Mit 60 Jahren verfügt Nikolaus Voss über langjährige politische Erfahrung. Denn die politische Karriere des geborenen Hallensers begann in MV schon kurz nach der Wende als SPD-Landesgeschäftsführer. In der ersten rot-roten Koalition unter Ministerpräsident Harald Ringstorff (SPD) war er dessen Büroleiter. Voss koordinierte Landes- und Bundespolitik in der Staatskanzlei und war in verschiedenen Ministerien als Staatssekretär tätig, bis er im November 2021 in den einstweiligen Ruhestand versetzt wurde. Seit dem 1. Februar dieses Jahres ist der gelernte Gärtner und studierte Theologe der Beauftragte von Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) für jüdisches Leben und die Bekämpfung von Antisemismus in MV. KATAPULT MV: Herr Voss, seit gut einem Monat sind Sie Beauftragter des Landes Mecklenburg-Vorpommern für jüdisches Leben und die Bekämpfung von Antisemitismus. Was hat Sie bewogen, dieses Amt anzunehmen?
Nikolaus Voss: Es war mein Wunsch, als ich aus dem Amt des Staatssekretärs geschieden bin, noch etwas für das Land tun zu können. Als ich erfahren habe, dass Herr Dr. Schmutzler im Oktober aus gesundheitlichen Gründen sein Amt niedergelegt hat, habe ich mein Interesse bei der Ministerpräsidentin bekundet und sie ist auf meinen Wunsch freudestrahlend eingegangen. Zum einen bringe ich für diese Aufgabe einen theologischen Hintergrund mit, zum anderen habe ich mich aber auch schon viele Jahre mit dem Thema Juden in Europa auseinandergesetzt. Was hat Sie bewogen, Theologie zu studieren?
Ich bin ein Kind der evangelischen Jugendarbeit und meine erste Ausbildung war ja nicht die des Theologen, sondern die des Gärtners, und während dieser Ausbildung ist der Wunsch gewachsen, für die Kirche tätig zu sein. Was bedeutet für Sie Religion?
Religion ist für mich ein fester Halt, eine Stütze, die mich durch das Leben führt. Und gerade in diesen Zeiten des Krieges in der Ukraine, glaube ich, ist das eine ganz wichtige Stütze, die ich erfahre. Wann hatten Sie die ersten Begegnungen mit dem Judentum, mit jüdischer Kultur, mit Menschen jüdischen Glaubens?
Meine erste Begegnung liegt lange zurück. Ich denke an den Kniefall von Willy Brandt am Denkmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto. Mich hat damals nicht so sehr diese Symbolik beeindruckt als vielmehr meine Eltern, die vorm Westfernsehen saßen und in Tränen ausbrachen. Seitdem hat mich dieses Thema nicht wieder losgelassen. In meiner Jugend bin ich oft Paddeln gegangen und kam regelmäßig an der Gedenkstätte des KZs Ravensbrück vorbei. Da haben wir regelmäßig angelegt und es ist so ein bisschen ein roter Faden in meiner Biografie. Sicherlich waren Sie auch schon in Yad Vashem?
Das ist richtig. Anfang der 90er-Jahre bin ich mit der Friedrich-Ebert-Stiftung nach Israel gereist. Yad Vashem hat mich sehr beeindruckt. Vor allen Dingen hat mich beeindruckt, wie die Menschen in Israel mit den Menschen umgehen, die sie während des Holocaust unterstützt hatten. Es gibt dort den Hain der Gerechten unter den Völkern und das ist eine wunderbare Würdigung, wie diese kleine Minderheit, die sich in Deutschland unter höchsten Gefahren für die Juden eingesetzt hat, posthum geehrt wird. Für Ihre Arbeit haben Sie sich drei Schwerpunkte gesetzt. Einer davon heißt „Jüdisches Leben in MV im Dialog“. Wie wollen Sie wen miteinander in den Dialog bringen?
Meine Aufgabe ist es, mit den jüdischen Gemeinden in MV, also in Schwerin und Rostock, im regelmäßigen Gespräch zu sein. Ich werde die Tradition meines Vorgängers fortsetzen und quartalsweise mit den Vertretern der jüdischen Gemeinden zusammenkommen. Das hat im Übrigen schon im letzten Monat begonnen. Viel wichtiger ist mir noch, dass die jungen Menschen in MV Kontakt mit jüdischem Leben bekommen. Nun ist die jüdische Gemeinde in MV zahlenmäßig eine ganz kleine Gruppe mit etwa 1.200 Mitgliedern und auch von der Altersgruppe nicht so, dass junge Leute dazu automatisch eine Affinität haben. Aber es gibt ganz wunderbare Programme, beispielsweise eines unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten, wo junge Leute, junge Juden und Jüdinnen in die Schulen gehen und mit den Schülerinnen und Schülern ins Gespräch kommen. Das ist ein ganz gutes Beispiel. Der zweite Schwerpunkt Ihrer Arbeit ist die Stärkung der Aufarbeitungskultur. Wer arbeitet was auf und wie wollen Sie diese Kultur stärken?
