Nach Beginn der russischen Invasion hat die Landesregierung ein Hilfspaket in Höhe von 230 Millionen Euro auf den Weg gebracht. Mit 18 Millionen Euro soll die Aufnahme von Kindern an Schulen und Kitas gefördert werden. Auch im nächsten Jahr stellt das Land dafür 25 Millionen Euro zur Verfügung. Aktuell gehen 2.468 ukrainische Kinder und Jugendliche in MV zur Schule. Noch im März sagte Bildungsministerin Simone Oldenburg (Die Linke), sie erwarte dieses Jahr maximal 1.200 ukrainische Schüler:innen. Das Ministerium für Bildung und Kindertagesförderung gab sich in den letzten Wochen zuversichtlich hinsichtlich der Situation ukrainischer Kinder und Jugendlicher an den Bildungseinrichtungen des Landes. Finanzielle Mittel seien zur Genüge vorhanden. Ein großes Netzwerk auf kommunaler Ebene sichere die Beschulung. So sei jede Schule in der Lage, ukrainische Schüler:innen aufzunehmen. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Mecklenburg-Vorpommern (GEW MV) berichtet hingegen von problematischen Herausforderungen für Kitas und Schulen. „Wir sind in großer Sorge um den Bildungserfolg für alle Kinder und Jugendlichen, wie auch die Gesundheit der Bildungsbeschäftigten in MV“, warnten die Vorsitzenden der GEW, Nico Leschinski und Annett Lindner, am Freitag vergangener Woche auf einer Pressekonferenz. Nach der Corona-Krise in die nächste Krise zu rutschen, zeige die systemischen Mängel der Bildungseinrichtungen in Mecklenburg-Vorpommern. Laut der Gewerkschaft gibt es die meisten Anfragen für Kitas und Anmeldungen an Schulen in städtischen Regionen. „Mehr eine Aufbewahrung als eine Bildungsstätte“ Die GEW-Referenten für Jugendhilfe besuchten in den letzten zwei Wochen 75 Kitas und schildern ernüchternde Verhältnisse. Es fehle an Personal, Platz und Kraft: „Kolleg:innen sagen mir, dass sie noch nie so erschöpft gewesen sind wie zurzeit“, erklärte Lindner. Erzieher:innen würden sich fragen, wie sie nun die nächste Krise stemmen sollen. In vielen Kitas, vor allem in Städten, seien die Wartelisten lang. Obwohl Kindergärten bis zur Kapazitätsgrenze gefüllt seien, würden weitere Plätze an ukrainische Kinder vergeben. Durch die Corona-Pandemie sei die individuelle Förderung der Kinder auf der Strecke geblieben, die diese längst benötigen: „Wir sind mehr eine Aufbewahrung als eine Bildungsstätte“, bekomme Lindner von Kolleg:innen gesagt. „Hauptsache, der Laden rumpelt weiter vor sich hin“ An Schulen brauche es ebenfalls mehr Personal, damit mehr Unterrichtsstunden zur Verfügung stehen. Gerade für Lehrer, die spezialisiert sind auf Deutsch als Zweitsprache. Das Fach Deutsch als Fremdsprache wird an sogenannten Standortschulen unterrichtet. Schülerinnen und Schüler werden intensiv gefördert, um möglichst schnell Deutsch zu lernen. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es 94 solcher Standortschulen. Das Bildungsministerium spricht von weiteren 140 Standortschulen, die bei Bedarf aktivierbar sind. Ende März wurden deshalb 18 weitere Stellen für Lehrer:innen mit der Zusatzausbildung Deutsch als Zweitsprache ausgeschrieben. Bisher wurden vier Lehrkräfte eingestellt. GEW-Vorsitzender Leschinski mahnt deshalb: „Eine Stelle auszuschreiben ist etwas anderes, als eine Stelle zu besetzen.“ Von den bisher gemeldeten ukrainischen Schüler:innen sind im Fach Deutsch als Zweitsprache 2.050 förderbedürftig. Eine weitere große Herausforderung sind Kommunikationsprobleme mit ukrainischen Schüler:innen. Gerade deshalb kommt dem Lehrpersonal mit einer Ausbildung im Fach Deutsch als Fremdsprache eine besondere Bedeutung zu. Verständigungsprobleme können aktuell nur durch zusätzliche Sprachmittler:innen oder Übersetzungs-Apps gelöst werden. Eine Lehrperson, die anonym bleiben möchte, beschreibt die Situation ähnlich wie zur Flüchtlingskrise 2015: „Man versteht sich nicht. Die Kinder können mir ihre Bedürfnisse nicht mitteilen, und ich kann mich ihnen nicht verständlich machen. Hauptsache, der Laden rumpelt irgendwie weiter vor sich hin und nach außen lässt sich alles korrekt darstellen.“ Qualitätsansprüche rücke man immer weiter in den Hintergrund. Nicht zuletzt berichtet der GEW-Vorsitzende Leschinski von einer Liste des Bildungsministeriums, das Schulbücher empfiehlt, die nur vereinzelt oder gar nicht vorhanden sind. An manchen Schulen fühle man sich zunehmend allein gelassen. Eine Schulleitung, die ebenfalls anonym bleiben möchte, sieht das kritisch: „Die Aussage des Bildungsministeriums, dass jedes ukrainische Mädchen und jeder ukrainische Junge an einer Schule unterricht wird, setzt die Schulen in der Öffentlichkeit und auch intern erneut unter Druck, ohne dass eine Entlastung zu erfahren wäre.