Es braucht ein Fahrrad, genug Stauraum, eine Stirnlampe und Dunkelheit, um zu containern, also Lebensmittel aus der Tonne zu retten. „Einweghandschuhe wären noch gut, aber das mach ich ohne“, sagt Ben, ein – wie er sagt – Lebensmittelretter aus Greifswald. Extra Handschuhe zu kaufen, um damit containern zu gehen – darin sehe er keinen Sinn. Es ist Dienstagabend und bereits dunkel. In voller Montur macht er sich auf den Weg, um an insgesamt drei Stationen Lebensmittel aus der Tonne zu retten. Manche bieten mehr, manche weniger, erzählt er. Gleich am Anfang findet Ben Bananen. An der letzten Station werden vor allem Backwaren von ihm gerettet. Nachdem er mühelos in einen XXXL-Container gesprungen ist, der größentechnisch einem Pool für Erwachsene gleicht, stellt Ben fest: „Boah, es ist echt pervers, auf so viel Brot zu stehen“. Er läuft über die Backwaren, um an das heranzukommen, was in seinen Jutebeutel soll. Ben zeigt auf den Containerboden und erzählt, dass der eigentlich nie zu sehen sei. Mindestens einmal im Monat wird also ein ganzer aufblasbarer Pool an Backwaren weggeworfen. Deshalb rette der Student seit mittlerweile drei Jahren Lebensmittel. Angefangen hat er mit Foodsharing, einer Plattform, auf der Unternehmen, Gastronom:innen, Supermärkte und Privatpersonen überschüssige Lebensmittel anbieten können. Einkaufen geht der 28-Jährige nicht mehr. Auch bei seinem ersten Containern habe er Brot und Brötchen gerettet. „Ich war wie erschlagen“, berichtet der Greifswalder, „mit dem, was im Container lag, hätten wir Tausende Menschen versorgen können. Es ist wirklich krank.“ Neben Backwaren gehören Obst und Gemüse zu den Lebensmitteln, die Ben am häufigsten findet. Aber wie reagiert der Einzelhandel auf Personen, die containern? Wegen Containerns vor Gericht Obwohl der Einzelhandel viele Lebensmittel wegwirft, ist es nicht erlaubt, sie aus der Mülltonne zu holen. Wer es trotzdem tut, begeht Diebstahl. Außerdem stehen die Tonnen und Container immer auf dem Grundstück des Supermarkts. Unbefugtes Betreten gilt demnach als Hausfriedensbruch. Werden Zäune, Schlösser oder Ähnliches beschädigt, um an Mülltonnen zu kommen, wird von Sachbeschädigung gesprochen. Für Ben spiele das Thema Strafbarkeit beim Containern nicht so eine große Rolle, erzählt er. „Wenn ich ein Gelände betrete, ist schon ein Nervenkitzel da, weil ich merke: Eigentlich bin ich nicht befugt, hier zu sein. Aber wenn ich dann die Tonne aufmache, sehe ich, dass da Bananen vom anderen Ende der Welt drin liegen, die noch essbar sind, und dann ist es mir auch egal, ob da ein Schild ist oder nicht.“ Erwischt wurde der Greifswalder schon öfter, vor allem von Mitarbeiter:innen, bisher ohne weitere Konsequenzen. Aber nicht jeder Supermarkt duldet Menschen, die containern. Manche rufen die Polizei und erstatten Anzeige. So muss sich gerade eine 33-Jährige wegen illegalen Containerns vor dem Greifswalder Amtsgericht verantworten. Ein Supermarktbesitzer aus Greifswald wirft Salome K. Hausfriedensbruch vor. Sie soll im Juli 2021 in den späten Abendstunden vor einem Supermarkt in der Hansestadt nach Pfandflaschen gesucht und dabei unbefugt ein Privatgrundstück betreten haben, so der Vorwurf. Im gleichen Zeitraum wurde sie von der Polizei kontrolliert, wie K. nach der letzten Verhandlung selbst erklärte. Die Polizei habe einen welken Kopfsalat und braune Bananen in ihrem Rucksack gefunden. Da bei der letzten Verhandlung kein Zeuge auftauchte, wird das Verfahren am 10. Mai fortgesetzt. Insgesamt sollen zwei Zeugen