Wir müssen mit den Umstand umgehen, dass die Zeitzeugen uns nicht mehr lange erhalten sind. Es werden immer weniger, die Konzentrationslager überlebt haben, und wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, wie wir diese schrecklichen Verbrechen der Nationalsozialisten in Erinnerung halten. Ich glaube, ein ganz wesentliches Mittel dazu wird sein, Schülerinnen und Schüler mit diesen Verbrechen zu konfrontieren. Der klassische Weg der Auseinandersetzung ist natürlich die Fahrt in Gedenkstätten. Es gibt aber auch noch andere Möglichkeiten, wie zum Beispiel eine faszinierende Ausstellung über die Ergreifung von Adolf Eichmann in Argentinien durch den Mossad. Das ist eine amerikanische Ausstellung, die zurzeit gerade für ein deutsches Publikum bearbeitet wird, und ich möchte sie in zwei Jahren unbedingt nach Mecklenburg-Vorpommern holen. Das wäre beispielsweise etwas, womit man junge Leute ansprechen und anhalten kann, sich mit der deutschen Geschichte auseinanderzusetzen. Der dritte Schwerpunkt Ihrer Arbeit, vermutlich der schwierigste, weil es ihn schon so lange gibt, ist die Bekämpfung des Antisemitismus.
Ja, das sehe ich genauso, vielleicht in einer unterschiedlichen Akzentuierung. Das eine ist der offensichtliche Antisemitismus. Damit kann man in der Auseinandersetzung eigentlich auch umgehen. Viel schwieriger ist die Auseinandersetzung mit dem subtilen, unbewussten Antisemitismus. Also beispielsweise mit den Redensarten, die Schülerinnen und Schüler sich auf dem Schulhof an den Kopf werfen und von denen sie gar nicht wissen, dass das antisemitische Äußerungen sind. Dieser unbewusste Antisemitismus, der wird meine ganze Aufmerksamkeit erfordern. Ich habe zum Beispiel darüber nachgedacht, dass die Lehrerinnen und Lehrer über ein Fortbildungsprogramm, das im Herbst auch in MV angeboten wird, die Möglichkeit erhalten, antisemitische Redewendungen zu enttarnen und zu dekodieren. So wie wir das in anderen Zusammenhängen mit der Sprache des Faschismus auch getan haben. Für Ihre Arbeit brauchen Sie Verbündete. Wen holen Sie da als Erstes ins Boot?
Es gibt erstaunlicherweise ein sehr breites Netzwerk von Menschen, von Institutionen, von Vereinen, die sich mit jüdischem Leben, aber eben auch mit der Bekämpfung von Antisemitismus befassen. Auf der Hand liegen die Regionalzentren für Demokratie und Toleranz, beispielsweise aber auch Kulturvereine wie der Verein zur Pflege der alten Synagoge in Stavenhagen oder in Hagenow, oder die Arbeit des Internationalen Jugendaustauschs in Röbel. Das sind alles potenzielle und wichtige Partner. Ich bin ganz sicher, da werden sich mannigfaltige Möglichkeiten zur Zusammenarbeit ergeben. Welche Rolle spielt der interreligiöse Dialog in Ihrer Arbeit?
Noch in diesem Monat findet die Jahrestagung der Gesellschaft für die Zusammenarbeit von christlichen und jüdischen Glaubensgemeinschaften hier in Schwerin statt. Dort werde ich ein Grußwort halten. Denn das ist eine ganz wichtige Brücke, die dort geschlagen wird und die wir gemeinsam bauen wollen. Gerade in diesen Zeiten, wo wir mit dem Krieg in der Ukraine zu tun haben, ist das besonders wertvoll. Wie können Glaubensgemeinschaften jetzt friedensstiftend wirken?
Das Wichtigste an den Glaubensgemeinschaften ist, dass sie Schwester und Brüder in allen Ländern haben. Das bedeutet, sie haben eine ganz natürliche Möglichkeit der Ansprache in andere Länder hinein, und das müssen wir unbedingt nutzen, um sozusagen eine Kultur des Friedens wachsen zu lassen. Ich gebe mich keinen Illusionen hin, dass dies kurzfristig möglich ist, beispielsweise in der Ukraine. Aber ich glaube, man darf dieses Pfund, was wir haben, nicht achtlos beiseitelegen. Das Interview mit Nikolaus Voss gibt es in voller Länge auf Youtube. MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!