Mit der Regierungsbildung im vergangenen November wurden die Landesministerien neu zugeschnitten. Das Politikfeld „Europa“ wechselte unter der Leitung von Ministerin Bettina Martin (SPD) vom Innenministerium zum Ministerium für Wissenschaft, Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten. „Die Europäische Union ist ein historisch einmaliges Friedensprojekt“, heißt es im Koalitionsvertrag. Nach den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien in den Neunzigerjahren herrscht seit dem 24. Februar erneut in unmittelbarer Nachbarschaft, an den Grenzen von vier EU-Ländern, Krieg. Im November verfasst, hatten sich die Regierungsparteien eine intensivere Regionalpartnerschaft MVs mit dem Leningrader Gebiet vorgenommen, einer russischen Oblast rund um Sankt Petersburg. Diese Partnerschaft wurde rasch nach Beginn von Putins Angriffskrieg auf die Ukraine gestrichen. Auch aus der Bundespolitik heißt es: „Wir haben uns zu stark auf Russland konzentriert.“ Davon ist der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil überzeugt und kündigt deshalb eine Neuausrichtung der Ostpolitik seiner Partei an. Im Regierungsprogramm „Aufbruch 2030“ für MV haben sich die Koalitionsparteien SPD und Linke vorgenommen, ihre „Aktivitäten in Europa zu stärken“. Im vorletzten Kapitel der Vorhaben für die Regierungszeit von 2021 bis 2026 finden sich zur europäischen und internationalen Politik jedoch nicht einmal zwei Seiten. Diese sind jedoch bunt gemischt, von der Stärkung der Schüleraustauschprogramme über intensivere Beziehungen zu Vietnam und Israel bis zum Hinweis, dass man die „gute Tradition der auswärtigen Kabinettssitzung in Brüssel fortsetzen“ wolle. Mittlerweile ist die neue Landesregierung bereits über 100 Tage im Amt. In ihrer ersten Bilanz findet sich aber weder in der Pressemitteilung noch im knapp fünf Minuten langen Video das Wort Europa. Schnelle Überarbeitung des Europakapitels nötig Für MV standen in den letzten Jahrzehnten die Beziehungen zur Russischen Föderation im Fokus, während der Zusammenarbeit mit Polen und den drei EU-Staaten Estland, Lettland und Litauen geringere Bedeutung beigemessen wurde. So bewertet Henning Vöpel die Nachbarschaftspolitik. Er ist Vorstand des europäischen Thinktanks „Centrum für Europäische Politik“ und ehemaliger Co-Vorsitzender des Zukunftsrates MV. „Die geopolitischen Verschiebungen haben ganz erhebliche wirtschaftliche Konsequenzen und deshalb muss sich die Landesregierung rasch neu orientieren“, findet er. Vöpel reicht das Europakapitel von zwei Seiten im Koalitionsvertrag nicht aus. Für ihn sei offensichtlich, dass es im Lichte des Krieges in der Ukraine einer gründlichen Überarbeitung bedürfe. Wolle die Landesregierung die Ansiedlung neuer und vor allem nachhaltiger Technologien forcieren, gehe es nicht ohne die intensive Kooperation mit den Anrainerstaaten der Ostsee. Gemeinsam mit ihnen müsse das Land industrielle Netzwerke und Lieferketten stärken sowie Produktionen zurückverlagern, so der Wirtschaftswissenschaftler. Weil die Landesregierung in der Vergangenheit an der Gaspipeline Nord Stream 2 ihre gesamte Energie-, Industrie- und Klimapolitik ausgerichtet habe, sei mit deren Wegfall nun eine komplette Neuausrichtung folgerichtig. CDU: Außenwirtschaftspolitik muss dringend wieder ins Wirtschaftsministerium Auch Katy Hoffmeister, europapolitische Sprecherin der CDU-Landtagsfraktion, ist der Auffassung, dass sich MV wirtschaftspolitisch, wissenschaftspolitisch und zivilgesellschaftlich zu sehr auf Russland ausgerichtet habe. Andere Partnerschaften seien nachrangig behandelt, teilweise sträflich vernachlässigt worden, findet Hoffmeister. Dies sei deswegen besonders fatal, weil Russland als Handelspartner fast bedeutungslos gewesen sei. Dies habe sich auch durch Nord Stream 2 nicht geändert. Auch Hoffmeister plädiert für den Ausbau der Kontakte zu Handelspartnern im Ostseeraum. Es gelte aber auch, an Kontakten wie die zu den Niederlanden anzuknüpfen. Hoffmeister sieht zudem die Europapolitik im Wissenschaftsministerium gut aufgehoben. Ministerin Martin sei erkennbar bemüht, die Hochschulen im Land „internationaler aufzustellen“. Das Thema Außenwirtschaftspolitik solle aber dringend wieder von der Staatskanzlei ins Wirtschaftsministerium wechseln, denn dort sei das entsprechende Know-how vorhanden. FDP: Baltikumtag statt Russlandtag Für die Liberalen ist eine Neudefinition der europapolitischen Ziele