Greifswald, Friedrich-Loeffler-Straße, im Präparationssaal des Anatomischen Instituts: Es riecht streng nach Paraformaldehyd, dem Konservierungsmittel, mit dem die gespendeten Körper haltbar gemacht werden. Hier wird an ihnen gearbeitet – geforscht. Auf den insgesamt zwölf Tischen liegen die Körper, erst auf dem Bauch, später – im Verlauf des Kurses – auf dem Rücken. Die Gesichter sind bedeckt. Um jeden Tisch stehen etwa fünf Studierende. Eine von ihnen ist Friederike Birr. Sie studiert Medizin, hat zuvor als Krankenschwester in der Uniklinik gearbeitet. Für sie ist das, was sie da macht, trotzdem Neuland: „Es sind Verstorbene und man kann und soll an ihnen lernen“, sagt sie. Davor habe sie nach wie vor Respekt. „Es war ja mal ein Mensch, der seinen Körper nach dem Tod nun uns zur Verfügung stellt.“ Seinen Körper für die Forschung spenden Die Spende des eigenen Körpers erklärt man zu Lebzeiten selbst. Das geschieht direkt bei den Anatomischen Instituten der Universitäten. In MV sind es die in Rostock und Greifswald. Dort werden Interessierte in Vorabgesprächen umfassend informiert, erzählt Markus Kipp, Direktor des Instituts für Anatomie in Rostock. Nach der Unterzeichnung eines Vermächtnisses bekommen die Spender:innen einen Körperspendeausweis, ähnlich wie bei der Organspende. Die Bereitschaft kann jederzeit ohne Begründung widerrufen werden. Die Gründe, warum sich Menschen für eine Körperspende entscheiden, „sind mannigfaltig“, sagt der Anatomieprofessor. Oft sei es die Sicherheit, dass sich gekümmert werde. Die Kinder seien meist weggezogen und sollen nicht weiter belastet werden. Wer sich zu einer Körperspende entscheidet, zahlt in MV eine Selbstbeteiligung von 1.000 Euro. Die Anatomischen Institute übernehmen alle weiteren anfallenden Kosten und kümmern sich schließlich um die Bestattung. So habe eine Körperspende für die Hinterbliebenen auch eine gewisse finanzielle Entlastung, führt Kipp an. Das sei den Spender:innen in der Regel wichtig. Noch wichtiger aber, dass ihr Körper nach ihrem Tod eine Hilfe sein kann, erzählen viele in den Vorgesprächen. In Rostock gibt es pro Jahr 80 bis 90 Spenden. In Greifswald etwa die Hälfte. Das sei für die Institute absolut ausreichend, heißt es von beiden. Weil es sonst zu viele gäbe, wurde der Einzugsbereich für Rostock vor ein paar Jahren auf einen Radius von 50 Kilometern begrenzt, in Greifswald sind es sogar nur 20 Kilometer. Was passiert nach dem Tod? Nach dem Tod wird der gespendete Körper in das jeweilige Institut gebracht und fixiert, das heißt mit Paraformaldehyd konserviert. Das dauert laut Markus Kipp bis zu einem Dreivierteljahr. Danach kann der Körper für Ausbildungszwecke genutzt werden. Knapp ein Jahr arbeiten Studierende im Rahmen von Präparationskursen an einigen der Körper. Weitere werden für OP-Kurse und Weiterbildungen von Ärzt:innen sowie zur Forschung verwendet. In Rostock zum Beispiel forscht man mithilfe der Körperspender:innen zu Multipler Sklerose, einer chronischen Entzündung des Nervensystems. Da die Körperspender:innen weitgehend gesund waren, könne man gute Vergleiche zu erkrankten Nervensystemen ziehen, erklärt Kipp. Unter anderem wird an der Uniklinik Rostock so an der Entwicklung von Medikamenten gearbeitet. In Greifswald gibt es klinische Forschungsprojekte, etwa zur Gefäßversorgung für plastische Operationen, sagt Institutsdirektor Professor Karlhans Endlich. Nach etwa zwei Jahren werden die Körper dann beigesetzt. Eine Gedenkfeier richten traditionell die Studierenden aus, die im vergangenen Jahr an ihnen gelernt haben. In Greifswald gibt es auf dem Alten Friedhof ein Urnenfeld. In Rostock entscheiden sich die Spender:innen im Vorfeld zwischen einer Seebestattung, der Beisetzung auf dem Urnenfeld in Kühlungsborn oder einem Friedwald. Und was ist mit Organspende? Einen Mangel an Körperspenden gibt es also nicht, an Organen dagegen schon. Im vergangenen Jahr warteten laut einer Statistik der Techniker-Krankenkasse 199 Menschen in MV auf eine Spende, acht mehr als zum gleichen Zeitpunkt im Vorjahr. 