Das Neun-Euro-Ticket hat den Blick geschärft. Seit alle für wenig Geld mit dem öffentlichen Nahverkehr unterwegs sein können, tritt die problematische Situation des ÖPNV im Land deutlich hervor. „Wir befinden uns gerade in einer Art Testphase, in der wir sehen, dass der ÖPNV nur unzureichend funktioniert“, erklärt Jan Bleis, Vorstand Markt und Technik der Rostocker Straßenbahn AG. In Meck-Vorp werden üblicherweise nur rund sieben Prozent aller Wege mit dem ÖPNV zurückgelegt. Bundesweit sind es dagegen zehn Prozent. „Das klingt nach keinem großen Unterschied, aber in absoluten Zahlen ist das enorm“, weiß Bleis. Das Neun-Euro-Ticket zeigt auch, dass vor allem preisliche Hürden für eine unterdurchschnittliche Nutzung des Nahverkehrs sorgen. Unter Berücksichtigung der herkömmlichen Fahrtkosten sei es kein Wunder, so Bleis, dass der ÖPNV kaum genutzt wurde. Auch die Erreichbarkeit des ÖPNV ist in MV eine Herausforderung. Mehr als jeder Fünfte im Land hat nach den Kriterien des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung einen unzumutbaren Weg zu Bushaltestellen und Bahnhöfen. Damit ist MV bundesweit Schlusslicht. „Es gibt genug Ideen, um die Situation zu verändern“, erklärt Bleis, der als Branchenexperte des öffentlichen Personennahverkehrs für die Sparten Straßenbahn, Bus und Eisenbahn gilt. Allerdings hapere es an der Umsetzung und vielleicht sogar am politischen Willen, den ÖPNV in großem Stil neu zu gestalten. Finanzierung überfordert Kommunen Die Sicherstellung des ÖPNV ist Aufgabe der Landkreise und kreisfreien Städte. Dazu gehören der Nahverkehr auf der Straße ebenso wie Straßen- und U-Bahnen. Abhängig von der Finanzsituation der einzelnen Kommunen schwankt das Angebot des ÖPNV erheblich. Obwohl der ÖPNV seit ein paar Jahren an politischer Bedeutung gewinne, sei die direkte Unterstützung vom Land überschaubar, kritisiert Bleis. Gleichzeitig mahnt er, dass eine Verkehrswende so nicht gelingen könne. In der Fläche wird der öffentliche Nahverkehr als Verkehrsmittel für Berufswege kaum genutzt, auch weil mehr als 70 Prozent aller Menschen in Meck-Vorp im ÖPNV keine Alternative zum PKW sehen. Wer auf dem Land dagegen kein Auto zur Verfügung hat oder nicht fahren kann, ist auf den ÖPNV angewiesen. Das betrifft vor allem Menschen mit finanziell begrenzten Möglichkeiten sowie körperlichen oder geistigen Einschränkungen. Schülerverkehr maßgeblich Auch die Nachfrage bestimmt das Angebot des ÖPNV, der über Jahre hinweg auf den Schülerverkehr zurechtgeschrumpft wurde. Diese Fahrten werden von den Landkreisen als Schulträgern in Auftrag gegeben. Alle weiteren Angebote des Nahverkehrsplans hängen vom finanziellen Spielraum des jeweiligen Verkehrsunternehmens ab. Auch deshalb sind viele große Busse des ÖPNV meist leer unterwegs. Als Schülerbusse erreichen sie ihre Kapazitätsgrenzen, doch außerhalb dieser Stoßzeiten befördern sie kaum Gäste. Was zunächst wenig nachhaltig wirkt, folgt strikt wirtschaftlichen Überlegungen. Die Personalkosten machen etwa 70 Prozent der Gesamtkosten im Busbereich des ÖPNVs aus. Statt die Flotte mit zusätzlichen kleineren Fahrzeugen zu ergänzen, ist es finanziell lohnender, große Busse durch kleine Dörfer zu schicken. Die mangelnden finanziellen Ressourcen der Kommunen führen