Beschissen“ geht es dem Cutter im Nordex-Werk in der Hinrichsdorfer Straße in Rostock. „Man hatte was für die Zukunft sicher.“ Dachte er zumindest. Doch bereits seit Mitte Februar gingen Gerüchte in der Belegschaft um, dass der Standort zur Fertigung von Rotorblättern von Windkraftanlagen geschlossen werden soll. Am 28. Februar wurde es dann Gewissheit: Der Vorstandsvorsitzende von Nordex erklärte den Angestellten, dass sich die Windradproduktion in Deutschland nicht mehr rechne. „Die Kosten sind viel zu hoch. In Indien beträgt der Stundenlohn zwischen 1,20 und 1,50 Euro. Wir verdienen zwischen 12 und 15 Euro – ohne Zuschläge.“ Hinzu kämen gestiegene Materialkosten und hohe Zollabgaben. Standort nicht wettbewerbsfähig „Die Belieferung der globalen Projekte mit in Rostock produzierten Blättern ist am wenigsten wirtschaftlich“, heißt es dazu von Unternehmenssprecher Felix Losada. 2021 seien etwa 60 Prozent der in Rostock produzierten Blätter exportiert worden. Ein weiterer Grund für die Entscheidung sei die Verschiebung der Nachfrage hin zu größeren Blättern. In Rostock werden Rotorblätter mit einer Länge von 74,5 Metern hergestellt, nachgefragt werden hingegen die leistungsstärkeren Rotorblätter mit 81,5 Metern Länge. Und auch der Bedarf in Deutschland an den großen Blättern liege bei unter fünf Prozent und spreche so gegen den Standort – er sei weder wirtschaftlich noch wettbewerbsfähig. „Um auch zukünftig wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen wir mit unseren Wettbewerbern preislich mithalten, die diesen Schritt bereits alle zuvor gegangen sind“, heißt es vom Nordex-Sprecher. Genehmigungszeiten für Windräder in MV am längsten Seit Jahren ziehen sich Windradbauer aus Deutschland zurück. Auch der Ausbau stockt seit Jahren: 2021 wurden in MV lediglich 19 neue Anlagen ans Netz gebracht. Zeitgleich wurden 17 alte abgebaut. Aktuell gibt es weniger als 2.000 Windräder im Land. Gleichzeitig hat die Ampel-Bundesregierung in ihrem sogenannten Osterpaket die Ausbauziele für erneuerbare Energien stark angehoben: Ihr Anteil am Stromverbrauch soll auf 80 Prozent im Jahr 2030 verdoppelt, die Geschwindigkeit beim Ausbau verdreifacht werden. Auch MVs Wirtschaftsminister Reinhard Meyer (SPD) will die Fläche für Windkraftanlagen von 0,7 auf 2 Prozent fast verdreifachen. Schwierig angesichts der Genehmigungszeiten für Windräder im Land, die bundesweit mit am längsten sind. Stefan Schad hält daher die Entscheidung des Unternehmens für unlogisch. „Wir brauchen die Kapazitäten in Europa“, sagt der Geschäftsführer der IG Metall Rostock-Schwerin. Letztes Rotorblattwerk Deutschlands „Erneuerbare Energien sind Freiheitsenergien“, sagte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) drei Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine. Einen Tag später kündigte Nordex an, sein Werk für die Blattfertigung in Rostock zum 30. Juni zu schließen. Und damit das letzte Rotorblattwerk Deutschlands. Die bisher in Rostock gefertigten Blätter würden künftig von Fabriken und Drittanbietern in der Türkei, Spanien, Mexiko und Indien hergestellt. Auch in Brasilien werden Blätter für Nordex gefertigt. „Wenn man es ernst meint mit den erneuerbaren Energien, müssen diese aus der Nähe kommen. Sonst ist das auch nicht ökologisch“, sagt Schad. Mit der Schließung des Nordex-Werkes gebe es in Deutschland kein einziges Blattwerk mehr. So müssten für den Windkraftausbau hierzulande die über achtzig Meter langen Blätter auf Frachtern quer über den Globus verschifft werden. Das sei weder ökologisch noch günstig. Rostocks Sozialsenator Steffen Bockhahn (Linke) hält diese Geschäftspolitik für veraltet. „Wer nach den aktuellen Entwicklungen nur auf die Lohnkosten guckt und nicht auf stabile Lieferketten, eine stabile Rohstoffversorgung und darauf, dass man auch in ungefährer Nähe zum eigentlichen Markt produziert, hat doch komplett verpennt“, sagte Bockhahn bei der Demonstration von 200 Nordex-Angestellten am 11. April. Schließung nicht mehr abzuwenden Nicht vor Ort bei der ersten Kundgebung gegen die Werksschließung war der damalige Oberbürgermeister Rostocks, Claus Ruhe Madsen (parteilos). Doch auch er kritisierte die Schließung und unverantwortliches Handeln von Nordex in einer Pressemitteilung: „Wir können es nicht kampflos hinnehmen, wenn ganze Branchen Deutschland und Europa den Rücken kehren und ihre Fertigungen auf Kontinente verlagern, die nur einen Bruchteil der hiesigen Löhne und Gehälter zahlen!