“ Das Bildungsministerium müsse Perspektiven bieten für den Fall, dass die Kapazitäten an den Schulen erreicht oder überschritten werden. Probleme aus Flüchtlingskrise und Pandemie verschleppt Immer größere Klassen und zu wenig Unterstützung für Kinder mit erhöhtem Förderungsbedarf gehören zu den Problemen, die nach den letzten Krisen nicht gelöst wurden. Das führt bei Lehrer:innen zu noch mehr Stress und Druck. Bereits jetzt prognostizieren Schulen, dass Kinder und Jugendliche bei Bedarf das Schuljahr nicht wiederholen können, weil alle Klassen voll sind. Darüber hinaus stelle man sich an den Schulen des Landes zunehmend die Frage, inwiefern die Situation für andere Geflüchtete gerecht sei, so die GEW MV. Geflüchtete Kinder und Jugendliche aus anderen Ländern müsse man ebenfalls schnell aufnehmen. Auch dafür braucht es finanzielle Mittel, Platz und Lehrkräfte. MVs Schulen brauchen 200 Vollzeitlehrende Leschinski und Lindner fordern, das Kindeswohl trotz der schwierigen Situation nicht aus den Augen zu verlieren. In einem Positionspapier unterbreiten sie konkrete Lösungsvorschläge, die Bildungseinrichtungen auch langfristig entlasten sollen. Zu den Forderungen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe gehört ein landesweit einheitlicher Mindestpersonalschlüssel. Den verspricht die Landesregierung aus SPD und Linken ohnehin im Koalitionsvertrag. Das Projekt müsse jetzt unverzüglich vorangetrieben werden, so die GEW. Es fehle außerdem an Sprachmittler:innen und niedrigschwelligen Angeboten für traumatisierte Kinder. An Schulen brauche es eine systematischere Vorgehensweise, um den Bedarf an Personal, Räumen und Unterrichtsmaterialien besser kalkulieren zu können. Dabei müsse sichergestellt werden, dass Gelder für die Ausstattung am Ende auch bei den Schulen ankommen. Auch ukrainische und russische Lehrer:innen sollten schnellstmöglich angestellt werden. Dafür müssen Meldestellen eingerichtet, die Abschlüsse von Fachkräften erfasst und anerkannt werden. Laut der Gewerkschaft braucht es 200 Vollzeitlehrer:innen, die die Erstsprache der Schülerinnen und Schüler beherrschen. Um Probleme und Lösungsansätze gemeinsam mit dem Bildungsministerium und Beschäftigten im Bildungsbereich zu besprechen, fordert die GEW einen Ukraine-Gipfel. Bisher habe das Bildungsministerium aber davon abgesehen, Betroffene systematisch zu befragen und sich deren Erfahrung zunutze zu machen, sagt Leschinski. Dennoch schätze die GEW den Willen des Landes, Bildung für geflüchtete Kinder und Jugendliche zu ermöglichen. Onlineunterricht aus der Ukraine An der Greifswalder Grundschule „Greif“ wurden bisher vier ukrainische Kinder aufgenommen. Die Schule ist erfahren mit der Beschulung geflüchteter Kinder: „Wir haben sehr viele Kinder, die sowieso Intensiv- und Integrationskurse besuchen“, erklärt Schulleiterin Beate Hennings. Die ukrainischen Kinder hätten sich schon gut einleben können. Ab dieser Woche unterrichte die Kinder sogar eine ukrainische Lehrer:in im Onlineformat. Aktuell findet der Onlinekurs zweimal pro Woche statt. Anfang Juni werde man die Frequenz erhöhen, sodass ukrainische Mädchen und Jungen täglich von der ukrainischen Kollegin unterrichtet werden können. Die Schule sei weiterhin bemüht, geflüchtete Kinder aufzunehmen: „Sobald Kinder zu uns kommen, werden sie aufgenommen. Irgendwann ist der Raum aber voll. Da gibt es auch Dinge wie Brandschutz, die eingehalten werden müssen“, gibt die Schulleiterin zu bedenken. Das evangelische Schulzentrum Martinschule in Greifswald beschäftigt bereits seit Ende März eine ukrainische Lehrerin vor Ort. Gemeinsam mit vier Sprachmittler:innen, die Russisch und Ukrainisch verstehen, erleichtere das die Kommunikation im Schulalltag, so Schulleiter Benjamin Skladny. Bisher hat seine Schule 17 ukrainische Kinder aufgenommen. Als Schule in freier Trägerschaft gelte die finanzielle Unterstützung des Bildungsministeriums nur bedingt, erklärt Skladny. Er warte noch auf eine Positionierung des Ministeriums zur Finanzierung von ukrainischen Kindern an freien Schulen. Bis dahin möchte die Martinschule den Schulalltag der Geflüchteten so angenehm wie möglich gestalten. Finanziert wird das Ganze von Spenden aus dem Kollegium und der Elternschaft. MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!