außerdem dazu, dass bestimmte Strecken zu bestimmten Zeiten nicht mehr befahren werden. Bleis berichtet beispielhaft von Fischland-Darß, wo es Arbeitnehmer:innen im Gastronomie- und Tourismusgewerbe nicht möglich ist, mit dem ÖPNV zwischen Wohn- und Arbeitsort zu pendeln, weil vor Dienstbeginn oder nach Dienstschluss keine Linien verkehren. Rügen als Vorzeigeregion Die Insel Rügen sei dagegen eher eine Vorzeigeregion für den ÖPNV, besonders in den stark touristisch geprägten Regionen wie der Halbinsel Mönchgut. Dort sind Linienbusse in der Saison im Halbstundentakt unterwegs. Andere Regionen wie die nördliche Halbinsel Wittow werden dagegen nur in einem Zweistundentakt vom ÖPNV befahren. Was nach wenig Mobilität klingt, gehört noch immer zu den besseren Verbindungen in Meck-Vorp. „Auf ganz Rügen Busse im Stundentakt anzubieten, wäre Luxus“, erklärt Jan Bleis. Die Verkehrsgesellschaft Vorpommern-Rügen (VVR) ist dort für den ÖPNV zuständig. Sie unterhält eine eigene Busflotte mit eigenen Fahrer:innen und beschäftigt zudem Subunternehmen in der Region. Alle fünf Jahre können sich Unternehmen auf Ausschreibungen bewerben. „Ich denke, dass wir für die VVR günstiger sind als mehr eigenes Personal und eine größere eigene Flotte“, berichtet ein Subunternehmer, der nicht namentlich genannt werden möchte. Etwa 70 Prozent seines Umsatzes verdient er mit Fahrten im ÖPNV. Kosten für Fahrzeuge, Wartung und Pflege, Personal inklusive Zuschläge übernimmt der Subunternehmer, die Dienstpläne kommen von der Verkehrsgesellschaft. Auch der Subunternehmer merkt das zusätzliche Fahrgastaufkommen durch das Neun-Euro-Ticket. Mehr Gäste bedeuten auch mehr Belastung. „Jetzt fahren Personen mit, die eigentlich nirgendwo hinwollen“, erzählt er. „Die sitzen drin und gucken aus dem Fenster und an der Endstation fahren sie wieder zurück.“ Je mehr Fahrgäste an den Bushaltestellen einsteigen, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit für Verspätungen. Anschlüsse an Umsteigeplätzen müssen warten. Das ist die oberste Prämisse des ÖPNV auf dem Land, denn wenn Fahrgäste einen Anschluss verpassen, stranden sie oft für mehrere Stunden. „Im Sommer sind dieStraßen voll. Dann sind Verspätungen sehr schwer aufzuholen“, weiß der Subunternehmer. Kritik an Dienstgestaltung Er kritisiert die Gestaltung der Dienste und beklagt viele Leerkilometer, die er ohne Linie, also außerhalb des Fahrplans, fahren müsse. Zwar werden auch diese Strecken von der Verkehrsgesellschaft bezahlt, seien aber dennoch unnötig. Auch Dienstunterbrechungen tragen nicht zur Attraktivität des Berufs bei. „An manchen Tagen muss ich vier Stunden zwischen zwei Fahrten warten“, berichtet der Subunternehmer. Daran lässt sich offenbar kaum etwas ändern. „Dann heißt es bloß, der Computer lege die Fahrpläne fest.