aussagen. Dazu gehört unter anderem eine Kassiererin des Supermarkts. Grüne und FDP wollen Entkriminalisierung Die Verhandlungen vor dem Greifswalder Amtsgericht wurden im November von zahlreichen Demonstrant:innen begleitet. Ihre Forderung: Containern entkriminalisieren. Das diskutieren auf Bundesebene zurzeit Justizminister Marco Buschmann (FDP) und Landwirtschaftsminister Cem Özdemir von den Grünen. Sie setzen sich dafür ein, dass Menschen, die Lebensmittel aus der Tonne retten, nicht mehr bestraft werden. Die Angeklagte Salome K. könnte von einer möglichen Gesetzesänderung profitieren. Unabhängig davon könne die Staatsanwaltschaft das Verfahren bereits jetzt einstellen, heißt es aus dem Landesjustizministerium. Allerdings nur dann, wenn die Schuld der Täterin als gering anzusehen ist, kein öffentliches Interesse an der Verfolgung bestehe oder die Angeklagte nicht schon zuvor verurteilt wurde. Nachdem Salome K. wegen illegalen Containerns bereits zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, reichte sie Berufung ein. Deshalb steht fest, dass der Prozess weitergeführt wird. Mit der Gesetzesinitiative sollen dann nur noch Personen bestraft werden, die beim Containern Tore, Schlösser oder Zäune beschädigen, also Sachbeschädigung oder schweren Hausfriedensbruch begehen. Damit die Initiative der Bundesminister umgesetzt werden kann, müssen allerdings die Justizminister:innen aller Bundesländer den Vorschlag unterstützen. Bereits 2019 ist der Versuch schon einmal gescheitert. Eine Gesetzesänderung soll auf der nächsten Justizminister:innenkonferenz Ende Mai diskutiert werden. Für MVs Justizministerin Jacqueline Bernhardt (Die Linke) geht der Vorschlag in die richtige Richtung: „Für mich bleibt wichtig, Containern unter gewissen Voraussetzungen nicht mehr unter Strafe zu stellen. Das werden wir in der kommenden Zeit bundesweit zu diskutieren haben“, sagt sie gegenüber KATAPULT MV. Es müsse weiterhin geprüft werden, ob eine Änderung der Richtlinien für das Straf- und das Bußgeldverfahren ein geeignetes Instrument sei. Containern ist ein Lebensstil Während sich manche vermutlich über entkriminalisiertes Containern freuen, hält Salome K. trotz Anklage wenig von der Bundesinitiative. „Ich glaube, eine Gesetzesänderung würde bei mir und im Allgemeinen nichts ändern“, sagt die 33-Jährige. In der Container-Community gebe es sowieso schon den Kodex, an Tonnen und Zäunen nichts kaputtzumachen und alles so zu hinterlassen, wie es vorgefunden wurde. Durch die Gesetzesinitiative habe man lediglich eine Scheindebatte angestoßen. Generell werde Containern selten an Gerichten verhandelt, stellt die Angeklagte fest. Auch am Amtsgericht Greifswald handele es sich um das erste Verfahren dieser Art, berichtet Direktor Jörg Dräger. Eine Umfrage der Generalstaatsanwaltschaft Stralsund habe ergeben, dass in Mecklenburg-Vorpommern nur ganz vereinzelt Verfahren zu Containern in Erinnerung sind. Handlungsbedarf sieht Salome K. woanders: „Wir haben ein Problem der Überproduktion und das wird sich nicht durch mildere Strafen beim Containern ändern.“ Eine Debatte allein um den Gesetzesentwurf sei unzureichend. Es brauche eine gesellschaftliche Veränderung, die „dem Weiter-so der industrialisierten Lebensmittelproduktion einen Riegel vorschiebt.“ Gemeinsam als Gesellschaft müsse man überlegen, wie man es schaffe, dass weniger weggeschmissen wird. Dazu gehört für die Greifswalderin, wieder eine Identifikation mit der Herkunft von Lebensmitteln zu finden. Eine Lösung liege etwa im Wandel von hoch verarbeiteten Produkten hin zu regionalen und saisonalen Lebensmitteln. „Dann passiert es auch nicht, dass eine Palette Erdbeeren von irgendwo aus der Welt aus der Kühlkette fällt und übrig ist.