Um bis 2035 klimaneutral und schnellstmöglich unabhängig von fossilen Energieträgern wie russischem Gas zu werden, muss Deutschland den Ausbau erneuerbarer Energien schneller vorantreiben. Neben dem Ausbau von Photovoltaikanlagen für die Nutzung von Solarenergie sind da Windkraftanlagen die erste Wahl. „Wasserkraft ist stabil ausgebaut – in dem Bereich gibt es keine Wachstumsmöglichkeiten. Auch bei Biomasse ist kaum mehr Wachstum möglich, weil keine weiteren Flächen zum Anbau zur Verfügung stehen. Doch Windenergie hat noch hohes Wachstumspotenzial“, erzählt Ulrich Söffker bei der Besteigung eines Windrads Anfang Mai in Groß Schwiesow im Landkreis Rostock. Mecklenburg-Vorpommern generiere mehr als das Doppelte des eigenen Strombedarfs aus erneuerbaren Energien, erklärt der Energieexperte des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und Geschäftsführer der Grünen-Fraktion der Rostocker Bürgerschaft. Doch Strom mache nur ein Viertel des Energiebedarfs aus, hinzu kämen Wärme und Verkehr. „Strom ist der Edelstein unter den Energieträgern“, sagt Johann-Georg Jaeger. Er ist Betreiber des bestiegenen Windrads, Vorsitzender des Landesverbands Erneuerbare Energien (LEE MV) und ebenfalls Mitglied der Grünen in der Rostocker Bürgerschaft. Strom werde die wichtigste Energieform und ermögliche künftig auch den Verkehr über E-Mobilität. Doch lediglich 15 Prozent der Wärmeverbrauchs kämen aus erneuerbaren Energien. Zum Interview mit Johann-Georg Jaeger „Da der höchste Strombedarf in den Wintermonaten liegt, ist die Windkraft bei Strom spielentscheidend“, erklärt der LEE-Vorsitzende. Und da bietet sich der Norden Deutschlands besonders an. „In MV ist praktisch jeder Standort geeignet.“ Um seine Klimaziele zu erreichen, brauche Deutschland etwa dreimal so viel Windkraft wie heute. Doch in den letzten Jahren und Jahrzehnten kam der Ausbau heftig ins Stocken. 2021 wurden in MV 19 neue Windkraftanlagen ans Netz gebracht, 17 alte abgebaut. „In Summe sind exakt zwei Anlagen dazugekommen“, rechnet Jaeger vor. Derzeit gibt es in Meck-Vorp 1.850 Windräder an Land und 232 auf dem Wasser. Zwar seien die neuen Anlagen auch leistungsstärker. „Aber wir sind noch weit entfernt von dem, was sich die Regierung vor Jahren im Landesenergiekonzept vorgenommen hat“, sagt Jaeger. Bis 2025 solle eine Windenergieleistung von 6.000 Megawatt an Land installiert sein. Aktuell sind es lediglich etwa 3.500 Megawatt. Ein Schlüssel für den schnelleren Ausbau von Windanlagen ist die Fläche. So sollen in Deutschland zwei Prozent der Landesfläche für Windkraft ausgewiesen werden. Auch MVs Wirtschaftsminister Reinhard Meyer (SPD) will die Fläche für Windkraftanlagen von 0,7 auf 2,1 Prozent verdreifachen. Verschleppung durch die Behörden Doch ein weiterer Schlüssel ist die Verwaltung. Denn ein großes Hindernis für den Windkraftausbau sind langwierige Genehmigungsverfahren. Zuständig sind die örtlichen Immissionsschutzbehörden, die Kreisverwaltungen. Diese entscheiden, dass alle Unterlagen vollständig eingereicht wurden. Ab dann tickt die Uhr: Nach der Vollständigkeitserklärung haben die Genehmigungsbehörden sieben Monate Zeit, das Vorhaben abzulehnen. Andernfalls erhält das Projekt Baurecht. Doch daher wird der Zeitraum zwischen Antragstellung und Vollständigkeitserklärung von Behörden intensiv hinausgezögert – durchschnittlich dauern Genehmigungsverfahren so dreimal länger, als es die Länder offiziell angeben. „Die Behörden bestätigen einfach nicht, dass die Unterlagen vollständig sind“, sagt Windanlagenbetreiber Jaeger. Ein „Gutachten-Pingpong“ entsteht: „Dann treffen die Behörden keine Entscheidung, sondern fordern lieber noch mal ein Gutachten. Man findet immer einen Grund, warum die Greifvögel noch mal zwei Jahre untersucht werden müssen.