Es ist ein Appell an die Akteure aus Politik und Gesellschaft: Für die psychotherapeutische Versorgung in Mecklenburg-Vorpommern – sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern und Jugendlichen – bestehe „akuter Handlungsbedarf“. Die Versorgung ist bedroht. In Greifswald gebe es bereits jetzt „ein dramatisches Versorgungsdefizit“. Dafür brauche es Lösungen, so die Initiative Gemeinsam für psychische Gesundheit. Therapieanfragen mehr als verdoppelt In der vergangenen Woche widmete die Initiative ihr allmonatlich stattfindendes Forum zu einem Abend der offenen Tür um. Es solle aufmerksam gemacht werden auf eine Situation, die sich in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert hat. Zahlen des Zentrums für Psychologische Psychotherapie (ZPP) der Universität Greifswald belegen, wie allein dort die Nachfrage nach psychologischer Behandlung gestiegen ist. Waren es 2018 noch 214 Therapieanfragen, hat sich deren Zahl mit 475 im Jahr 2022 mehr als verdoppelt. Im Januar 2023 wurden allein bereits 50 Anfragen gestellt. Das schlägt sich auch in der Zahl der Patient:innen nieder: Wurden 2018 noch insgesamt 442 Menschen im Zentrum behandelt, stieg die Zahl im vergangenen Jahr auf 754. Keine Aussage zur aktuellen Wartezeit möglich Daraus ergeben sich auch längere Wartezeiten. So erfasste das ZPP die Zeit zwischen einer Therapieanfrage und dem Erstkontakt in der Sprechstunde – was noch nicht den tatsächlichen Therapiebeginn darstellt. 2018 wurde eine durchschnittliche Wartezeit von 36,9 Tagen verzeichnet. Diese sank 2019 und 2020 auf 19,2 beziehungsweise 23,7 Tage, was in etwa drei bis vier Wochen entspricht. Ein gewaltiger Anstieg folgt im Jahr 2021: Hier mussten potenzielle Patient:innen durchschnittlich 56 Tage warten. Im vergangenen Jahr waren es noch 54,8 Tage. Für die Wartezeit zwischen einer Anfrage und dem tatsächlichen Beginn einer Therapie sieht sich das ZPP nicht in der Lage, aktuelle Zahlen vorzulegen, so Janine Wirkner, Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Greifswald. Der Trend gehe aber klar und ungebremst nach oben. Warteten Patient:innen im ersten Quartal 2020 noch vier Monate auf den Therapiebeginn, so waren es im vierten Quartal schon acht Monate. Für den 15. Oktober 2021 vermerkte das ZPP eine Wartezeit von zehn Monaten. Derzeit befinden sich 320 Patient:innen auf der Warteliste. Bedarfsplanung regelt die Zahl der Therapeut:innen Das ZPP musste bereits erste Konsequenzen aus der großen Nachfrage ziehen: „Aus Kapazitätsgründen“ pausiert das Zentrum seit dem 1. Februar bis voraussichtlich 31. März „die Therapieanfragen zunächst komplett“. Und dabei ist das ZPP eigentlich eine Weiterbildungseinrichtung und hat, etwa im Gegensatz zu niedergelassenen Psychotherapeut:innen, gar keinen Versorgungsauftrag. Sein Angebot steht also außerhalb der Bedarfsplanung zur Verfügung. Die Bedarfsplanung im Bundesland wird von der Kassenärztlichen Vereinigung MV (KVMV) verantwortet. Sie verwaltet demnach auch die Kassensitze für Psychotherapeut:innen. Das psychotherapeutische Angebot gehört zur allgemeinen fachärztlichen Versorgung. Der Bedarf wird deshalb auf Kreisebene – nicht zu verwechseln mit den Landkreisen – ermittelt. MV ist dafür in 13 Planungsbereiche eingeteilt – dazu gehören zum Beispiel die Hansestadt Rostock, die Kreise Bad Doberan, Parchim und Rügen oder die Regionen Stralsund/Nordvorpommern und Schwerin/Wismar/Nordwestmecklenburg. Für jeden Planungsbereich ist eine sogenannte Sollzahl vorgeschrieben. Sprich, so viele Therapeut:innen sind für die Versorgung der dortigen Bevölkerung notwendig. Oder andersherum: Für jeden Planungsbereich legt die KVMV fest, wie viele Einwohner:innen auf eine:n Therapeut:in kommen sollen. Um die Versorgungslage vor Ort einschätzen zu können, wird dem Soll- der Istzustand gegenübergestellt – das Ergebnis ist der Versorgungsgrad. Generell gilt: Ist die Zahl der Einwohner:innen je Therapeut:in niedrig, so zeigt dies ein hohes Versorgungsniveau an – und umgekehrt. Tatsächlicher Bedarf nicht abgebildet Für die 13 Planungsbereiche in MV sah der Landesausschuss der Ärzte und Krankenkassen im November 2022 überall eine der Bedarfsplanung entsprechende Versorgung. Abseits der Hansestadt Rostock waren alle Bereiche für die Neuzulassung von Psychotherapeut:innen gesperrt, es dürfen sich dort also keine neuen Therapeut:innen ansiedeln. Für die Region Greifswald/Ostvorpommern wurde sogar eine „Überversorgung“ festgestellt. Und da liegt der Knackpunkt, auch aus Sicht der Expert:innen am ZPP. Die Bedarfsplanung und die dafür notwendige Berechnung bilde nicht mehr annähernd den tatsächlichen Bedarf ab. Dies gelte gerade außerhalb von großen Städten, im ländlichen Raum. Die Idee, dass die Städte die Versorgung der umliegenden Region übernehmen, funktioniert nicht immer. Und auch für die Städte selbst zeigt sich – siehe Greifswald –, dass das