“ Die Dienstzeiten schrecken notwendiges neues Personal ab.Der Subunternehmer berichtet von Schichten, die um 5.56 Uhr beginnen und 18.30 Uhr enden, bei zwei Stunden Dienstunterbrechung am Tag. Solche Dienste wiederholen sich acht bis zehn Tage und werden dann von zwei bis vier freien Tagen abgelöst. „Bei solchen Schichten bist du am Ende des Tages platt“, sagt der Subunternehmer. Auch Bleis weiß um die Personallücke im öffentlichen Nahverkehr und die unattraktiven Dienste. Die Arbeitnehmer:innen der starken Jahrgänge gehen nach und nach in den Ruhestand. Die Personalsituation wird schleichend schwieriger. Bleis führt auch veränderte Ansprüche der Arbeitnehmer:innen an, die keine Schichtdienste annehmen wollen. Doch wenn es ein ausgeweitetes Angebot im ÖPNV geben soll, das auch in den Abendstunden sinnvoll nutzbar ist, braucht es Fahrer und Fahrerinnen, die bereit sind, in diesen Schichten zu arbeiten. Mehr Personal sei dringend notwendig. Doch der ÖPNV sieht sich weiteren Herausforderungen gegenüber. „Wir haben alle Hände voll zu tun, um das bestehende Angebot aufrechtzuerhalten“, sagt Bleis. Die steigenden Strom- und Energiekosten setzten die Verkehrsunternehmen unter Druck. Außerdem stehen neue Tarifrunden an, die eine Erhöhung der Personalkosten mit sich ziehen werden. Unzureichende Bahninfrastruktur „Wenn ich aus einem Dorf, das etwa zehn Kilometer von Grimmen entfernt liegt, mit dem ÖPNV nach Rostock möchte, gelingt mir das auf der Schiene nur über den Umweg nach Stralsund“, beklagt Bleis. Die Streckenpläne seien oft nicht attraktiv genug, um Menschen vom ÖPNV zu überzeugen. Bus und Bahn müssen dabei arbeitsteilig funktionieren. Die Bahn hat den Vorteil der direkten und deutlich schnelleren Verbindung. Der Bus biete den Anschluss in die Fläche und fungiere als Bindeglied zwischen kleinen und mittleren Zentren. Aber auch beim Nahverkehr auf der Schiene sieht Bleis Lücken, die nicht angegangen werden. „Die Infrastruktur ist eine Frage der Priorität“, stellt er fest. Zuständig ist hier die DB Netz, der als Tochterunternehmen der Deutschen Bahn der Streckenausbau obliegt. Wie unzureichend das Streckennetz in Teilen sei, erklärt Bleis am Beispiel der Strecke Rostock–Stralsund, die zu den wichtigsten Verbindungen im Land gehört. Ein Einstundentakt im Nahverkehr wäre hier aufgrund des Fahrgastaufkommens angebracht. Allerdings liegt nur ein Gleis auf der Strecke, die zudem vom Fern- und Güterverkehr genutzt wird. Um einen Einstundentakt im Nahverkehr zu ermöglichen, sei ein zweites Gleis notwendig, so Bleis. Doch der Ausbau der Infrastruktur findet nicht statt, weshalb im Nahverkehr weiterhin nur ein Zweistundentakt angeboten wird. Der Streckenausbau ist auch an anderer Stelle ungenügend. Die Strecke Stralsund–Neubrandenburg können Züge maximal mit einer Geschwindigkeit von 100 km/h befahren. Auf der Strecke Stralsund–Greifswald–Pasewalk ist bisher eine Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h möglich. Die Strecke Rostock–Berlin kann dagegen mit einer Geschwindigkeit von 160 km/h befahren werden. Hier ist die Bahn mit dem PKW konkurrenzfähig. Für die Strecke Stralsund–Berlin ist sie es mit einer Fahrzeit von drei bis dreieinhalb Stunden nicht. Teil der Daseinsvorsorge In der Fläche fehlt ein attraktiver ÖPNV. Das Auto ist hier nicht nur selbstverständlich, sondern auch notwendig. Soll die Verkehrswende gelingen, braucht es eine Kraftanstrengung von Bund, Land und Gemeinden. Letztere schaffen das nicht allein, erklärt Bleis. Der Bund ist nach dem Grundgesetz zwar nicht für den öffentlichen Nahverkehr zuständig, muss jedoch im Rahmen der Daseinsvorsorge dafür sorgen, dass Bürgerinnen und Bürger überall im Land am Leben teilnehmen können. Dazu gehört auch die