“ Bis dahin möchte die 33-Jährige gemeinsam mit anderen Aktivist:innen durch Aktionstage und Container-Frühstücke auf das Problem der Überproduktion aufmerksam machen. In einer Familie aufgewachsen, die viel Wert auf Upcycling lege, spielt Containern bei Salome K. schon ihr ganzes Leben eine wichtige Rolle. „Es ist für mich nicht nur ein Trend, der aus den USA kommt, sondern ein Lebensstil.“ Gemeinnützige Organisation erschwert Containern Im Jahr 2020 landeten in Deutschland elf Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll. Über die Hälfte davon wäre vermeidbar gewesen, heißt es in einer Studie der Umweltschutzorganisation WWF. Während private Haushalte mit Abstand am meisten Müll produzieren, gehen auf den Handel gerade einmal sieben Prozent der jährlichen Lebensmittelabfälle zurück. Supermärkte sind also nicht die Hauptakteure der enormen Lebensmittelverschwendung. Das weiß auch Ben aus Greifswald, der regelmäßig versucht, noch Essbares aus den Tonnen zu retten. Auch die privaten Haushalte würden eine Verantwortung tragen: „Wenn zehn Äpfel im Geschäft vor dir liegen: Nimmst du den mit der Druckstelle? Oder kaufst du eine Packung Tomaten, wo bereits eine schimmlig ist?“ Es sei ein großer Fortschritt, dass viele Supermärkte überschüssige Nahrungsmittel an gemeinnützige Organisationen wie die Tafel abgeben. „Aber auch dort gehen wir containern, weil einfach zu viele Lebensmittel übrig sind“, erzählt der 28-Jährige. Ausgerechnet die Tafel erschwere es den Lebensmittelrettern aber immer wieder, noch Genießbares aus der Tonne zu holen. Über genießbare Nahrungsmittel würden aufgestochene Joghurts gekippt, Aschenbecher entleert oder Eier verteilt. „Wir verstehen, dass es logistisch eine Herausforderung ist, nichts wegzuwerfen, aber es ist schade, wenn man es als gemeinnützige Organisation den Leuten erschwert, die eigentlich auch etwas Gutes tun wollen.“ Die Greifswalder Tafel wollte sich auf Nachfrage dazu nicht äußern. Mittlerweile haben sich in einer Telegram-Gruppe fast 900 Personen aus Greifswald zusammengefunden, die Interesse am Containern haben. Circa 100 Personen könne man als aktiv bezeichnen. Hin und wieder werden sogar geführte Container-Touren durch Greifswald angeboten, damit sich auch die neuen Leute vernetzen und organisieren können, erzählt Ben. Mecklenburg-Vorpommern ist Nachzügler bei politischen Maßnahmen Um auf lange Sicht eine Lösung gegen die Lebensmittelverschwendung zu finden, bedarf es aber vor allem politischer Maßnahmen. Auf internationaler und europäischer Ebene gibt es sie bereits. So haben die Vereinten Nationen Nachhaltigkeitsziele verabschiedet, die auch Deutschland verpflichtet, bis 2030 seine Lebensmittelabfälle pro Kopf um die Hälfte zu reduzieren. Um das zu erreichen, bräuchte es auf Bundes- und Landesebene konkrete Daten sowie daraus abgeleitete Maßnahmenpläne zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen, betont die Studie des WWF. Während der Bund bereits genau weiß, wie viel Nahrung bei den einzelnen Stationen in der Wertschöpfungskette, im Einzelhandel und bei den Verbrauchern verlorengehen, fehlt es bei manchen Bundesländern noch an der Datengrundlage für die Umsetzung von Vermeidungsstrategien. Dazu gehört neben Hamburg, Bremen, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen auch