaft auf Augenhöhe möglich. Während der Begriff Femizid selten verwendet wird, wird der Mord in bestimmten Fällen sprachlich explizit aufgegriffen: Wenn der Täter als nicht deutsch definiert wird. Dann wird die Tat häufig als „Ehrenmord“ bezeichnet. Mit dieser Begrifflichkeit werde antimuslimischer Rassismus instrumentalisiert, um zu suggerieren, dass Femizide von außen kommen und nichts mit der deutschen Gesellschaft zu tun hätten, so die Autor:innen einer Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Doch alle Femizide würden aus Frauenverachtung und Misogynie begangen und seien Ausdruck extremen männlichen Dominanz- und Besitzdenkens gegenüber Frauen, das in allen Gesellschaften anzutreffen sei. Eine Studie des Bundeskriminalamtes definiert „Ehrenmorde“ als „die Tötung eines Mädchens oder einer jungen Frau durch ihre Blutsverwandten zur Wiederherstellung der kollektiven Familienehre“. Doch in der Regel seien die meisten „Ehrenmorde“ genannten Tötungen Femizide: „Häufiger als Ehrenmorde im engeren Sinn sind Grenzfälle zur Partnertötung, bei denen die Ehefrau oder Partnerin durch Unabhängigkeitsstreben, Trennung beziehungsweise Trennungsabsicht oder (vermutete) Untreue den Anlass für die gewaltsame Reaktion des (Ex-)Partners gibt.“ Frauenhäuser stehen vor vielen Problemen Derzeit gibt es weder auf Bundes- noch auf Landesebene eine einheitliche Definition des Begriffs Femizid. Damit fehlt die Grundlage für eine strafrechtliche Erfassung der Tötungen. Auch häusliche Gewalt wird in der Polizeilichen Kriminalstatistik MVs nicht als eigenständiges Phänomen erfasst. Um diese Fälle darzustellen, werden Straftatengruppen sowie die Beziehung zwischen Opfer und Tatverdächtigem ausgewertet. „Auf dieser Grundlage wurden in 2021 insgesamt 1.304 weibliche Personen Opfer häuslicher Gewalt“, heißt es vom Gleichstellungsministerium MV. Vor dem Hintergrund des Femizids in Barth forderte die Landesarbeitsgemeinschaft der Interventionsstellen gegen häusliche Gewalt und Stalking (LAG) am Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen am 25. November von MVs Gleichstellungsministerin Jacqueline Bernhardt (Die Linke), das Hilfesystem personell und finanziell angemessen auszustatten. Die Frauenhäuser in MV kämpfen schon lange mit vielen Problemen: zu wenig finanzielle Mittel vom Land, Personal- und Fachkräftemangel, fehlende Kapazitäten – insbesondere für mehrfachdiskriminierte Frauen beispielsweise mit Behinderungen sowie Fluchterfahrung. So gibt es kaum barrierefreie Frauenhäuser in MV, Frauen mit Seh- oder Hörbeeinträchtigung, geistiger Beeinträchtigung, psychischen Erkrankungen, Süchten oder Rollator können oft nicht aufgenommen werden. Es fehlen außerdem Familienapartments für Frauen mit zwei und mehr Kindern oder jugendlichen Söhnen. Und es fehlt Sprachmittlung für Frauen mit Migrationshintergrund: „Unser Dolmetscher heißt leider Google-Übersetzer“, sagt die Leiterin eines Frauenhauses in Mecklenburg. Chronischer Platzmangel in Frauenhäusern Außerdem müssen die Bewohnerinnen ihren Aufenthalt in der Regel bezahlen. In Rostock werden ab diesem Jahr 19,24 Euro pro Tag für eine Frau fällig, für ein Kind 14,34 Euro. „Das kann mitunter zu einer enormen finanziellen Doppelbelastung führen“, erklärt Dorothea Engelmann, Leiterin des Rostocker Frauenhauses. In den Frauenhäusern im Land herrscht chronischer Platzmangel, es werden mitunter mehr als doppelt so viele Frauen abgewiesen wie aufgenommen. Grund dafür ist auch der angespannte Wohnungsmarkt: „Frauen bleiben länger, weil sie schwieriger in eigene Wohnungen kommen. Dies führt