System an seine Grenzen stößt. Das gilt nicht nur im Erwachsenenbereich. Für die Kinder- und Jugendpsychotherapie gibt es laut Sabine Ahrens-Eipper, Vertretungsprofessorin am Lehrstuhl für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie und -psychotherapie und Vorständin der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer, derzeit in Greifswald lediglich zwei Kassensitze. Und das „für die Versorgung von 9.000 Kindern und Jugendlichen“. Offiziell gelte die Stadt damit als „ausreichend versorgt“. Das sei „realitätsfern“, so Ahrens-Eipper. Denn auch im Kinder- und Jugendbereich steige der Therapiebedarf deutlich, gerade seit Beginn der Corona-Pandemie. Darauf deuten auch erste Studienergebnisse hin, die die Wartezeit auf Erstgespräche und Therapieplätze für Kinder und Jugendliche deutschlandweit darlegen. Demnach warteten die Betroffenen vor der Pandemie im Mittel 5,8 Wochen auf ein Erstgespräch. Ende 2020 bis Mitte 2021 waren es dann schon 10,2 Wochen. Ähnliches bei den Therapieplätzen: War 2019 noch eine durchschnittliche Wartezeit von 14,4 Wochen nötig, so waren es anderthalb bis zwei Jahre später 25,3 Wochen. Viele Kinder und Jugendliche warten also monatelang auf eine Behandlung. „Was bedeutet das in einem Kinderleben?“, fragt Ahrens-Eipper. KVMV äußert sich nicht Zur Problematik der Bedarfsplanung für Psychotherapeut:innen in Mecklenburg-Vorpommern hat KATAPULT MV mehrfach Kontakt zur zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung gesucht. Man könne die Fragen innerhalb der gesetzten Frist leider nicht beantworten, so die Rückmeldung. Die KVMV werde allerdings unaufgefordert auf die Anfrage zurückkommen. Trotz Nachfrage gab es auch eine Woche nach Fristablauf noch keine Rückmeldung. Das Gesundheitsministerium wiederum bestätigte auf Nachfrage die Kritik an der Bedarfsplanung. Es handele sich bei den darin vorgegebenen Zahlen nicht um „wissenschaftlich ermittelte Zahlen“, so ein Sprecher. Deshalb bestehe das Risiko, „dass sie notwendige Behandlungskapazitäten nicht richtig darstellen“. Zur Versorgungslage in Greifswald verweist das Ministerium darauf, dass der zuständige Zulassungsausschuss „über eine Sonderbedarfszulassung nachdenken“ könnte. Dafür müsse jedoch zuerst genauer festgestellt werden, „welche Behandlungsbedarfe es tatsächlich gibt“. Dafür seien die Kassenärztlichen Vereinigung und die Krankenkassen zuständig. „Belastungsgrenze erreicht“ Die Psychotherapeut:innen in MV können dem gestiegenen Bedarf nicht mehr ausreichend nachkommen. „Sie haben ihre Belastungsgrenze erreicht“, urteilt Ahrens-Eipper. Dabei gebe es hinsichtlich des möglichen Nachwuchses aus ihrer Sicht kein Problem. Dass es so wenige Psychotherapeut:innen gibt, liege eben am Schlüssel. Es seien also Neuberechnungen nötig: „Ich sehe akuten Handlungsbedarf!“ Es gibt aber noch ein weiteres Problem, berichtet Jens Langosch, ärztlicher Direktor des evangelischen Krankenhauses Bethanien in Greifswald, eines Fachkrankenhauses für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. So sei die Zahl der niedergelassenen Fachärzt:innen in den letzten Jahren um ein Drittel zurückgegangen. Von vormals sechs gibt es in Greifswald nun nur noch vier, berichtet er. Das liege daran, dass die freien Kassensitze in diesem Bereich nicht nur von Mediziner:innen aus dem Bereich Psychotherapie und Psychiatrie in Anspruch genommen werden dürfen, sondern auch Neurolog:innen dafür infrage kommen. Diese „Umwidmung nervenärztlicher Sitze muss gestoppt werden“, findet der Arzt. Es brauche zudem mehr Psychiater:innen in der Niederlassung und auch eine Vernetzung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, um etwa die Kapazitäten, die Kliniken bieten, entsprechend nutzen zu können. Bessere Vernetzung und mehr Stellen nötig Denn, so bestätigt es auch Deborah Janowitz, Chefärztin für Erwachsenenpsychiatrie und Psychosomatische Medizin am Hanseklinikum Stralsund, gerade in den Kliniken seien manchmal durchaus noch Kapazitäten frei, Patient:innen stationär aufzunehmen und so ebenfalls zu einer Entlastung der ambulanten Versorgung beizutragen. An den Kliniken, also in der stationären Versorgung, sei die Situation „nicht ganz so dramatisch“, so Janowitz. Umso wichtiger eine Vernetzung. Dem stimmen auch die Kolleg:innen vom ZPP zu. Dennoch brauche es zusätzliche Stellen, findet Eva-Lotta Brakemeier, Lehrstuhlinhaberin für Klinische Psychologie und Psychotherapie und Direktorin des ZPP. Und damit steht sie nicht allein. So forderte etwa die Bundespsychotherapeutenkammer deutschlandweit 1.600 zusätzliche Sitze, besonders außerhalb von Ballungsgebieten. Hinzu komme, dass viele Kolleg:innen nur reduziert arbeiteten, berichtet Brakemeier. Sprich: Ein Kassensitz bedeutet nicht zwangsläufig, dass eine volle Stelle dahintersteht. Das verringere das Problem nicht gerade. MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!