2013 standen sogar 302 Personen auf der landesweiten Warteliste. Im vergangenen Jahr wurden in MV insgesamt 73 Organe transplantiert, fasst die Deutsche Stiftung für Organtransplantation in ihrem aktuellen Jahresbericht zusammen. Demnach waren es vor allem Nieren, gefolgt von Leber, Herz, Lunge und Bauchspeicheldrüse. Die Warteliste endet aber nicht. Zuletzt benötigten noch 160 Menschen eine Spenderniere, 18 ein neues Herz, 16 eine neue Leber, fünf eine Lunge und acht eine Bauchspeicheldrüse. Drei der potenziellen Organempfänger:innen seien Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, so die Bilanz von Techniker-Krankenkasse und Eurotransplant. Grundsätzlich werden mehr Organe für Lebende als Körper für die Wissenschaft gebraucht, erklärt Professor Kipp. Eigentlich könnte die Zahl an Organspender:innen auch höher sein. Immerhin können sich zu einer Organspende bereits jüngere Personen entscheiden, eine Körperspende ist erst ab 50 Jahren möglich. Die große Bereitschaft, den ganzen Körper nach dem Tod zu spenden anstatt sich zu einer Organspende zu entscheiden, erklärt er damit, dass viele nach wie vor die Sorge hätten, dass bei einer hohen Nachfrage an Spenderorganen bei einem Unfall verfrüht der Tod festgestellt wird. Das aber sei absolut unbegründet, betont Kipp, dafür gebe es einen umfangreichen Kodex. Einen weiteren Grund sieht er darin, dass sich ältere Menschen stärker mit dem Tod auseinandersetzen als jüngere. Laut der Landeschefin der Techniker-Krankenkasse, Manon Austenat-Wied, ist es aber nach wie vor für alle ab 18 Jahren wichtig, sich mit dem Thema Organspende zu beschäftigen, eine Entscheidung zu treffen und diese auf einem Organspendeausweis zu dokumentieren. Dadurch werde den Hinterbliebenen diese wichtige Entscheidung abgenommen. Die Hinterbliebenen der Körperspender:innen Das geht auch den Angehörigen der Körperspender:innen so. Sie brauchen jedoch Geduld, bis die Körper ihrer verstorbenen Angehörigen beigesetzt werden können, erzählt Medizinstudent Valentin Ahlhaus. Bei der jährlichen Gedenkfeier im Greifswalder Dom komme er häufig mit ihnen ins Gespräch. Dabei merke man, dass sie froh seien, endlich einen Ort zu haben, wohin sie gehen und Abschied nehmen können. Das fordere Durchhaltevermögen. Grundlegende Kritik an Körperspenden habe er von ihnen aber noch nicht gehört. „Medizinische Ausbildung ohne Körperspenden ist einfach nicht denkbar“ Ahlhaus ist Medizinstudent im fünften Semester und Tutor im Präparierkurs. Er ist froh, dass die Kurse wieder in Präsenz stattfinden können. Im Semester 2020/21 konnten die Studierenden den Kurs nur online verfolgen. Das sei „absolut nicht vergleichbar“. Deshalb hatte es für sie im letzten Sommer die Möglichkeit gegeben, den Präparationskurs zu wiederholen – alle hätten die Chance genutzt. Selbst zu präparieren sei einfach unersetzlich, sagt Ahlhaus. Ihm selbst habe es im Studium enorm geholfen. Auch jetzt noch lerne er immer wieder neue Zusammenhänge. Das sieht auch Anatomieprofessor Kipp so. Trotz der vielen digitalen Alternativen könne sich das Gehirn komplexe Zusammenhänge besser mit haptischen Erlebnissen einprägen. Digitale Anatomie sei eine sehr gute Ergänzung. Aber im Zentrum stehe beim Studieren an Verstorbenen auch eine emotionale und psychologische Komponente. Man wachse auch daran. „Sicherlich brauchen nicht alle Mediziner:innen das umfangreiche dreidimensionale Fachwissen, was wir hier lernen“, räumt Valentin Ahlhaus ein, „aber Chirurgen zum Beispiel – wenn die aus dem Studium gehen würden, ohne jemals einen echten Menschen gesehen zu haben, fände ich das schwierig.“ Dieser Text erschien in Ausgabe 5. MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!