dazu, dass wir weniger Frauen aufnehmen können“, sagt eine Mitarbeiterin vom Frauenhaus Güstrow. Der Europarat empfiehlt einen Frauenhausplatz pro 7.500 Einwohner:innen. Mecklenburg-Vorpommern verfehlt – wie die Mehrheit der Bundesländer – das Ziel, das in der sogenannten Istanbul-Konvention längst vereinbart wurde. Landesaktionsplan ist sechseinhalb Jahre alt Die Istanbul-Konvention ist eine 2011 getroffene internationale Übereinkunft zur Verhütung und Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt. Sie verlangt eine staatliche Gesamtstrategie und ausreichend finanzielle Mittel für das Unterstützungssystem. Seitdem Deutschland sie im Februar 2018 ratifiziert hat, ist sie hierzulande geltendes Recht. Damit hat sich die Bundesrepublik verpflichtet, Zugang zu Hilfsangeboten und Schutzeinrichtungen sowie Datenerfassung und -analyse im Kampf gegen Gewalt an Frauen zu gewährleisten und Täter zu bestrafen. Doch laut einem Bericht der Expert:innengruppe Grevio gibt es dringenden Nachhol- und Handlungsbedarf: Es fehlen eine nationale Koordinierungsstelle, eine langfristige und umfassende Strategie und somit Schutz und Unterstützung für Opfer von Gewalt, insbesondere für solche mit Behinderungen und/oder unsicherem Aufenthaltsstatus. „Folglich sehen viele gewaltbetroffene Frauen und ihre Kinder sich mit der schwierigen Entscheidung konfrontiert, zum Täter zurückzukehren oder Obdachlosigkeit zu riskieren“, schreibt Grevio in ihrem Bericht. Nach Angaben des Bundesfamilienministeriums habe sich die Ampelregierung diese Maßnahmen in ihren Koalitionsvertrag geschrieben, um die Istanbul-Konvention vorbehaltlos umzusetzen, und berücksichtige dabei „insbesondere die Bedürfnisse von vulnerablen Gruppen wie Frauen mit Behinderungen, Flüchtlingsfrauen und LBTIQ-Frauen“. In MV gibt es den dritten Landesaktionsplan zur Bekämpfung von häuslicher und sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Kinder. Dieser stammt aus dem Jahr 2016. Die rot-rote Landesregierung hat angekündigt, den Plan zu einer Landesstrategie zur Umsetzung der Istanbul-Konvention weiterzuentwickeln. Prekäre Verhältnisse in und um Demmin Bis der Landesaktionsplan für MV evaluiert und weiterentwickelt wird, ist die einzige Beratungsstelle gegen häusliche Gewalt in Demmin längst Geschichte. Am internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen im November gab die Awo-Beratungsstelle ihr Ende aus finanziellen und personellen Gründen bekannt – zum Leidwesen zahlreicher Betroffener aus dem Demminer Umland. Denn: Die Beratungsstelle ist auch für umliegende Gemeinden und Städte wie Altentreptow, Stavenhagen, Malchin und Dargun zuständig. Seit ihrer Eröffnung vor fünf Jahren bemängelten die Berater:innen die unzureichende finanzielle Ausstattung und prekäre Arbeitsverhältnisse mit befristeten Verträgen. Rund um das Demminer Land und den Treptower Tollensewinkel gibt es nun keine Anlaufstelle gegen häusliche Gewalt mehr, denn durch Resturlaub und Überstundenausgleich hat die Beratungsstelle bereits Ende November schließen müssen. Betroffene sollen sich an das Sozialamt des Landkreises wenden – oder eben lange Wege zur nächsten Beratungsstelle nach Waren, Neubrandenburg, Stralsund oder Wolgast auf sich nehmen. Für viele Menschen in kontrollierenden Gewaltbeziehungen ist so etwas jedoch schlicht nicht möglich. In Neubrandenburg gibt es zudem seit drei Jahren keine Täterberatungsstelle mehr. Die Gelder wurden auf die Standorte der Beratungsstellen für Gewalttäter:innen in Güstrow, Stralsund und Greifswald verteilt. Die drei Standorte werden von lediglich zwei