Die Sammlungen aus Nazi- und DDR-Zeiten sind eingelagert in Depots in Stralsund und Mukran. Sie umfassen 30 originalgetreu eingerichtete Räume aus Kasernen der Nationalen Volksarmee (NVA). Darunter befindet sich ein Kompanieflur mit Bibliothek, Bekleidungs- und Ausrüstungszimmer, Küche, Soldatenstube und Stabszimmer. Ausstellungsstücke und Dokumente zur Geschichte Proras während des Nationalsozialismus füllen zehn weitere Räume. Ende März laufen die Mietverträge für die Einlagerung aus. Der private Eigentümer möchte die Sammlungen veräußern, doch es fehlt ein Käufer. Das Land Mecklenburg-Vorpommern bittet unter Federführung der Landeszentrale für politische Bildung um ein Gespräch mit dem Eigentümer, doch noch gibt es keine Einigung. Aktuell steht ein Kaufpreis von 120.000 Euro im Raum. Um die Bedeutung der Sammlungen zu verstehen, ist ein Blick in die Vergangenheit notwendig. In Prora, an der sanft geschwungenen Ostküste Rügens, liegt der Größenwahn der Nazis ebenso versteckt wie die größte deutsche Kaserne im Kalten Krieg. Die Geschichte des Ortes ist vielschichtig. Wie viel darf, wie viel muss davon sichtbar bleiben? Prora: Vom Nazi-Bad zum Sperrgebiet Der „Koloss von Prora“ ist besonders eindrucksvoll aus der Vogelperspektive. Dieser gewaltige Gebäudekomplex wurde zwischen 1936 und 1939 für die nationalsozialistische Massenorganisation „Kraft durch Freude“ (KdF) gebaut. Über 4,5 Kilometer erstreckt sich die Anlage in unmittelbarer Nähe zur Bucht Prorer Wiek. Hier sollten einmal 20.000 Urlauber nationalsozialistischen Badespaß erleben. Obwohl das Seebad aufgrund des Kriegsausbruchs nie als solches genutzt wurde, gilt es bis heute als eine der größten baulichen Hinterlassenschaften jener Zeit. Nach 1945 wurde die Anlage umgebaut. Statt des geplanten Ferienorts begann ab 1952 der Ausbau zum Kasernenkomplex. Sowohl die Sowjetarmee als auch die Nationale Volksarmee der DDR waren dort stationiert. Die Anlage wurde zum militärischen Sicherheitsbereich, der für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich war. In den 80er-Jahren waren dann Tausende Bausoldaten dort einquartiert, die den Kriegsdienst an der Waffe verweigerten und dafür beim Bau des Fährhafens Mukran eingesetzt wurden. Nach 1990 übernahm der Bund den Gebäudekomplex in Prora, dessen Geschossfläche von 264.000 Quadratmetern in etwa der Fläche des Schweriner Schlossgartens entspricht. Ab dem Jahr 2000 wurden vier der fünf noch bestehenden Blöcke an Investoren verkauft. Nach und nach entstanden Eigentumswohnungen, Hotels und gastronomische Einrichtungen. Noch immer wird gebaut. Heute ist lediglich eine Liegehalle im Block V in öffentlicher Hand. Ein geplantes Bildungs- und Dokumentationszentrum soll hier entstehen. Etwa 13,7 Millionen Euro werden für die Sanierung des denkmalgeschützten Baus veranschlagt. Stockende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Die Vereine Prora-Zentrum und Dokumentationszentrum Prora, die eigenständig historisch-politische Bildungsarbeit leisten, gründeten 2017 den Dachverein Bildungs- und Dokumentationszentrum Prora. Gemeinsam wollen sie den Besucher:innen die Geschichte des Ortes präsentieren und einen Lernort für Schulklassen entstehen lassen. Doch noch ist das alles Theorie. Wann das Bildungs- und Dokumentationszentrum eröffnet werde, wisse aktuell niemand, sagt Dennis Grunendahl, Leiter des Prora-Zentrums. Es könne noch ein paar Jahre dauern. Was bedeutet das für die eingangs erwähnten NVA- und KdF-Sammlungen? „Vom Prora-Zentrum haben wir vor einiger Zeit angefragt, ob Ausstellungsstücke aufgekauft werden können“, sagt Grunendahl, „aber das war nicht realistisch, weil die Sammlung nur als Ganzes zu erwerben war, was wir nicht leisten konnten.