Der Rostocker OB-Wahlkampf ist in der heißen Phase angekommen. Die Abstände zwischen Podiumsdiskussionen und Gesprächsrunden werden kürzer, die Gesichter der Kandidatinnen müder. Während Wahl- und Parteiprogramme an Bedeutung einbüßen, werden die persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten der Kandidatinnen wichtiger. Können sie führen, vermitteln, Lösungen finden, mit Kritik umgehen? Welchen Eindruck machen sie auf Wählerinnen? Das bietet gerade auch Einzelkandidatinnen eine Chance, die nicht von Parteien oder Wählergruppen unterstützt werden. Diese Chance sehen einige nun von der Ostsee-Zeitung (OZ) torpediert. Die Meinungsumfrage der OZ Die OZ veröffentlichte im Rostocker Lokalteil ihrer Wochenendausgabe vom 22./23. Oktober einen Artikel mit den Ergebnissen einer selbst in Auftrag gegebenen Meinungsumfrage zur Rostocker OB-Wahl. Demnach wollen 57 Prozent der befragten Personen keine der 17 Kandidatinnen wählen oder wissen bisher noch nicht, wen sie wählen werden. Bei etwa 173.000 Wahlberechtigten in Rostock eine große Menge Unentschlossener. Demgegenüber berichtet die OZ von 43 Prozent der Befragten, die sich laut Umfrage bereits für eine Kandidatin entschieden haben. In der Gunst der Wählerinnen weit oben stehen offenbar Eva-Maria Kröger (Die Linke) und der Einzelbewerber Michael Ebert, der von FDP, CDU und dem Rostocker Wählerbündnis UfR unterstützt wird. Jeweils 26 Prozent der bereits entschiedenen Wählerinnen würden eine der beiden Kandidatinnen wählen. Andere Einzelbewerberinnen hätten dagegen kaum eine Chance, so das Umfrageergebnis. Dieses veröffentlichte Meinungsbild, im Wahlkampf abgeschlagen zu sein, erbost manche OB-Kandidaten. Matthias Bräuer etwa nennt den OZ-Artikel „Meinungsmanipulation seitens der Medien“. Auch Kai Oppermann hält „eine Veröffentlichung zu diesem Zeitpunkt und in dieser Form“ für klare Meinungsmache. Károl Langnickel findet es „beschämend, dass die Kandidaten der Parteien explizit hervorgehoben werden“, und glaubt, dass die OZ „den Bürgerinnen und Bürgern suggeriert, dass die Wahl bereits entschieden wäre“. Jörg Kibellus und Holger Luckstein zeigen sich ebenfalls irritiert: „Es ist nicht genau nachzuvollziehen, wie und wo diese Umfrage wirklich erstellt wurde. Welche Stadtteile und Altersgruppen wurden befragt und wo und in welcher Form lief die Befragung ab?“, fragt Kibellus. Viel mehr als die aktuelle Stimmenverteilung beschäftigt ihn jedoch die große Zahl der noch unentschlossenen Wählerinnen. Repräsentativ – mit Fehlerquote Die veröffentlichte Umfrage wurde vom Meinungsforschungsinstitut Forsa durchgeführt. 750 Personen der rund 173.000 Wahlberechtigten wurden dafür befragt. Das ist nicht einmal ein halbes Prozent. Doch der Stichprobenumfang einer repräsentativen Umfrage muss nicht hoch sein. Wichtig ist, dass die Befragten ein Abbild der Grundgesamtheit, in diesem Fall also aller Wahlberechtigten Rostocks, darstellen. Nicht die Anzahl der Befragten, sondern die Methode der Umfrage ist demnach entscheidend. Auf Anfrage von KATAPULT MV hat Forsa nicht reagiert. Doch „die Umfrage scheint okay, da gibt es bei der Methodik nichts zu meckern“, erklärt Wolfgang Muno, Professor am Lehrstuhl für vergleichende Regierungslehre an der Universität Rostock. Allerdings weisen auch repräsentative Stichproben gewisse Fehlerspannen auf. Für die Größenordnung der Forsa-Umfrage ergibt sich eine Fehlerquote von sechs Prozent. Muno macht sich weniger Gedanken über die formale Umfrage