Mitarbeitern betreut. Bei dem ohnehin schambehafteten Thema müssen so in Mecklenburg-Vorpommern auch Täter für eine notwendige Therapie zur Gewaltfreiheit und Prävention lange Wege in Kauf nehmen. Formen und Auswirkungen häuslicher Gewalt sind vielfältig Geschlechtsspezifische Gewalt findet zwar überwiegend, aber nicht nur zuhause durch ein Familienmitglied oder einen (ehemaligen) Partner statt, sondern auch am Arbeitsplatz, in der Schule, auf der Straße, beim Sport, im Verein, im Internet. Unter häusliche Gewalt fallen Formen der psychischen, physischen, ökonomischen, sozialen und sexualisierten Gewalt. Es geht um Macht und Kontrolle. Dazu zählen auch die Instrumentalisierung der Kinder, das Abschieben der Verantwortung, Täter-Opfer-Umkehr und das Ausnutzen von Privilegien, Macht und Stärke. Da der Begriff häuslich Privatheit suggeriert, wird stattdessen oft von partnerschaftlicher Gewalt gesprochen. In 90 Prozent der Fälle endet häusliche Gewalt jedoch nicht nach einer Trennung, sondern wird als sogenannte Nachtrennungsgewalt mehrheitlich von Männern gegen ihre Ex-Partnerinnen fortgeführt, oft jahrelang. Darunter fallen unter anderem Stalking, soziale und ökonomische Gewalt sowie Legal Abuse: die Fortführung der häuslichen Gewalt bei gemeinsamen Kindern mithilfe der Instrumentalisierung von Verfahren bei Gerichten, Jugendämtern und Behörden, um weiterhin Terror und Kontrolle über die betroffenen Frauen auszuüben – mit institutionalisierter Unterstützung und Akzeptanz der patriarchalen Gewalt in Verwaltung und Justiz. Ideologische antifeministische Narrative begünstigen an deutschen Familiengerichten und Jugendämtern noch immer die Entscheidungen – häufig zum Nachteil gewaltbetroffener Mütter. Gewalt macht auch am Arbeitsplatz nicht halt Auch wird häusliche Gewalt nicht nur innerhalb der eigenen vier Wände verübt, sondern betrifft und beeinflusst häufig sämtliche Lebensbereiche von Betroffenen und meistens auch jeden Schritt im Alltag. Vor allem ist es aber auch ein Arbeitsplatzthema: Durch Konzentrationsschwierigkeiten, Leistungsdefizite und sich häufende Fehltage beeinflusst häusliche Gewalt nicht nur die Leistung der Arbeitnehmer:innen, sondern auch ihre finanzielle Sicherheit, ohne die ein Ausbruch aus der Gewalt kaum möglich ist. Aufgrund von Stigmata, Scham und Tabus verschleiern Betroffene die Auswirkungen der Gewalt dabei oft monate- und jahrelang unter enormem Kraftaufwand. Kolleg:innen und Vorgesetzte können solch ein Verhalten häufig nur schwer einordnen – und übersehen so das gesamtgesellschaftliche Problem. Expert:innen empfehlen daher, bei einem Verdacht auf häusliche Gewalt nicht zu zögern, nachzufragen und Hilfe anzubieten, um zusätzlicher Isolation der Betroffenen am Arbeitsplatz vorzubeugen. Zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen am 25. November forderte der Deutsche Gewerkschaftsbund in Schwerin von der Bundesregierung die Ratifizierung des Internationalen Übereinkommens gegen sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz. Es wurde 2019 von der Internationalen Arbeitsorganisation verabschiedet. Wichtig sei die Konvention deshalb, weil sie erstmalig klar definiert, was sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist, so Lisanne Straka, die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte vom DGB Nord. Behinderte Frauen doppelt so häufig von Gewalt betroffen In Deutschland wird jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von körperlicher und/oder sexualisierter Gewalt. Noch häufiger betroffen sind Frauen mit Behinderung. Daher hat der Trägerverein der