“ Im Augenblick sei alles in der Schwebe. Der Historiker Stefan Stadtherr Wolter setzt sich seit rund 15 Jahren mit der Erinnerungskultur in Prora auseinander und dokumentiert seine Arbeit mit der Initiative „DenkmalProra“ online. „Der Erhalt der Sammlung ist sehr wichtig“, mahnt er. Wenn das Land das Angebot nicht annehme, werde die Sammlung zerstört. Das müsse vor allem deshalb verhindert werden, weil die DDR-Geschichte Proras so gut wie gar nicht wissenschaftlich aufgearbeitet sei. „Da sind wir noch in der Stunde Null“, erklärt Stadtherr Wolter. Dabei verweist er auch auf die Verantwortung der beiden aktiven Vereine Prora-Zentrum und Dokumentationszentrum Prora. Während das Dokumentationszentrum Prora seit seiner Gründung im Jahr 2000 ausschließlich die KdF-Vergangenheit Proras beleuchtet, setzt sich das Prora-Zentrum auch mit der militärischen Nutzung des Ortes in der DDR auseinander. „Unser Verein hat sich auf die Fahne geschrieben, zur Geschichte Proras zu arbeiten, das schließt sowohl die NS- als auch die DDR-Geschichte ein“, erklärt Grunendahl die Aufgabe des Prora-Zentrums, das seit etwa 20 Jahren vor Ort aktiv ist. Sichtbar war der Verein jedoch nicht immer. „Es gab eine Phase, wo wir keine eigenen Räumlichkeiten hatten“, räumt Grunendahl ein. „Da haben wir nur Bildungsarbeit mit Schülerinnen und Schülern gemacht.“ Lückenhafter Umgang mit Geschichte Historiker Stadtherr Wolter, der zwischen 1986 und 1988 selbst als Bausoldat in Prora eingesetzt war, ärgert sich über den Umgang mit der Ortsgeschichte in den zurückliegenden Jahrzehnten. „Prora wurde nach der politischen Wende einseitig und falsch interpretiert“, sagt er. Der Fokus habe viel zu stark auf dem ehemaligen KdF-Bad gelegen, dass es in dieser Form nie gab. Stattdessen wurde daraus die „größte deutsche Kaserne im Kalten Krieg“, in der Menschen zum Teil zwangsverpflichtet im Einsatz gewesen seien. Die Kritik Stadtherr Wolters an der Darstellung des Ortes kann Grunendahl nachvollziehen. „Die KdF-Historie ist das, was bei den Leuten medial ankommt.“ Viele Menschen mit altem bundesrepublikanischen Hintergrund nähmen Prora überwiegend als NS-Schauplatz wahr, stellt der Leiter des Prora-Zentrums fest. „Allerdings besuchen uns auch viele Menschen, die DDR-Vergangenheit in ihrer Biografie mitbringen und Prora auch als Militärstandort kennen.“ Seit vier Jahren befinden sich die Ausstellungen des Prora-Zentrums in einem ehemaligen Kontrolldurchlass aus NVA-Zeiten. Erbaut wurde er von Bausoldaten. Auch Arrestzellen befinden sich hier. „Die Geschichte ist total präsent“, macht Grunendahl deutlich. Doch in den Jahren nach der Wiedervereinigung gab es für die DDR-Geschichte in Prora keinen Raum. Grunendahl nennt es „Überformung“. Die Reste der DDR-Geschichte wurden überbaut und seien nicht mehr wichtig gewesen, beschreibt er. In dieser Liegehalle mit vernagelten Fenstern soll das Bildungs- und Dokumentationszentrum Prora einziehen. (Foto: M. Hübbe) „Man hat vor 30 Jahren den Denkmalschutz komplett auf das KdF-Bad bezogen, und das ist ahistorisch und falsch“, kritisiert Stadtherr Wolter. „Man braucht ja heute schon Beweise, um zu zeigen, dass Prora zu DDR-Zeiten ein grauer, finsterer Ort gewesen ist.“ Auch Grunendahl bestätigt, dass militärisch genutzte Objekte aus NVA-Zeiten zu spät unter Denkmalschutz gestellt wurden. Vom damaligen Bild Proras sei deshalb nicht mehr viel übrig. Die zum Verkauf stehende private Sammlung könnte dazu beitragen, einen Teil der Vergangenheit erneut sichtbar zu machen. Stefan Stadtherr Wolter ist überzeugt, dass das geplante Bildungs- und Dokumentationszentrum dafür der geeignete Ort sei. Allerdings ist nicht absehbar, wann das neue Zentrum eröffnen wird. Das Gebäude, die ehemalige Liegehalle, ist eine Ruine. Die Natur habe sich bereits alles wieder zurückgeholt, meint Grunendahl. „Was überhaupt möglich sein wird, wissen wir noch gar nicht. Wir kennen die Raumsituation nicht.“ Aktuell gibt es nicht einmal ein statisches Gutachten. Nun kommt es auf die Verhandlungen des Landes Mecklenburg-Vorpommern mit dem Eigentümer der historischen NVA- und KdF-Sammlungen an. Dabei sollte nicht nur geklärt werden, ob die Sammlungen in die öffentliche Hand übergehen, sondern auch, ob und wo sie auf unbestimmte Zeit eingelagert werden können. Das Bildungs- und Dokumentationszentrum Prora steht dafür noch nicht zur Verfügung. MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!