Mecklenburg-Vorpommern. Als „Nachzügler“, wie das Bundesland in der WWF-Studie eingestuft wird, habe MV bislang kaum Aktivitäten gezeigt, um die Lebensmittelverschwendung einzudämmen. Seit 2012 würde sich MV zwar politisch mit dem Problem beschäftigen, allerdings gebe es auf Landesebene keinen Aktionsplan, der diesem entgegenwirke. Die Landesregierung betone dahingehend, dass sie „den von der Bundesregierung eingeleiteten Strategieprozess zur Entwicklung einer Handlungs- und Forschungsagenda zur Reduzierung von Lebensmittelverlusten“ unterstütze. Im aktuellen Koalitionsvertrag bekennen sich SPD und Linke zu dem Ziel, Lebensmittelabfälle entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu reduzieren. Bessere Aufklärung über das Mindesthaltbarkeitsdatum Eine weitere geplante Maßnahme auf Bundesebene ist eine bessere Aufklärung zum Mindesthaltbarkeitsdatum auf Lebensmitteln. Dass manche Supermärkte Containern nicht dulden, hat auch eigentumsrechtliche Gründe. Im Normalfall sind die weggeworfenen Lebensmittel, bis sie zur Weiterverarbeitung abgeholt werden, Eigentum des Verkäufers. Es geht vor allem um die Frage, wer haftet, wenn sich jemand durch containertes Essen etwa eine Lebensmittelvergiftung zuzieht. Offiziell gibt es dazu in Deutschland keine gesetzliche Regelung. Lediglich das vom Hersteller festgelegte Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) zeigt Händlern und Verbrauchern, wann ein Lebensmittel nicht mehr essbar sein soll. Sobald das MHD abläuft, ist der Hersteller von der Haftung ausgeschlossen und die Verantwortung liegt bei den Supermärkten. Die Folge: Abgelaufene Produkte werden nicht reduziert oder kostenlos angeboten, sondern landen in der Tonne. Dabei ändert sich bei vielen Produkten nach Ablauf des MHDs nicht die Haltbarkeit, sondern nur Konsistenz oder Farbe. MVs Justizministerin Bernhardt warb zuletzt auf der Grünen Woche in Berlin für eine bessere Aufklärung über die Genießbarkeit nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums. „Möglicherweise kommt eine Erklärung in Betracht, die jeder Käuferin, jedem Käufer auf dem Produkt die Mindesthaltbarkeit knapp erklärt und aufzeigt, woran zu erkennen ist, dass das Lebensmittel nicht mehr genießbar ist“, sagte Bernhardt. Neben einer Abgabepflicht für Supermärkte an Tafeln oder ähnliche Organisationen komme auch eine Karenzregelung für den Einzelhandel infrage. Dann könnten Supermärkte nach Ablauf des MHDs Produkte einen weiteren Tag kostenlos anbieten. Weiteres wolle man Ende Juni auf der Verbraucherschutzminister:innen-Konferenz diskutieren. So oder so werden sich weiterhin täglich Mülltonnen hinter Supermarktfilialen füllen und von Menschen durchforstet werden. Dabei treffe man übrigens nicht nur Personen, die Containern als Lifestyle sehen, sondern auch Bedürftige, bei denen eine solche Art der Lebensmittelbeschaffung sehr schambehaftet sei, sagt Salome K. Dieser Artikel erschien in Ausgabe 17 von KATAPULT MV. Aktualisierungshinweis: Nachdem Salome K. Einspruch gegen den Strafbefehl in Höhe von 450 Euro eingelegt hatte, gab es am 10.5.2023 einen zweiten Prozesstag. Dabei wurde das Verfahren aufgrund von Verfahrenshindernissen eingestellt. Auch im Vorfeld dieser Verhandlung hat eine Aktionsgruppe zu einem sogenannten Container-Frühstück vor dem Amtsgericht geladen. Serviert wurden containerte Lebensmittel. Damit wollten sie zum einen auf den Prozess als auch auf die Verschwendung von Lebensmitteln aufmerksam machen. 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