Leo wird diese Bahnfahrt so schnell nicht vergessen. Die Teenagerin sitzt zusammen mit ihrer Mutter in einem Zug Richtung Hamburg, als es passiert. „Zwei Polizisten sind direkt auf uns zugekommen und haben uns nach unseren Ausweisen gefragt“, berichtet sie. Auf die Frage der Mutter, warum ausgerechnet sie und ihre Tochter kontrolliert würden, hätten die Beamten ausweichend reagiert und auf der Maßnahme bestanden. Die Bundespolizisten hätten auch die Identitäten anderer Menschen in dem Waggon feststellen können. Sie haben nämlich „zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet“ in Zügen, Flughäfen und an Bahnhöfen einige Befugnisse: Sie dürfen jede Person kurzzeitig anhalten, befragen, mitgeführte Gegenstände in Augenschein nehmen und verlangen, dass Papiere ausgehändigt werden. Einzige Bedingung: Es muss anzunehmen sein, dass der Zug, der Bahnhof oder der Flughafen zur unerlaubten Einreise genutzt wird. Leo und ihre Mutter unterschieden sich jedoch in einem entscheidenden Merkmal von den übrigen Mitreisenden: Sie sind nicht weiß. Leo heißt eigentlich anders. Sie wohnt in einer Stadt irgendwo in Vorpommern, nahe der deutsch-polnischen Grenze. Hier wählte bei der Landtagswahl im September im Schnitt jeder Vierte die AfD. Rassistische Erfahrungen habe sie schon viele gemacht, erzählt Leo. Einige ihrer Freunde, die einen Migrationshintergrund hätten, seien ebenfalls schon Opfer diskriminierenden Verhaltens geworden. Racial Profiling als polizeiliche Praxis Nicht nur in Meck-Vorp machen viele Menschen die alltägliche Erfahrung, von der Polizei häufiger als andere Menschen kontrolliert zu werden. Racial Profiling – mitunter auch als Ethnical Profiling bezeichnet – stellt eine polizeiliche Praxis bei der Auswahl von Personen dar, die im Rahmen der sogenannten Schleierfahndung einer Identitätsfeststellung unterzogen werden sollen. Gemeint sind verdachtsunabhängige Kontrollen von Personen in bestimmten öffentlichen Bereichen. Beim Racial Profiling ist einziges oder zumindest ein maßgebliches Auswahlkriterium der zu kontrollierenden Person ihr äußeres Erscheinungsbild. Genauer gesagt: ihre Hautfarbe oder angenommene Ethnie. Dies steht im Widerspruch zu den Diskriminierungsverboten des Grundgesetzes. Kritiker werfen der Polizei in diesem Zusammenhang institutionellen Rassismus vor. Racial Profiling ist weder ein neues noch ein junges Phänomen. Die umstrittene Praxis wurde in Deutschland während aller staatlichen Epochen angewandt. Die Polizei stützt sich bei Kontrollen auf ihre gesetzlichen Befugnisse. Laut dem Sicherheits- und Ordnungsgesetz von Mecklenburg-Vorpommern darf die Polizei zum Beispiel die Identität einer Person feststellen, wenn sie sich an einem Ort aufhält, von dem Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass dort Personen gegen das Ausländerrecht verstoßen. Die Landespolizei möchte rassistisch motiviertem Fehlverhalten in der Ausbildung vorbeugen. „Themen wie Radikalisierungsphänomene, Extremismus und Rassismus weisen einen großen Stellenwert in der Ausbildung und im Studium sowie auch in der Fortbildung der Landespolizei MV auf“, teilt eine Sprecherin des Innenministeriums mit. Die Wissens- und Kompetenzvermittlung von Grund- und Menschenrechten, einer an den Menschenrechten orientierten Haltung sowie die Förderung eines interkulturellen Bewusstseins seien zentrale Elemente der Ausbildung. „Die Lernenden werden befähigt, sich für Menschenrechte einzusetzen, rassistische und rechtsextreme Positionen zu erkennen und ihnen entgegenzutreten“, so die Sprecherin. „Sie vertiefen die Werte unseres Grundgesetzes und verinnerlichen, dass der individuelle Wert- und Achtungsanspruch eines jeden Menschen, unabhängig von bestimmten zugeschriebenen Merkmalen, unumstößlich ist.