Jährlich findet am 8. Mai in Demmin ein sogenannter „Trauermarsch“ der Neonaziszene aus MV statt. Seit über zehn Jahren organisiert die NPD die Veranstaltung. Der Hintergrund: Am Ende des Zweiten Weltkrieges haben sich in Demmin mehrere Hundert Menschen das Leben genommen. Die rechte Szene spricht fälschlicherweise von mehreren Tausend. Die genaue Zahl ist bis heute nicht eindeutig zu ermitteln. Der Grund für den Massensuizid war der Sieg der Allierten über Nazideutschland und der damit verbundene Verlust jeder ideologischen Basis. Außerdem schürte die NS-Führung bei den Menschen eine tiefe Furcht vor den vorrückenden sowjetischen Truppen und möglichen Vergeltungsmaßnahmen. Demmin war dabei kein Einzelfall, überall in Deutschland kam es zu dieser Zeit zu einer großen Zahl von Selbsttötungen. Doch Demmin sticht mit der Zahl der Fälle heraus.

Jedes Jahr folgen mehrere Hundert Neonazis dem geschichtsrevisionistischen Aufruf. Mitte der 2010er-Jahre war die Zahl der Teilnehmer:innen am höchsten. Doch auch der Gegenprotest ist seit Jahren immer stärker geworden. Die Menschen stellen sich den Neonazis in den Weg, organisieren Gegendemos, Friedensmärsche. In einigen Jahren gab es Sitzblockaden. Sie wollen, dass über die Demminer Stadtgeschichte aufgeklärt wird. 2015 erschien unter dem Titel Kind, versprich mir, dass du dich erschießt ein Buch, das die damaligen Geschehnisse aufarbeitet. 2018 folgte der Dokumentarfilm Über Leben in Demmin, in welchem vor allem Zeitzeug:innen aus Demmin zu Wort kommen. Die Polizei ist jedes Jahr mit einem Großaufgebot aus mehreren Hundert Einsatzkräften sowie Wasserwerfern und Hubschraubern vor Ort. Die letzten zwei Jahre war der Neonazi-Aufzug aufgrund von Corona abgesagt worden. Von der geplanten Gegendemo haben wir hier bereits berichtet. Die Friedensdemo zieht los Richtung Innenstadt Bereits am Nachmittag feiert die Gegendemo ein Fest am Hafen. Es werden Plakate und der Boden mit Kreide bemalt. Rund 250 Menschen sind da, als wir um 16:30 Uhr eintreffen. Die Schätzungen gehen auseinander: Die Polizei spricht von 200 Teilnehmenden, die Veranstalter:innen selbst von 350. Auch die Linke, die PARTEI, SPD und die Grünen haben Stände am Hafen aufgebaut. Gegen 17 Uhr beginnt am Lautsprecherwagen der erste Redebeitrag und die rund 250 Menschen ziehen los. Das Motto: „Demmin bleibt bunt!“ Großes Polizeispalier Die Leute, die hier mitgehen, sind buntgemischt. Es sind Ältere, Jüngere, einige Kinder in der Menge. Die Menschen kommen aus Demmin, Greifswald, vielen kleineren Nachbarorten und Rostock. Die Message ist klar Der 8. Mai ist über die Jahre hinweg größer geworden. Das heftigste Aufeinandertreffen mit Polizei gab es 2014. Heinz Wittmer vom Aktionsbündnis 8. Mai Demmin beschreibt das Jahr so: „Wir waren mehr Leute als die Polizei. Doch das Ziel des Innenministeriums war es, dass der Naziaufmarsch ans Ziel kommen soll. Wegen des Versammlungsrechts.“ Die Polizei hatte zu wenig Einsatzkräfte, um die gesamte Stadt abzudecken. In der Innenstadt trafen Gegendemonstrant:innen auf Neonazis. Die Polizei versuchte die Kontrolle zurückzugewinnen. Eine französischsprachige Person wurde von zwei Polizist:innen zu Boden gedrückt und dann bewusstlos. Auf einem Video, das die Szene zeigt, sieht man auch, wie Polizeibeamte versuchen, das Filmen und die Berichterstattung zu stören. Der bewusstlose Mann wurde nach Greifswald ins Krankenhaus gebracht und ins künstliche Koma versetzt. Die Nachbesprechung mit den Behörden und der Polizei beschreibt Wittmer alles andere als positiv. Die Polizei beharrte darauf, nichts falsch gemacht zu haben. Der damalige CDU-Innenminister fragte hingegen, was denn ein Franzose auf einer Demo in Demmin zu suchen habe. In den darauffolgenden Jahren schwankten die Teilnehmer:innenzahlen auf beiden Seiten. 