“ Denn anders als wirtschaftliche Interessen von Wohnungseigentümer:innen oder Naturschutz stellt der Ausbau erneuerbarer Energien laut Baugesetz kein öffentliches Interesse dar. So dauern Genehmigungsverfahren für Windkraftanlagen fünf bis sieben Jahre. Artenschutz vs. Klimaschutz Bei der Verzögerung der Genehmigungsprozesse werden besonders häufig Natur- und Klimaschutz gegeneinander ausgespielt. So werden für die Vollständigkeitserklärung von Genehmigungsbehörden verschiedenste Gutachten gefordert, beispielsweise zu „Horstabständen zu windkraftsensiblen Großvogelarten“. Dazu zählen Seeadler, Rotmilan, Schreiadler oder Schwarzstorch. Der Kampf gegen die Windmühlen nimmt mitunter groteske Ausmaße an. Seit zwölf Jahren kämpfen die Gemeinden Kreien und Gehlsbach in Ludwigslust-Parchim gegen die Errichtung von 14 Windrädern. Dafür haben die Gemeinden 2019 eine Nisthilfe für Fischadler errichtet, um die geschützten Vögel anzulocken. Dann dürften keine Windräder gebaut werden. Der Windradbetreiber, die Rostocker UKA Nord, hatte auf den Anlockversuch der Gemeinden reagiert und stattdessen einen Lautsprecher installiert, der mit Hundegebell und anderen lauten Geräuschen ebendieses Anlocken der Greifvögel verhindern soll. Der Lautsprecher wurde schnell wieder entfernt, doch der Kampf gegen die Windmühlen geht weiter. Vor Gericht. Bei der Windkraft werde das Wohl jedes einzelnen Vogels betrachtet, nicht das der Population beziehungsweise der ganzen Art. Würde man in allen anderen Lebensbereichen diesen hohen Maßstab an Artenschutz anlegen, müsste man beispielsweise den Straßenverkehr vollständig einstellen, kritisiert Jaeger. „Die höchsten Todesraten von Vögeln gibt es durch Glasscheiben und Katzen.“ Gleichzeitig seien durch Windkraftanlagen zu Tode gekommene Tiere nicht irrelevant. Durch Ausgleichsmaßnahmen könnte jedoch die gesamte Population besser geschützt werden. So seien beispielsweise zwei Prozent der Rotmilane durch Windanlagen gestorben. „Wenn wir aber deren Nester besser vor Waschbären schützen, können wir erheblich mehr als zwei Prozent schützen“, argumentiert Jaeger. Er wünscht sich eine Entkopplung der Genehmigung von Anlagen und der Entscheidung über Ausgleichsmaßnahmen. Auch Energieexperte Söffker sagt auf dem Windrad nahe Güstrow: „Biodiversität und Landwirtschaft können mit Windkraftanlagen harmonieren.“ Fehlende Akzeptanz in der Bevölkerung Doch warum wehren sich so viele gegen die Windkraft? Sie ist günstig, grün und macht energieunabhängig. „Windkraftanlagen neben einem Dorf verändern etwas“, erklärt Jaeger. Dabei spricht er nicht nur von der Landschaft, sondern vom sozialen Frieden im Dorf: „Einige profitieren, andere gucken nur zu. Das stört ein jahrhundertelang ausgehandeltes Gleichgewicht.“ Dabei beobachten Jaeger und Antje Habeck, Pressesprecherin von LEE MV, ein Stadt-Land-Gefälle bei der Akzeptanz von Windkraft. Während die Stadtbevölkerung dem Ausbau größtenteils positiv gegenübersteht, ist die Bevölkerung auf dem Land kritischer. Windradtätowierung (Foto: LEE MV) Das liegt auch daran, dass auf dem Land der Strom teurer ist als in der Stadt. In Rostock etwa kostet eine Kilowattstunde sechs bis sieben Cent, auf dem Land elf. „Weil dort die Anlagen ausgebaut werden müssen“, erklärt Jaeger. Im Jahr bedeute das für die Menschen dort Mehrausgaben von mehreren Hundert Euro. Unverständlich für die Landbevölkerung: Sie zahlt mehr, obwohl bei ihr die benötigten Anlagen stehen. Habeck wohnt selbst auf dem Dorf, in Nordwestmecklenburg, direkt neben einer Anlage. „Mich stört es nicht.