MVs nicht nötig. Vielmehr müssten die bereits bestehenden Ziele nun mit den demokratischen Partnerländern auch gelebt werden. „Aktuell ist die wichtigste Erwartung unserer Nachbarländer, dass Nord Stream 2 auf absehbare Zeit nicht in Betrieb geht“, kommentiert die europapolitische Sprecherin der FDP-Fraktion, Sabine Enseleit. Neben der Förderung internationaler Kooperationen von Schulen, Universitäten und Fachhochschulen soll nach dem Willen der Liberalen ebenfalls sowohl die ökonomische als auch die ökologische Zusammenarbeit ausgebaut werden. Die einseitige Ausrichtung in der Vergangenheit mache ein verbessertes Marketing für MV nötig, so die FDP-Fraktion. Grüne: Europapolitik zurück in die Staatskanzlei Die Grünen fordern, dass Europapolitik wieder Chefinnensache wird, „denn ohne grenzüberschreitende Kooperation geht in Mecklenburg-Vorpommern heute kaum noch etwas“, so Hannes Damm für die Landtagsfraktion. Er fordert, dass die Europapolitik zurück in die Staatskanzlei oder in das Finanzministerium verlegt wird – wegen der Verwaltung der Fördergelder. Die Grünen sehen das wichtigste europapolitische Ziel der nächsten Jahre darin, das durch die prorussische Politik der Landesregierung verspielte Vertrauen wiederherzustellen. „Wir brauchen verstärkten Austausch innerhalb der Euroregion Pomerania und ein erstes Signal wäre es, den Russlandtag durch einen Baltikumtag zu ersetzen“, fordert Damm. In der Wissenschaftskooperation erwarten die Grünen eine wirksame Beteiligung der Landesregierung am Rahmenprogramm der Europäischen Union für Forschung und Innovation „Horizont Europa“, das bis 2027 ein Budget von 95,5 Milliarden Euro bereithält. Kritische Studierende und Forscher:innen, die Russland und Belarus wegen Repressalien verlassen müssen, sollten gefördert werden. Bei der Kooperation im Ostseeraum sollten gemeinschaftliche Aufgaben wie Klimawandel, Artenvielfalt und Altlasten an versenkter Munition eine wichtige Rolle spielen. Was das politische Lobbying der Landesvertretung MV in Brüssel angeht, meint Hannes Damm, dass die Mitarbeiter:innen extrem engagiert seien und gute Arbeit leisteten, jedoch fehle eine Strategie der politischen Führung. Volt: Fokus auf gemeinsame Energiepolitik Die Partei Volt trat bei den Bundestagswahlen im vergangenen Jahr mit einem explizit europafreundlichen Programm zum ersten Mal in MV an. Martin Finck, Vorsitzender von Volt Mecklenburg-Vorpommern, bemängelt die fehlende Definition der europapolitischen Ziele im Koalitionsvertrag. Als Bundesland mit so vielen Nachbarn um die Ostsee müsse klar formuliert werden, wie man wirtschaftlich kooperieren will, wie die Zusammenarbeit im Schul- und Bildungsbereich aussehen soll. „Warum wird dort nicht beschrieben, wie man den Ausbau des Erasmusprogramms, die Kooperation mit der Universität Szczecin fördern will“, fragt Finck. Ein wichtiges Ziel, nämlich das Landtagswahlrecht für EU-Bürger:innen einzuführen, vermisst der Volt-Sprecher. Er sieht keinen politischen oder rechtlichen Grund, der diese Gesetzesänderung verhindert. Die Fehler der Vergangenheit, nämlich das Ignorieren der Interessen der osteuropäischen Nachbarn bei der Energieversorgung, dürften sich nicht wiederholen. Für Finck gilt es nun, eine gemeinsame nachhaltige Energiepolitik mit den Nachbarn zu entwickeln und die Kompetenzen der nationalen Volkswirtschaften zusammenzubringen. Interesse an Zusammenarbeit noch vorhanden Für die Industrie- und Handelskammer (IHK) zu Schwerin steht bei den europapolitischen Zielen die Energiegewinnung und -versorgung im Zentrum. „Die erneuerbaren Energien, besonders der Windstrom im Norden, sind unsere Ressourcen, die vor Ort schnellstmöglich ausgebaut und in kompletten Wertschöpfungsketten genutzt werden müssen“, so der Hauptgeschäftsführer der IHK, Siegbert Eisenach. Die Nachbarländer hätten ein Interesse am Ausbau der bereits engen wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Bei der Wissenschaftskooperation hofft die Kammer darauf, dass europäische Forschungsinstitute in MV Standorte gründen. Die Ostseekooperation habe im Bereich der gewerblichen Wirtschaft für MV einen sehr hohen Stellenwert, denn Länder wie Polen, Schweden und Dänemark zählen nach Angaben der IHK sowohl bei den Ein- als auch den Ausfuhren immer zu den zehn wichtigsten. Die IHK sieht die Landesregierung beim Zuschnitt der Kompetenzen gut aufgestellt. MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!