Ein Blick in den zuletzt veröffentlichten Verfassungsschutzbericht des Innenministeriums MV für das Jahr 2022 macht schnell klar: Rechtsextremismus ist eine der größten politischen Herausforderungen des Landes. Über 1.800 Rechtsextreme werden dort angeführt – 720 davon gelten als gewaltorientiert. Weiter zeigt die Kriminalstatistik der Landespolizei für dasselbe Jahr, dass die rechtsmotivierten Straftaten von vormals 971 auf 1.142 gestiegen sind. Um 17 Prozent zugenommen haben im Jahr 2022 auch antisemitische und fremdenfeindliche Straftaten. Insgesamt hat die Landespolizei 270 solcher Delikte registriert.
Der Rechtsruck in Mecklenburg-Vorpommern spiegelt sich auch in Umfragen wider. Danach hätten im Februar 31 Prozent aller Wahlberechtigten in MV die AfD gewählt. Damit lag die Rechtsaußenpartei deutlich vor SPD (21), CDU (18), Grünen und Linkspartei (jeweils 8).
Es gibt aber auch Stimmen im Land, die sich dem entgegenstellen. Mehr als 33.500 Menschen haben seit Mitte Januar an über 40 Demonstrationen für Demokratie und gegen den Rechtsruck teilgenommen. Das sind mehr Menschen, als in Güstrow leben. KATAPULT MV hat von vielen dieser Veranstaltungen berichtet. Besonders in kleineren Städten kam es häufig zu Gegenprotesten aus dem rechten Spektrum. So beobachtet etwa in Demmin, Waren und Anklam. Auffällig: Viele der Gegendemonstrierenden waren jung. Eine Demo in Pasewalk wurde durch Personen gestört, die der rechtsextremen Kleinstpartei Der III. Weg zuzuordnen sind. Die jungen Männer waren mutmaßlich deutlich unter 30 Jahre alt. Sie warfen Flyer in die Demokratiedemo und brüllten Parolen wie „Remigration“ oder „Deutschland den Deutschen“. Es stellt sich die Frage: Woher kommt diese gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit?
Dass diese nicht angeboren ist, betont Daniel Trepsdorf, Leiter des Regionalzentrums für demokratische Kultur Westmecklenburg (RAA). „Oftmals gab es einschneidende Ereignisse oder biografische Brüche“, erklärt Trepsdorf und verweist auf die Bedeutung von Rückkehroptionen in eine demokratische Gesellschaft. „Dafür bieten Ausstiegsbegleitungen wertvolle Unterstützung und setzen ein essenzielles Signal: ‚Du kannst dich umentscheiden und einen anderen Weg jenseits von Rassenvorstellungen, von Blut-und-Boden-Ideologie einschlagen.‘“
In Mecklenburg-Vorpommern gibt es eine zentrale Anlaufstelle für Menschen, die der rechten Szene den Rücken kehren wollen: die Ausstiegsbegleitung Jump.
Klient:innen im ganzen Land
Als Ausstiegsbegleitung werden Angebote bezeichnet, die Menschen dabei unterstützen, sich aus extremistischen Szenen zu lösen. In Deutschland gibt es etwa 40 staatliche und zivilgesellschaftlichen Initiativen. Sie unterscheiden sich hauptsächlich durch die Form der Angebote, erklärt Nils. Der Pädagoge arbeitet seit 2012 bei Jump. Hierbei handelt es sich um eine zivilgesellschaftliche Einrichtung. Im Unterschied zu staatlichen Angeboten sind sie beispielsweise nicht dazu verpflichtet, Straftaten anzuzeigen, wenn sie in Gesprächen mit Klient:innen davon erfahren. „Es sei denn, es handelt sich um schwere Straftaten wie Hochverrat, Landesverrat, geplanter Mord oder Terrorakte“, ergänzt Nils.
Welche Ausstiegsbegleitung für Betroffene die richtige sei, richte sich auch nach den jeweiligen Bedürfnissen: „Wenn jemand ein starkes Schutzbedürfnis hat, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sich an ein staatliches Angebot gewandt wird. Sofern es eines gibt“, fügt der Pädagoge hinzu. Staatliche Einrichtungen hätten in besonders extremen Fällen außerdem die Möglichkeit, Betroffenen ein Leben unter neuer Identität zu ermöglichen. In Mecklenburg-Vorpommern allerdings gibt es kein staatliches Angebot.
