Während der grauen Montagmorgensitzungen brachte er mit seinem Thema die Kolleg:- innen immer zum Lachen. „Kackasterol“ hatte die Forschungsgruppe das Molekül getauft, das Jérôme Kaiser untersuchte. Mit leicht französischem Akzent sagt der Sedimentologe des Leibniz-Instituts für Ostseeforschung in Warnemünde (IOW) rückblickend: „Es ist einfach ein lustiges Thema.“ Der gebürtige Schweizer sieht sich Sedimentschichten aus der Ostsee an und untersucht sie auf ein ganz besonderes Molekül – das Kackasterol, oder wie es in Wirklichkeit heißt: Coprostanol, ein sogenanntes Fäkallipid. Findet er es in den Sedimentschichten, haben zu der Zeit, als die Ablagerungen entstanden, Menschen oder Tiere gelebt. Denn Coprostanol ist ein Abbauprodukt des Cholesterins und wird mit dem Kot ausgeschieden. Da sich das Molekül in Wasser nicht löst und nur sehr langsam abgebaut wird, kann man es noch Jahrtausende später nachweisen. Kaiser hofft, mit diesem molekularen Fußabdruck zeigen zu können, wann und wo Menschen gelebt haben. In die Vergangenheit schauen Natürlich gab es die Freunde, die ihn fragten, was er so spannend daran fände, „Scheiße“ zu untersuchen. Aber auch welche, die das sehr spannend fanden, erinnert sich der Schweizer. Immerhin forschte er an einer Methode, mit der sich in die Vergangenheit blicken lässt. In seiner aktuellen Studie legt Jérôme Kaiser zusammen mit seinem Kollegen Mathias Lerch eine Bodenprobe neben Bevölkerungszahlen von 1860 bis 2014 und belegt: Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Menge der Coprostanol-Moleküle im Sediment und der Menge der Menschen, die zur Zeit der Ablagerung lebten. Und dafür hat sich der Forscher gerade einmal die obersten 60 Zentimeter Sedimentschicht angesehen. Begeistert erklärt er, nähme man noch tiefere Bodenproben, ließe sich damit noch viel weiter in die Zeit zurückreisen. „Man könnte sich zum Beispiel die Entwicklung der Bevölkerung im Mittelalter ansehen.“ Noch muss Kaiser jedoch herausfinden, ob sich das Kackasterol auch in tieferen Sedimenten mit der der Bevölkerungszahl deckt. Deshalb hat sein Forschungsteam zwei neue Experimente geplant. Es will zwei tiefere Sedimentproben nehmen – diesmal aus drei bis vier Metern –, in der Hoffnung, dort das Molekül zu finden. „Aber ob das klappt? Mal gucken“, sagt der Forscher. In einer norwegischen Veröffentlichung hatte Kaiser zum ersten Mal von der Methode gehört. „Fäkallipide sind ein Zeichen, dass Menschen in der Nähe sind“, erklärt er. Damals hatte er einen Freund aus Rostock gefragt, der so wie er aus der Schweiz kam, ob sie sich nicht vielleicht für ein spannendes Projekt zusammentun wollten. Der Freund war Demograf am Max-Planck-Institut. Kaisers Idee: Er liefert die Sedimentschichten, sein Freund Mathias Lerch die Bevölkerungszahlen aus dem Ostseeraum. „Jetzt haben wir eine gemeinsame Publikation. Das ist schon schön.“ Eine Forschungsexpedition Um an die Sedimentschichten zu kommen, war 2017 das gut 95 Meter lange Forschungsschiff „Maria S. Merian“ des IOW die Ostsee hinaufgefahren. Zwischen Schweden und Estland, wo sich die Sedimente in einem Tiefbecken ohne viel Strömung ungestört ablagern, nahmen die Forscher mit einer Art Rohr die 60 Zentimeter tiefen Bodenproben. Kaiser erzählt begeistert, wie man von oben bis unten die unterschiedlichen Schichten schon mit bloßem Auge unterscheiden konnte. Aber die Arbeit auf einem solchen Forschungsschiff ist keine leichte. Kaiser sagt, es seien „große Tage“, die sieben Uhr morgens beginnen und erst gegen Abend enden. Und das für drei Wochen auf einem schwankenden Schiff. „In der Ostsee sind die Wellen böse. Man fühlt sich wie in einer kleinen Walnussschale.“ Doch schwingt in seinen Erzählungen auch die Liebe zur Forschungsarbeit mit. Neben den Expeditionen in den Ostseeraum verschlägt es ihn oft bis ans andere Ende der Welt. Die südchilenischen Fjorde etwa seien der Ostsee ähnlich, erklärt er. Nur hat der Mensch am äußersten Zipfel Südamerikas die Natur bisher wenig beeinflusst. Der Forscher hofft, die beiden Systeme – das unberührte Chile und die stark vom Menschen beeinflusste Ostsee – miteinander vergleichen zu können, um die Folgen menschlichen Wirkens auf geologische und atmosphärische Prozesse aufzuzeigen. Der Einfluss des Menschen Denn was seine Sedimentproben ebenfalls gezeigt haben: Seit dem großen Bevölkerungszuwachs in den baltischen Staaten um 1950 geht es der Ostsee schlecht. Zum einen wegen unzureichender Kläranlagen, zum anderen aufgrund von Düngemittel- und Gülleeinträgen aus der Landwirtschaft. Dieser Zusammenhang wurde deutlich, als Kaiser 2018 auch Bohrkerne aus in die Ostsee mündenden Flüssen genauer untersuchte. Einer davon, in dessen unmittelbarer Nähe besonders intensiv Landwirtschaft betrieben wird, ist die Weichsel in Polen. Kaiser fand in ihren Flusssedimenten hohe Werte von Coprostanol – vermutlich durch einen hohen Gülleeintrag. Das Problem: Gelangen übermäßig viele Nährstoffe ins Meer, verstärken sie das Algenwachstum in der Ostsee. Nach dem Absterben werden sie unter Sauerstoffverbrauch abgebaut. Je mehr Algen absterben, desto mehr Sauerstoff wird verbraucht. Deshalb führt Überdüngung zu regelrechten sauerstofffreien Zonen am Meeresgrund, sogenannte Todeszonen, in denen kein Überleben möglich ist. Jérôme Kaiser meint dazu: „Es wird schwierig sein, das zu verbessern.“ Einerseits müssten Gülleeintrag und Düngung in der Landwirtschaft reduziert werden, andererseits sei der Klimawandel nicht zu unterschätzen. Steigen die Temperaturen, nimmt die ohnehin sauerstoffarme Ostsee noch weniger Sauerstoff auf. Kaisers Forschung an den Kackasterolen hilft also nicht nur dabei, in die Vergangenheit zu schauen, sondern auch, das aktuelle Wirken des Menschen zu beobachten. So nutze die sogenannte Helsinki-Kommission unterschiedliche Indikatoren, um den Zustand der Ostsee zu bewerten. Neben der Sichttiefe, dem Nährstoffeintrag und auch dem Sauerstoffgehalt könnte man bei Untersuchungen in Zukunft zusätzlich die Sedimentschichten einbeziehen. Kommt das Molekül in den obersten Sedimentschichten vor, wird noch immer zu viel Abwasser ins Meer getragen – teils durch unzureichende Kläranlagen, wie in Polen oder Russland, teils durch Gülleeintrag aus der Landwirtschaft, wie in Deutschland. Dieser Text erschien in Ausgabe 5. MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!