Frauenhäuser in Stralsund und Rostock, Stark Machen, bei der diesjährigen Veranstaltung „Ein Licht für jede Frau – all inclusive“ einen Schwerpunkt auf Mädchen und Frauen mit Behinderungen gelegt. Diese sind laut aktuellen Studien zwei- bis dreimal häufiger von Gewalt betroffen: Sie werden doppelt so häufig Opfer körperlicher Gewalt, fast die Hälfte der Frauen mit Behinderung hat bereits sexualisierte Gewalt und 70 bis 90 Prozent haben psychische Gewalt erlebt. Außerdem seien Frauenhäuser und Beratungsstellen oftmals nur teilweise oder gar nicht barrierefrei, wie Margit Glasow vom Verein Rostocker für Inklusion und Teilhabe berichtet. Ein positives Zeichen hingegen sei ein Beschluss der Bürgerschaft, der in vier Jahren ein barrierefreies Frauenhaus in Rostock vorsieht. Doch es gibt ein Problem beim Neubau: Der städtische Eigenbetrieb, der ihn errichtet, muss Leistungen für den neuen Standort ausschreiben. Das bedeutet aber auch, dass der Standort öffentlich bekannt würde. Doch die „Anonymität der Adresse ist elementarer Bestandteil des Schutzkonzeptes eines Frauenhauses“, warnt das Rostocker Frauenhaus. „Uns würde interessieren, wie die Stadt den Spagat zwischen öffentlicher Ausschreibung und Anonymität der Adresse hinbekommen will.“ Ein weiteres Problem: Die Finanzierung. Aus dem 30-Millionen-Euro-Bundesförderprogramm „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen“ fließen von 2020 bis 2024 jährlich 565.000 Euro für den Ausbau von Beratungsstellen und Frauenhäusern nach MV. „Als die Stadt Rostock jedoch mit den Planungen so weit war, um eine Förderanfrage zu stellen, waren die Mittel für MV schon vergeben“, sagt Dorothea Engelmann vom Rostocker Frauenhaus. „Ein Licht für jede Frau“ Seit 2004 werden jedes Jahr am Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen in Rostock Kerzen angezündet. 2022 waren es 811 Kerzen, die symbolisch für die 811 Frauen stehen, die im Jahr 2021 in einer Beratungsstelle Hilfe und Schutz vor sexualisierter und häuslicher Gewalt gesucht haben. Etwa einhundert Personen waren es nach Polizeiangaben, die den Doberaner Platz an jenem Freitagabend zu einer Andacht besuchten. Auch Eva-Maria Kröger (Die Linke), zu dem Zeitpunkt noch OB-Kandidatin und zwei Tage später gewählte Oberbürgermeisterin Rostocks, war vor Ort und entzündete Kerzen. Für Stark Machen ein starkes Zeichen: „Jahr für Jahr haben wir den Oberbürgermeister zu unserer Aktion ‚Ein Licht für jede Frau‘ eingeladen – ohne Erfolg. Sie sind – als Kandidatin – auch ohne persönliche Einladung gekommen“, schrieb die Initiative auf Instagram. Der im Mai wiedergewählte Oberbürgermeister von Stralsund, Alexander Badrow (CDU), war hingegen bei den Aktionen der Anti-Gewalt-Wochen in Stralsund nicht zugegen. Dabei war der Landkreis Vorpommern-Rügen bei der Vorstellung der Statistiken im vergangenen Dezember der einzige Landkreis in Mecklenburg-Vorpommern, bei dem die Zahl der registrierten Fälle zugenommen hatte. Waren es 2019 noch 523 Beratungen, stieg ihre Zahl 2020 auf 577 und 2021 nochmals um weitere 157 betroffene Erwachsene. Aus Vorpommern-Rügen suchten demnach im Jahr 2021 734 Frauen in der Stralsunder Interventionsstelle Unterstützung und Schutz vor häuslicher, sexualisierter Gewalt und Stalking. In der Hansestadt Stralsund allein waren es 2021 genau 235 Frauen, die den ersten und wichtigsten Schritt schafften: sich in ihrer schwierigen Lage Schutz und Unterstützung zu suchen und sich mithilfe der Berater:innen auf den Weg in ein Leben frei von Gewalt aufzumachen. 