2017 habe die Polizei laut Wittmer dann wohl für den G20-Gipfel in Hamburg geübt. Über 900 Polizeibeamte mit Technik, Polizeihunden, Räumpanzern, Wasserwerfern. Demmin bleibt nazifrei! 2018 spielte die Punkband „Feine Sahne Fischfilet“ ein gratis Konzert. Es kamen über 1.000 Menschen nach Demmin. Der Naziaufmarsch war in jenem Jahr schon auf weit unter 300 geschrumpft. Man ging vom Konzept der Blockaden weg hin zu offenen Veranstaltungen, die zum Feiern einladen sollten. 2019 hüllte man den Naziaufzug in buntes Konfetti, mindestens 1.000 Menschen feierten in der ganzen Stadt. Heute ist die Stimmung auf der Friedensdemo fröhlich und ausgelassen. Trotz kleinerer Veranstaltung ist die Partystimmung geblieben. Vereinzelt werden immer mal wieder antifaschistische Sprechchöre angestimmt. Einige Male bleibt der Demozug stehen und es werden Reden gehalten und Gedichte vorgetragen. Zwischendurch klatschen die Teilnehmer:innen und rufen: „Nationalismus raus aus den Köpfen!“ Mittlerweile werden es immer mehr Polizist:innen, die den Demozug begleiten Während am Hafen nur etwa 50 Polizist:innen beim Start der Friedensdemo standen, werden es Richtung Innenstadt immer mehr. Es sind etwa 600 Polizeikräfte und zwei Hubschrauber im Einsatz. Auch Wasserwerfer stehen einsatzbereit. Die Straße zum August-Bebel-Platz ist bereits mit Sperrgittern und Polizeiautos abgeriegelt. Komplette Abschirmung der Neonazis An der Clara-Zetkin-Straße stehen über 30 Polizeiautos aneinandergereiht. Ein Polizist sagt uns, er rechne heute nicht mit Ausschreitungen. Am dahinterliegenden August-Bebel-Platz hat sich bereits eine Mahnwache der Gegendemo positioniert. Etwa 100 Meter hinter der Mahnwache liegt der Treffpunkt der Neonazis, wo sich diese ab 19 Uhr versammeln wollen. Die Friedensdemo zieht friedlich durch Demmin Viele Menschen, die hier teilnehmen, sind nicht aus Demmin. Sie kommen von überall aus Mecklenburg-Vorpommern. Zwei Student:innen erzählen uns, dass sie extra aus Greifswald angereist sind. Eine von den beiden fährt bereits zum zweiten Mal nach Demmin, der andere ist zum ersten Mal dabei. „Das letzte Mal hat es zeitlich nicht gepasst, aber heute bin ich da“, sagt er. Ein älterer Mann erzählt, dass er auch zum ersten Mal dabei sei. Er ist gerade erst von Stralsund nach Demmin gezogen und wusste zuvor nichts von dem jährlichen Neonazi-Aufmarsch hier. „Das ist meine erste Demo seit 35 Jahren!“ Eine Frau sagt, dass sie hier zum fünften Mal mitgeht. Sie ist Lehrerin und lebt nahe Demmin. Zwei Frauen erzählen: „Wir finden es wichtig, hier als Demminerin mitzugehen. Wir wollen Demmin nicht den Nazis überlassen, an keinem Tag.“ Die beiden gehen jedes Jahr auf die Gegendemo. Wir sprechen auch eine Frau an, die nur Englisch spricht. Sie stammt aus der Ukraine. Gerade ist sie bei Freund:innen zu Besuch, die in der Nähe von Demmin wohnen. Für sie ist der Aufzug der Nazis hier erschreckend, davon wusste sie zuvor nichts. Ende des Monats will sie wieder in die Ukraine zurück. Sie kümmert sich dort um Unterkünfte für Binnengeflüchtete. Solidarität mit Geflüchteten! Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine ist auch auf der Friedensdemo Thema. Das ist nicht ungewöhnlich. Die Veranstalter:innen der Demo in Demmin setzen sich schon seit Jahren für Geflüchtete ein. Ein Bündnis aus Demmin organisiert die Gegendemo Heinz Wittmer vom Aktionsbündnis 8. Mai Demmin Gegründet wurde das Aktionsbündnis 8. Mai Demmin 2009, seitdem engagiert es sich gegen den geschichtsrevisionistischen Aufmarsch. Heinz Wittmer zog 2008 in die Nähe von Demmin. Ein Jahr darauf erlebte er das erste Mal den Neonazi-Aufzug mit. Damals gab es noch wenig Gegendemo und keine Organisation dahinter. Gemeinsam mit anderen gründete er daraufhin das Aktionsbündnis. 