als über ihre Auswertung. „Insbesondere dass nur 43 Prozent der Befragten eine Wahltendenz haben, ist für kategorische Aussagen doch sehr problematisch“, sagt er. Neben der Frage nach dem Kreuz auf dem Stimmzettel erhebt die Umfrage auch ein Meinungsbild zur Kompetenz der Kandidatinnen. Hier liegen Ebert und Kröger ebenfalls vorn, gefolgt von Carmen-Alina Botezatu (SPD), Claudia Müller (Bündnis 90/Die Grünen) und Einzelbewerber Kibellus. Letzterer weist darauf hin, dass diese Liste seiner Meinung nach nicht zur dargestellten klaren Führung bei der Stimmenverteilung passe. Eigene Umfrage für eine Schlagzeile? Neben einer Meinungsumfrage zur OB-Wahl veröffentlicht die OZ eine Anzeige des vermeintlich führenden Kandidaten Michael Ebert (Foto: Morten Hübbe) Gegenüber KATAPULT MV erklärt die OZ, dass es für Medien absolut üblich sei, „vor Wahlen Meinungsumfragen und Wahltrends zu veröffentlichen“. Außerdem weist sie auf das Renommee und die anerkannten wissenschaftlichen Standards bei Forsa hin. „Was daran Meinungsmache sein soll, erschließt sich uns nicht“, so die Zeitung. Einzelkandidat Oppermann sieht das anders: „Die OZ positioniert sich klar für Herrn Ebert. Auch in anderen Berichterstattungen ist das zu erkennen.“ Auch OB-Kandidat Niels Burmeister sieht die Berichterstattung der OZ kritisch. „Wenn man die Printausgabe der OZ in den Händen hält und unten links auf der Umfrageergebnisseite auch noch eine Anzeige von Herrn Ebert ist, fragt man sich natürlich, ob das Wort unabhängige auf der ersten Seite wirklich so gemeint ist.“ OB-Kandidat Robert Uhde hält ebenfalls wenig von der Meinungsumfrage. Ihn stört sowohl der Zeitpunkt der Veröffentlichung – drei Wochen vor der Wahl – als auch die inhaltliche Aufbereitung. In einem KATAPULT MV vorliegenden Brief fragt Uhde, ob die OZ Ebert als „Retterkandidaten“ gegen die „starke linke Kraft“ in Rostock aufbauen wolle. Auch die bereits von Burmeister kritisierte Anzeige Eberts in unmittelbarer Nähe der abgedruckten Umfrageergebnisse missfällt Uhde, der der OZ „unterste Boulevardzeitungsqualität“ attestiert. Tatsächlich ist Eberts Wahlkampfanzeige die einzige in dieser Ausgabe der Ostsee-Zeitung. Keine andere Kandidatin wirbt in ihr. Diese Anzeige in Kombination mit dem Umfrageergebnis räumt dem Kandidaten mehr Präsentationsfläche und damit eine übergeordnete Position im Blatt ein. Die OZ muss sich fragen lassen, warum sie überhaupt Anzeigen von OB-Kandidatinnen abdruckt und sich damit in ihrem Verbreitungsgebiet zum Instrument des Wahlkampfs Einzelner macht. Frage der Verantwortung Die OZ ist die mit Abstand wichtigste Tageszeitung in der Hansestadt Rostock. Auch wenn die Verkaufszahlen kontinuierlich schrumpfen, hatte sie im dritten Quartal 2022 eine Auflage von 34.400 Exemplaren. Die OZ besitzt kein Informationsmonopol, ist aber für viele Bestandskundinnen eine wesentliche Nachrichtenquelle. Die Zeitung bietet wie andere Lokalmedien eine soziale Orientierungsfunktion. Sie liefert Informationen und unterstützt den Meinungsbildungsprozess. Sie ist nah dran an den Menschen, der Region. Das verleiht ihr Authentizität und Glaubwürdigkeit. Beides kann verspielt werden, etwa dann, wenn parteinah berichtet wird. Natürlich ist es legitim, eine Meinungsumfrage zu einer Wahl in Auftrag zu geben und das Ergebnis zu veröffentlichen. Lediglich am Wahltag selbst sei es verboten, um den Wahlprozess nicht zu beeinflussen, erklärt Wolfgang Muno. „Früher hielten sich Umfrageinstitute vor Wahlen