“ Die Hoffnung darauf, dass das Unternehmen seine Entscheidung noch mal überdenken wird, war mittlerweile bei allen Beteiligten erloschen. „Wir werden in den kommenden Wochen alles daransetzen, um mit dem Betriebsrat einen fairen Interessenausgleich und Sozialplan zu verhandeln, um den geplanten Stellenabbau für alle Betroffenen so sozialverträglich wie möglich zu gestalten“, hatte der Nordex-Sprecher im April gesagt. „20 Jahre den Arsch aufgerissen“ Eine Abfindung sei den Angestellten zu Beginn bereits angeboten worden, sagt der Nordexianer. 4.000 Euro brutto. „Dann kommen da noch Steuern drauf und dann kann man sich ja ausrechnen, was übrig bleibt“, sagt der Cutter resigniert. „Darauf lassen wir uns nicht ein.“ Auch der Betriebsratsvorsitzende Thomas Theuer und Stefan Schad von der IG Metall empfinden diese Summe als einen Schlag ins Gesicht der Belegschaft. Sie fordern „eine wertschätzende Abfindung für die Kollegen, die sich 20 Jahre den Arsch aufgerissen haben“, wie es Schad bei der Kundgebung ausdrückte. Außerdem fordern Betriebsrat, Gewerkschaft und Belegschaft, dass Nordex den Weg freimacht für einen anderen Investor, der Standort und Beschäftigte übernimmt. „Wir bestehen darauf, dass Nordex zu einem fairen und angemessenen Preis schnell verkauft, damit hier weiterproduziert werden kann“, sagt Bockhahn. Interessenten sind laut IG Metall aber noch nicht in Sicht. Darüber hinaus fordert Schad eine Transfergesellschaft, die für mindestens zwölf Monate den Übergang zu einem neuen Arbeitgeber sichert. Deindustrialisierung MVs Nordex gebe mit der Schließung des Rostocker Werks seine Kernkompetenz ab, sagt Schad. Das Rotorblattwerk in Rostock war immer das Vorzeigewerk von Nordex mit bester Qualität und höchster Kompetenz. Stefan Schad, Geschäftsführer der IG Metall Rostock-Schwerin Er sieht darin auch die Deindustrialisierung fortschreiten. Auch der Baumaschinen- und Motorenhersteller Caterpillar schließt seinen Standort in Rostock und setzt damit 130 Menschen an die Luft. Der Schiffsbauer MV-Werften ist insolvent und damit 1.800 Arbeitsplätze in Rostock, Stralsund und Wismar gefährdet. MVs Wirtschaftsminister Reinhard Meyer (SPD) sieht in der Schließung des Werks nicht nur einen „harten Schlag“ für den Industriestandort MV: „Die Einstellung der Produktion ist nicht nur eine Angelegenheit Mecklenburg-Vorpommerns, sondern trifft die Energiewende bundesweit. Damit gibt es kaum noch Produzenten von Windkraftanlagen in Deutschland. Das ist auch ein Rückschlag für die Umsetzung der Energiewende insgesamt und die Wertschöpfungskette in Deutschland.“ Auch Johann-Georg Jaeger, Vorsitzender des Landesverbands Erneuerbare Energien (LEE MV), sagt: „Wir schließen dieses Werk, obwohl wir wissen, in ein zwei Jahren werden wir jedes Rotorblatt brauchen – und zwar die aus Indien und aus Deutschland.“ Schließung der Gondelproduktion befürchtet Die Stimmung im Werk war die letzten Monate zwischen Hiobsbotschaft und Werksschließung nicht mehr dieselbe. Direkt nach der Hiobsbotschaft sei ruhiger in der Halle geworden: „Von 100 Prozent sind jetzt vielleicht noch 60 vor Ort“, sagte der Angestellte im April. Viele seien krank geworden, andere hätten gleich die Kündigung eingereicht. Die läppische Abfindungssumme konnte daran auch nichts ändern. 8.600 Menschen waren bei Nordex angestellt, 3.150 davon in Deutschland. 600 in Rostock haben nun ihren Job verloren. Das Unternehmen hat noch ein weiteres Werk in Rostock, zur Montage der Gondeln, an die die Rotorblätter angeschlossen werden. Das Werk in der Südstadt mit etwa 1.100 Angestellten soll weiterhin bestehen bleiben. Die Belegschaft mag das nicht so recht glauben: „Wir spekulieren, dass das auch nicht mehr lange bestehen bleiben wird“, sagt der Nordexianer. „In einem Jahr sind die bestimmt auch weg.“ Auch Schad sagt: „Sich dort sicher zu fühlen, ist ein Trugschluss.“ Für die Gondelfertigung gebe es ebenfalls einen Kapazitätsaufbau in Übersee. „Schließung des Werks eine Katastrophe“ Der Cutter mache sich dagegen keine Sorgen um seine Zukunft: „Ich kann mich mit meinen Qualifikationen gut woanders bewerben.“ Außerdem sei er jung. „Andere sind fünf Jahre vor ihrem Renteneintritt. Viele arbeiten schon seit 20, 25 Jahren hier.“ Für die sei es schwer, einen neuen Job zu finden. Während hoch qualifizierte Ingenieur:innen sehr gute Chancen auf einen Arbeitsplatz hätten, sehe das bei den Facharbeiter:innen des Produktionswerks anders aus, so Schad. „Für die Kollegen ist die Schließung des Werks eine Katastrophe.“ Dieser Artikel erschien in Ausgabe 7 und wurde für die Onlineversion geringfügig aktualisiert. MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!