Die Möglichkeiten von Jump reichen von Einstiegsprävention über Bildungs- und Beratungsangeboten bis hin zu Engagement in Gremien und der eigentlichen Ausstiegsarbeit. Und diese kann lange dauern: „Den bisher längsten Fall haben wir acht Jahre lang begleitet“, erinnert sich Nils. In der reinen Ausstiegsarbeit betreut er gemeinsam mit drei weiteren Kolleg:innen aktuell zehn Klient:innen in ganz Mecklenburg-Vorpommern. Die meisten davon eher im Osten des Landes. Die Nachfrage nach Ausstiegsbegleitung habe in den letzten zwei Jahren bei Jump aber deutlich zugenommen.
Wie Klient:innen gefunden werden
Als einzige Ausstiegsbegleitung in MV kommt Jump über drei verschiedene Wege in Kontakt mit potenziellen Klient:innen. Einmal können sich Betroffene selbst melden – beispielsweise über die Website der Einrichtung. Hier kann anonym und vertraulich Kontakt aufgenommen werden. Weitaus häufiger wenden sich aber Multiplikator:innen an Jump, berichtet Nils. „Das sind beispielsweise das Jobcenter, die Schule, Jugendklubs, Kolleg:innen oder Eltern.“ Eine noch neue Möglichkeit, mit potenziellen Klient:innen ins Gespräch zu kommen, sind richterliche Beschlüsse. Werden Personen für einschlägige Straftaten verurteilt, die dem rechten Spektrum zuzuordnen sind, kann das Gericht neuerdings auch eine Beratung bei Jump anordnen. „Statt Geld oder Sozialstunden finden wir es sinnvoller, sich mit der Möglichkeit von Ausstieg zu beschäftigen“, erklärt Nils. Richter:innen und Mitarbeitende der Ausstiegshilfe erhoffen sich dadurch, bei den Täter:innen eine Distanzierung vom Rechtsextremismus anzustoßen. Nils’ Erfahrung: „Man muss Leute erst mal auf die Idee bringen, dass Dinge auch anders betrachtet werden können.“
Wenn Personen sich nicht freiwillig mit der Ausstiegsbegleitung auseinandersetzen, birgt das auch Gefahren für die Mitarbeitenden – besonders, wenn sie die neuen Klient:innen nicht kennen und noch keine Informationen über deren Umfeld haben. In Gespräche gehen die Jump-Mitarbeiter:innen auch deshalb nur zu zweit. „Der beste Schutz ist eigentlich die Freiwilligkeit der Klient:innen“, fasst Nils zusammen. In solchen Fällen bestehe der Ausstiegswunsch der Betroffenen bereits und Jump könne bei der Umsetzung helfen.
Der Weg raus
Das erste Treffen mit potenziellen Aussteiger:innen findet oft gemeinsam mit den vermittelnden Personen statt. Im Gespräch versuchen die Jump-Mitarbeiter:innen die möglichen Klient:innen kennenzulernen und einen Eindruck von deren Ausstiegsmotivation zu bekommen. Dabei achten sie genau auf Wortwahl und Körpersprache. „Wir haben ein ganz gutes Gespür dafür, wenn es jemand ernst meint“, erzählt Nils.
Er und seine Kolleg:innen legen Wert darauf, die Treffen in den jeweiligen Sozialräumen zu organisieren und möglichst behutsam vorzugehen. „Viele haben selbst Gewalt, Herabwürdigung und Mobbing erlebt oder sind mit Isolation konfrontiert“, berichtet der Pädagoge und verweist auf die Bedeutung der Gefühlsebene: „Es ist was ganz anderes, wenn wir auch mal jemanden anrufen und zum Geburtstag gratulieren.“ Klient:innen rein formal zu begegnen sei nicht hilfreich dabei, Ängste aufzuarbeiten oder Überzeugungen kritisch zu besprechen.
In einem zweiten Gespräch werden dann Formalia wie Schweigepflichtserklärungen unterschrieben. Anschließend können weitere Maßnahmen individuell geplant und besprochen werden. Ein Ausstieg gilt als erfolgreich, wenn sich die Klient:innen aus dem rechten Umfeld zurückgezogen haben und den Kontakt meiden. Nils ergänzt, dass es allerdings Fälle gibt, in denen das nur durch einen Umzug machbar ist. Dieser kann aber ebenfalls von Jump begleitet werden.