zurück“, das habe sich mittlerweile geändert, stellt er fest. Stimmungsbild oder Beeinflussung? Ob eine veröffentlichte Meinungsumfrage tatsächlich einen Effekt habe, sei aus wissenschaftlicher Sicht nicht eindeutig geklärt. Unterschiedliche Theorien stehen sich gegenüber. Wenn Meinungsumfragen Einfluss nehmen, dann auf Wechselwählerinnen und Unentschlossene. Beide Gruppen wachsen seit Jahren deutlich und auch in Rostock haben sich kurz vor der OB-Wahl viele Menschen noch nicht entschieden. Die Meinungsumfrage könne also eine Wirkung haben, hält Muno fest. Der Politikwissenschaftler berichtet von sich widersprechenden Annahmen in der Wissenschaft, die alle nicht empirisch gesichert seien. So gebe es sowohl die Tendenz, die in Führung liegenden Kandidatinnen zu wählen, um auf der sicheren Seite zu stehen, als auch gerade die Kandidatinnen zu unterstützen, die schwach erscheinen. Hier werden „gewisse Mobilisierungseffekte behauptet, die sich widersprechen“, so Muno. Die Rolle von Umfragen bei Wahlentscheidungen ist unklar. Als Stimmungsbilder erzielen sie allerdings ein großes Interesse. Umfragen machen Kandidatinnen sichtbar. Gerade für die OB-Wahl in Rostock mit einem großen Kreis an Bewerberinnen ist das wichtig. Mit der Meinungsumfrage erhalten die Kandidatinnen nicht nur Sichtbarkeit, sondern werden auch hierarchisch geordnet. Moderate Töne Es gibt allerdings auch OB-Kandidatinnen, die entspannt auf die Umfrageergebnisse in der OZ reagieren. Niklas Zimathis findet es gut, dass ein Stimmungsbild vor der Wahl dargestellt wird, und hofft, dass sich viele Unentschlossene mit allen Kandidatinnen beschäftigen. „Natürlich ist es bei dieser schieren Zahl der Kandidaten schwierig, daraus die wirkliche Stimmung abzuleiten“, findet er auf Nachfrage. OB-Kandidat Roland Ulrich hätte sich statt einer Prognose gewünscht, dass alle OB-Kandidatinnen die Gelegenheit erhalten, „sich in der Ostsee-Zeitung zu präsentieren“ und das eigene Wahlprogramm vorzustellen. Ulrich verweist ebenfalls auf die vielen Unentschlossenen, die es nun zu überzeugen gelte. Die Pressestelle der SPD, die für OB-Kandidatin Botezatu die Öffentlichkeitsarbeit übernimmt, gibt sich betont gelassen und sieht „wenig Abstand zwischen Michael Ebert, Eva-Maria Kröger und Carmen Botezatu“. Viele Unentschiedene wolle man bei der SPD noch gewinnen. „Die bisherigen Werte sind stark und zeigen, dass wir mit Carmen Botezatu in kürzester Zeit ein überzeugendes Angebot gemacht haben.“ Niedrige Wahlbeteiligung erwartet Von den insgesamt 750 Befragten geben elf Prozent an, ihre Stimme einer der beiden aussichtsreichen Kandidatinnen geben zu wollen. In absoluten Zahlen sind das etwa 83 Stimmen für jede Kandidatin, hochgerechnet etwa 19.000 Stimmen. Am 13. November wird in Rostock gewählt. „Viele Rostocker Wähler werden sich kurzfristig entscheiden, wobei die Wahlbeteiligung sicherlich niedrig sein wird“, glaubt Muno. Als Ursachen sieht der Politikwissenschaftler eine allgemeine Krisenstimmung und Unzufriedenheit, aber auch die vorgezogene Neuwahl und die damit verbundenen Kosten. Auch die Anzahl der Kandidatinnen zieht Muno in Betracht. „Bei 17 Kandidaten fällt es sehr schwer, den Überblick zu behalten.“ Eine mögliche Stichwahl folgt am 27. November, falls es keiner Kandidatin gelingt, im ersten Wahldurchgang mehr als 50 Prozent der Stimme zu gewinnen. Eine Vorstellung aller Kandidierenden hat KATAPULT MV hier zusammengestellt. MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!