“ Im Gegenteil: Sie ist Windrad-Fan und hat sogar eine Windkraftanlage auf dem Rücken tätowiert. Doch sie weiß, dass das bei Weitem nicht alle so sehen. „Ich habe lange in Berlin gewohnt, da finden alle Windkraftanlagen toll. Hier ist die Stimmung eine andere.“ Bürger- und Gemeindenbeteiligungsgesetz Verstärkt werde dieses Phänomen durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von Anfang Mai. Dieses bestätigte die Pflicht der Beteiligung von Anwohner:innen von Gemeinden im Umkreis von fünf Kilometern zu geplanten Windparks. „Windkraftprojektierer sind verpflichtet, alle Einwohner anzuschreiben und ihnen eine finanzielle Beteiligung anzubieten“, sagt Habeck. Allerdings mit mäßigem Erfolg. „Schönberg-Desaster“ nennt Habeck die einzige Bürgerbeteiligung an einem Windpark in MV innerhalb der sechs Jahre, in denen das Gesetz besteht. Von den Tausenden berechtigten Bürger:innen hätten sich lediglich 20 beteiligt, von den acht Gemeinden nur eine. 400.000 Euro kosteten die Beteiligungsmöglichkeiten, 200.000 Euro seien durch die Beteiligung reingekommen. Das Gesetz erhöhe den bürokratischen Aufwand und die Genehmigungszeiten noch weiter. Anstatt die dringend benötigte Akzeptanz zu fördern, stifte das Gesetz sozialen Unfrieden: „Man könnte es viel besser machen, wenn man die Gemeinde beteiligt, und nicht die reichste Familie im Dorf den größten Gewinn erzielt“, so Habeck. Ihr Vorschlag: An einen Windpark grenzende Gemeinden automatisch mit 0,2 Cent pro erzeugter Kilowattstunde an den Umsätzen beteiligen. Dann könne die Gemeinde entscheiden, wofür das Geld sinnvollerweise genutzt werden soll, und die Umsätze kämen alle zugute und nicht nur denen, die es sich leisten können, zu investieren. Freier Horizont und Verbandsklagen So mangelt es dort an Akzeptanz für Windräder, wo sie gebaut werden müssen: auf dem Land. Seit 2016 gibt es eine Kleinstpartei, die sich vorwiegend dem Kampf gegen die Windkraftanlagen verschrieben hat: Freier Horizont. Die Partei wurde in Altentreptow gegründet und ist ausschließlich in Mecklenburg-Vorpommern aktiv. Sie setzt sich für Beschränkungen des Windkraftausbaus sowie für größere Abstände von Windrädern zu Wohnhäusern ein und fordert den Ausbaustopp für erneuerbare Energien. Bei der vergangenen Landtagswahl erhielt die Partei 0,37 Prozent der Stimmen. Außerdem arbeiten viele Nichtregierungsorganisationen gegen Windräder. „Mit dem Verbandsklagerecht haben sie gute Möglichkeiten, solche Prozesse auszuhalten“, erklärt Johann-Georg Jaeger. So klagten oft nicht persönlich Betroffene, sondern NGOs, Bündnisse und Initiativen von Windkraftgegner:innen. Außerdem sieht der Verbandschef den Ausbau erneuerbarer Energien und Klimaschutz zu weit unten auf der politischen Agenda der Landesregierung. „Das Wort Klimaschutz wurde im Wahlkampf nur im Zusammenhang mit der Stiftung in den Mund genommen“, kritisiert Jaeger. Auch daher würden sich Windanlagenbauer wie Nordex immer mehr aus MV und Deutschland zurückziehen. Auch wenn er die Schließung des Rotorblattwerks in Rostock zugunsten der Produktion in Billiglohnländern für eine wirtschaftliche Fehleinschätzung hält. „Wir müssen jährlich 10.000 Megawatt zubauen. Der Markt in Deutschland muss so groß werden, dass die Flügelproduktion in Rostock und Indien gebraucht wird.“ Windenergie und Klimaschutz seien eben nicht nur „nice to have“, sondern system- und sicherheitsrelevant. Dieser Artikel erschien in Ausgabe 8. MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!