588 „stumme Zeugen“ im Landkreis Vorpommern-Rügen Mitbetroffen sind bei häuslicher Gewalt auch immer die Kinder. Sie seien „die stummen Zeugen, die nicht selten die Schuld bei sich selbst suchen“, hieß es die Interventionsstelle Stralsund bei der Aktion „Ein Licht für jede Frau“ formulierte. Die Zahl der mitbetroffenen Kinder und Jugendlichen sei im Laufe der letzten Jahre beständig größer geworden. Bei den 235 Frauen aus Stralsund wurden im Jahr 247 mitbetroffene Minderjährige von häuslicher Gewalt und Stalking registriert. Die Stralsunder Einrichtung berät genau wie die Interventionsstellen in Schwerin, Rostock, Neubrandenburg und Wolgast mit ausgebildeten Kinder- und Jugendberater:innen auch diese „stummen Zeugen“ – im gesamten Landkreis Vorpommern-Rügen waren es 2021 für die Berater:innen 588 mitbetroffene Babys, Kinder und Jugendliche von familiärer Gewalt aus allen Gesellschaftsschichten. Eskaliert häusliche Gewalt nicht nur gegen Mütter tödlich, sondern auch gegen ihre Kinder, spricht man von sogenannten Familiziden. In Deutschland wird mindestens jedes vierte Tötungsdelikt gegen ein Kind in Zusammenhang mit einer Trennung und Streitigkeiten um Sorge- und Umgangsrecht gebracht. Familienmorde und Kindstötungen gab es 2022 auch in MV. Ende Oktober wurde auf einem Hinterhof in Schwerin die Leiche eines neugeborenen Mädchens entdeckt. Im Februar ermordete ein 26-Jähriger innerhalb weniger Tage brutal und heimtückisch erst seinen schlafenden Vater, dann seine 25-jährige Schwester und schließlich die aus dem Urlaub kommende Mutter, mit einer Armbrust und – weil die Schüsse in den Kopf nicht sofort zum Tod führten – schlussendlich mit einer Gartenmachete. All das unbemerkt in einer Nachbarschaft im kleinen Erdbeerdorf Rövershagen bei Rostock. Als am 12. Oktober in Barth die 38-jährige Geflüchtete von ihrem Ehemann erstochen wurde, waren auch die beiden Kinder anwesend. Die Familie war den Beratungsstellen zuvor nicht bekannt. Ein Grund, weshalb die Interventionsstellen im Land künftig mehr Gelder für professionelle Sprachmittlung fordern: Sprachbarrieren machen einen angemessenen Gewaltschutz und die Prävention solcher Taten unmöglich. Die Landesarbeitsgemeinschaft der Interventionsstellen fordert auch Mitarbeitende in Gemeinschaftsunterkünften und Behindertenwerkstätten dazu auf, sich mit dem Thema häusliche Gewalt auseinanderzusetzen. Denn: Häusliche Gewalt findet immer im sozialen Nahraum und unter den Augen vieler stummer Zeug:innen statt, die selbst keine Lobby oder Stimme haben. Innenminister Christian Pegel (SPD) forderte anlässlich der Vorstellung der Zahlen Sensibilität für das Thema bei Polizei und Staatsanwaltschaften in MV und mahnte an, solche Straftaten selbstverständlich konsequent zu ermitteln und zu verfolgen. An die Opfer appellierte er, die Täter anzuzeigen. Auch der Trend für 2022 deute laut Pegel auf einen Anstieg hin: „Die Fallzahlen blieben hier mit 2.172 im Jahr 2019 über 2.335 Fälle im Folgejahr bis zu den 2.333 Fällen im vergangenen Jahr leider relativ konstant. Aber wir alle wissen: Bei allen diesen Taten ist mit einer erheblichen Dunkelziffer zu rechnen.“ Pegel bittet auch eventuelle Zeug:innen von Gewalttaten etwa im häuslichen Milieu, nicht wegzuschauen und diese der Polizei zu melden: „Ignorieren Sie Verdachtsmomente nicht. Es ist Aufgabe der Polizei, zu ermitteln, ob der Verdacht berechtigt war oder nicht. Unsere Beamt:innen klingeln lieber neunmal an der Tür eines möglichen Opfers und das erweist sich als Fehlalarm als nur ein einziges Mal zu spät.“ Dieser Artikel erschien in Ausgabe 15 von KATAPULT MV.  MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!