Gewährleistung der Mobilität. Außerdem hat der Bund eine Verantwortung beim Klimaschutz, weshalb die Verkehrswende in seinen Handlungsbereich fällt. „Wir müssen in MV aber auch realistisch bleiben“, gibt Bleis zu bedenken. Der ÖPNV ist nicht überall wirtschaftlich. Die Nachfrage reicht in der Fläche nicht aus. Doch ein Grundnetz im Stundentakt auf den wichtigen Strecken gehört für ihn zweifellos dazu. „Dass die Strecke Rostock–Schwerin–Hamburg fast nur im Zweistundentakt angeboten wird, ist eine Katastrophe“, sagt Bleis und ergänzt, dass mit dem Neun-Euro-Ticket auf dieser Strecke jeder Zug überlastet sei. In dünn besiedelten Gebieten müsse ein Zweistundentakt im ÖPNV genügen. In der tiefen Fläche sollten Rufbusse den ÖPNV ergänzen und auf schnellem Weg zum nächsten Verkehrsknotenpunkt fahren. Rufbusse unterstützen in der Fläche Die Koalitionsvereinbarung von SPD und Linkspartei sieht zwei wesentliche Aufgaben, um den ÖPNV im Land zu stärken. Neben der Fortsetzung des Azubi-Tickets für 365 Euro pro Jahr soll ein vergleichbares Seniorenticket eingeführt werden. Außerdem plant die Landesregierung, mit einem ausgedehnten Rufbussystem mehr öffentliche Mobilität zu ermöglichen. „Beide Ziele kosten viel Geld und reichen trotzdem nicht aus“, urteilt Bleis. Ein landesweites Rufbussystem lasse sich nicht so einfach einführen. Zunächst müssten die Voraussetzungen geklärt werden. Dazu gehören neben einer Einschätzung der Nachfrage auch Kosten- und Ressourcenfragen. Bisher stellen Rufbusse als zusätzliche Angebote die Daseinsvorsorge sicher. Wirtschaftlich sind sie unrentabel, weshalb eine staatliche Finanzierung notwendig ist. Im Landkreis Ludwigslust-Parchim gibt es bereits ein funktionierendes Rufbussystem, in dem Fahrten mit einer Vorlaufzeit von zwei Stunden gebucht werden können. Im Landkreis Vorpommern-Greifswald fährt der sogenannte Ilse-Bus sogar mit einem Buchungsvorlauf von einer Stunde. Derartige Systeme des öffentlichen Nahverkehrs betrachtet Bleis als eine mögliche Zukunft des ÖPNV. Doch auch ein Rufbussystem könne nur so gut sein wie das übergeordnete Verkehrssystem. Rufbusse können und sollen Übergänge schaffen. Zu ihren Aufgaben gehört es nicht, weite Strecken zurückzulegen. Der nächste Bahnhof oder Busbahnhof ist stets das Ziel, um von dort in die größeren Zentren zu gelangen oder bis nach Rostock, Berlin oder Hamburg zu fahren. „Bis jetzt fehlen dafür allerdings die Voraussetzungen“, sagt Bleis. Auch Park & Ride würde dem öffentlichen Nahverkehr helfen, ist Bleis überzeugt. Damit ist der Ausbau von Parkflächen an Bahnhöfen gemeint, um eine Verzahnung von PKW und Bahn zu ermöglichen. Die Idee dahinter lautet, dass Menschen mit dem Auto zum nächsten Bahnhof fahren und von dort mit dem Zug zu ihrem eigentlichen Ziel weiterfahren. Dieses Konzept kann sich lohnen, wenn am eigentlichen Ziel, etwa in der Stadt, Parkplätze knapp sind. Gleichzeitig entstehen doppelte Kosten für PKW und ÖPNV. Auch die Frage, ob nicht der direkte Weg mit dem PKW weniger aufwendig und damit bequemer wäre, ist nicht umfassend beantwortet. Der ÖPNV wirft weiterhin viele Frage auf. Antworten liefert er bisher nicht genug. MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. 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