“ Zudem würden aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und Themen Einfluss nehmen auf die Inhalte der Studien- und Ausbildungsfächer sowie der Fortbildungslehrgänge. Racial Profiling ist rechtswidrig Die Verwaltungsgerichte haben in den letzten Jahren mehrmals die Rechtswidrigkeit des Racial Profiling betont. Das Oberverwaltungsgericht Koblenz machte bereits im Oktober 2012 deutlich, dass die Praxis des Racial Profiling nach seiner Auffassung gegen das Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes verstoße. Im Jahr 2016 hatte das Oberverwaltungsgericht Koblenz abermals über einen Fall von Racial Profiling zu entscheiden. Die beiden Kläger:innen, deutsche Staatsangehörige, fuhren 2014 mit ihren zwei Kindern in einer Regionalbahn von Mainz nach Koblenz. In Kaiserslautern untersuchten drei Bundespolizisten die Familie vier Minuten lang. Die Kläger auszuwählen, sei nicht rechtens gewesen, entschied das Gericht: Ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot liege nicht erst dann vor, wenn die Ungleichbehandlung ausschließlich oder ausschlaggebend an eines der im Gesetz genannten Merkmale wie Geschlecht, Sprache oder Herkunft anknüpfe. Vielmehr dürften diese bei einem Motivbündel kein tragendes Kriterium unter mehreren sein. In dasselbe Horn stieß zwei Jahre später das Oberverwaltungsgericht Münster. Die Berücksichtigung der Hautfarbe innerhalb eines Motivbündels sei grundsätzlich nicht zulässig. In Mecklenburg-Vorpommern brauchten sich die Verwaltungsgerichte – soweit ersichtlich – bisher nicht mit dem Phänomen zu befassen. Ein Grund dafür könnte darin liegen, dass die wenigsten Betroffenen nach einer rassistisch motivierten Personenkontrolle die Polizei verklagen. Schwierige Recherche Die Recherche für diesen Artikel gestaltete sich wie die Jagd nach einem Phantom. Das Phänomen ist in Zahlen schwer zu erfassen. Eine amtliche Statistik existiert nicht. In den meisten Bundesländern sind Polizist:innen nicht einmal verpflichtet, den Anlass für eine Personenkontrolle zu dokumentieren. Dem Bürgerbeauftragten von MV, Matthias Crone, ist kein einziger Fall bekannt. „Uns liegen in diesem Zusammenhang keine Beschwerden vor“, berichtet sein Pressesprecher. Das Land ist nach Angaben des Innenministeriums bisher im Zusammenhang mit Racial Profiling nicht verklagt worden. Konkrete Vorfälle in Meck-Vorp sind auch der Menschenrechtsorganisation Amnesty International nicht bekannt, die sich deutschlandweit gegen Racial Profiling engagiert. Der Migrantenrat Rostock ließ eine Anfrage von KATAPULT MV unbeantwortet. Dass staatlichen Stellen, NGOs und Interessenvertretungen keine belastbaren Informationen vorliegen, bedeutet keineswegs, dass das Phänomen nicht existiert. Ein Grund könnte darin liegen, dass in Meck-Vorp keine Beschwerdestelle existiert, die nur der Kontrolle des Landtags unterworfen ist. Betroffene könnten sich allenfalls an den Bürgerbeauftragten wenden. Dieser verfügt jedoch über keine eigenen Ermittlungsbefugnisse. „Viele Menschen haben sich an die alltäglichen Diskriminierungen gewöhnt und möchten nicht darüber sprechen“, glaubt Leo. Welche Erfahrungen habt ihr mit rassistischen Polizeikontrollen in Meck-Vorp gemacht? Habt ihr selbst schon diskriminierendes Verhalten durch Polizist:innen erlebt? Oder seid ihr selbst bei der Polizei beschäftigt und habt im Dienst Racial Profiling angewandt? Schreibt uns eure Erlebnisse an redaktion@katapult-mv.de. Wir behandeln eure Hinweise und Erfahrungsberichte auf Wunsch selbstverständlich anonym und vertraulich. MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!