2010 gab es die erste Aktion mit 100 Leuten gegen die Neonazis. 2011 waren es schon 300. Bis dahin haben Proteste im ländlichen Raum gegen Naziaktivitäten nicht stattgefunden. Es gab welche in Greifswald, in Rostock, aber nicht in Torgelow beispielsweise. Mit der Aktion 2011 und den 300 Menschen dahinter waren es endlich mehr als die Nazis, das hat ausgestrahlt. Daraufhin gründet sich der Ratschlag der Bündnisse MV. Seit 2013 gibt es auch eine landesweite Vernetzung. „2014 waren wir ja in allen Medien, da war es richtig groß. Da waren ein paar mehr Nazis da und auch mehr von uns. Heute sind ja fast mehr Polizisten als Nazis und unsere Leute da“, sagt Wittmer. Die Neonazis gehen Richtung Hafen Die Neonazis versammeln sich gegen 19 Uhr auf dem Parkplatz Am Stadion. Die Polizei zählt etwa 130 Menschen. Fast nur Männer marschieren mit. Ein Pärchen hat ein kleines Kind dabei. Sie schwenken ihre Flaggen. Über Lautsprecher auf einem weißen Bus, der vornwegfährt, spielen sie eine Trauerhymne. Mehrere Hundert Polizist:innen begleiten den Aufmarsch. Mahnwache gegen Neonazis Als die Neonazis bei der Mahnwache vorbeimarschieren, wird diese laut. Sie rufen: „Schwarz war die Nacht, weiß war der Schnee, von allen Seiten die Rote Armee“ und spielen den Song Celebrations. Sie klatschen und lachen. Die Neonazis reagieren so gut wie gar nicht auf den Gegenprotest. Dafür wirkt die Polizei jetzt etwas angespannt. Sie haben ihre Autos zur Abschottung der Mahnwache geparkt und achten penibel darauf, dass es keine Berührungspunkte zwischen den beiden Demos gibt. Alles ist voller Polizei Mittlerweile sind so viele Polizist:innen unterwegs, dass die Neonazis völlig untergehen. Denn je näher sie ihrem Ziel, dem Hafen, kommen, umso kleiner und enger werden die Straßen. Der Demonstrationszug ist weiträumig von den Gegendemonstrant:innen abgeschirmt. Kundgebung am Hafen Es ist 20:30 Uhr. Die Neonazis stellen sich in einem Kreis direkt an der Peene auf. Sven Skoda von der Partei „Die Rechte“ hält die Abschlussrede. Er nennt die Gegendemonstrant:innen „Minusmenschen“. Die Bundesrepublik gehöre „auf den Scheiterhaufen der Geschichte“. Bevor es mit der NPD noch nicht so bergab ging, waren regelmäßig Parteigrößen wie Udo Pastörs und Frank Franz vor Ort und haben die entscheidenden Reden gehalten. Bis auf Stefan Köster und Tino Müller sind heute aber keine relevanten Parteikader anwesend. Feuerwerk! Als Sven Skoda seine Rede hält, geht auf der anderen Uferseite ein Feuerwerk los. Wir stehen etwa 50 Meter vom Redner entfernt und verstehen nichts mehr. Der NDR berichtet, dass gegen den 29-jährigen Mann, der das Feuerwerk entzündet hat, wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Sprengstoff- und das Naturschutzgesetz ermittelt wird. An der Kaikante wird ein Blumenkranz abgestellt, ein kleiner Blumenstrauß landet im Wasser. Die andere Seite des Hafens Und so sieht es noch mal 100 Meter weiter aus: Die Leute der Friedensdemo haben sich auch wieder am Hafen versammelt. Obwohl wir näher an den Neonazis stehen, hören wir den Gegenprotest deutlich. An Trauerstimmung ist zwischen „Tic Tac Toe“ und „Irie Révoltés“ nicht zu denken. Die Polizei hat den Hafen gleich doppelt abgesperrt. Alles vorbei Die Neonazis stellen sich wieder in Formation auf und ziehen ab. Den Blumenkranz, der sonst in der Peene landet, nehmen sie wieder mit. Was bleibt, ist ein kleiner Strauß, der trostlos im Wasser treibt. Streng bewacht von drei Booten der Wasserschutzpolizei. Der Tag ist insgesamt friedlich und ruhig verlaufen.

Fotos: Ole Kracht MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!