Entscheidend sei außerdem, dass „man seine Wohnung oder den Kleiderschrank so weit entrümpelt, dass dort keine Devotionalien mehr zu finden sind“. Dazu gehören alle Gegenstände, die emotional mit der rechtsextremen Szene verbunden oder ihr zuzuordnen sind, erklärt der Pädagoge. Die Ausstiegsbegleitung hilft auch mal Klient:innen in ihren Wohnungen dabei, solche Gegenstände auszusortieren. Musik gehöre ebenfalls dazu.
Als letzten Punkt für einen erfolgreichen Ausstieg führt Nils die Auseinandersetzung mit rechter Ideologie an. Hier spielt die eigene Biografie oft eine große Rolle. Die Jump-Mitarbeitenden besprechen während des Prozesses entscheidende Fragen mit den Klient:innen: „Was hat dich dahingeführt? Wie und wann hättest du dich anders entscheiden können?“ Diese Aufarbeitung soll die Perspektive der Betroffenen erweitern und neue Möglichkeiten aufzeigen, damit deren Denk- und Lebensweise wieder mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vereinbar werden. Ziel sei es in jedem Fall, die eigenständige Motivation der Klient:innen zu fördern. „Unser Job ist es nicht, Leute zu überzeugen“, sagt Nils.
Oft gehe der Ausstiegsprozess auch mit sozialer Stabilisierung einher: „Jemand, der nicht weiß, wo er schlafen soll, kann sich nicht mit Ideologie auseinandersetzen“, weiß der Ausstiegshelfer. Von Fall zu Fall gehe es darum, die jeweiligen Schwerpunkte, Ideologien und Biografien zu verstehen und individuelle Lösungen zu erarbeiten. Seit 2011 hat Jump auf diese Weise 36 Personen beim Ausstieg aus der rechtsextremen Szene unterstützt. „Die meisten davon sind Männer im Alter zwischen Mitte 20 und Mitte 30“, berichtet Nils.
Ausstiegsbegleitung fast am Limit
Eine der Herausforderungen für Jump ist die Finanzierung. Sie setzt sich aus Mitteln des Bundesprogramms Demokratie Leben und des Landes Mecklenburg-Vorpommern zusammen. Aussteiger:innen müssen nichts für die Begleitung zahlen. Je größer die Nachfrage ist, desto mehr Arbeit entsteht für Nils und seine Kolleg:innen. Mit den zusätzlichen, richterlich angeordneten Aufklärungsfällen kommt die einzige Ausstiegsbegleitung in MV jedoch langsam an ihre Grenzen. Nils ist überzeugt: „Eine bessere Finanzierung würde zu einer größeren Wirkung führen.“ Mit mehr Geld ließe sich mehr Personal einsetzen. Auch die Öffentlichkeitsarbeit könnte ausgebaut und damit neue Klient:innen erreicht werden, schließt Nils.
Die meiste Zeit der Jump-Mitarbeiter:innen nimmt dennoch die Ausstiegsbegleitung in Anspruch. Für nahezu jedes Gespräch fallen außerdem Fahrzeiten an. Manchmal mehrere Stunden. Zeitintensiv sind auch die Planungsgespräche zwischen den Jump-Kolleg:innen. Dabei tauschen sie sich über Sicherheitsfragen und Organisatorisches aus, entwickeln aber auch Strategien für individuelle Situationen. Ziel ist der möglichst reibungslose und sichere Ablauf des Ausstiegsprozesses. Für Klient:innen, aber auch ihre Begleitenden.
Ihre Motivation schöpfen Nils und seine Kolleg:innen unter anderem aus erfolgreichen Ausstiegen: „Wir schützen viele andere Menschen damit, wenn ehemalige Rechtsextreme nicht mehr gewalttätig werden.“ So könne die Demokratie beispielsweise vor Gewalt und Überfällen, aber auch vor Mord und Terror geschützt werden.
Was tun bei rechtem Gedankengut?
Um Symbole, Formulierungen oder Gedanken aus dem rechten Spektrum zu erkennen, bedarf es Aufklärung und Beratung. Jump kann bei Fragen zu Symbolen, Codes und Marken unterstützen. Für den Sozialraum Schule nennt Daniel Trepsdorf von der RAA ein Beispiel aus Schwerin: Hier wurden in einem Klassenchat Fotos, Videos und Texte geteilt, die gewaltverherrlichend, antisemitisch und sogar verfassungswidrig waren. Die Schulleitung trat daraufhin an das Demokratiezentrum Westmecklenburg heran, das den Fall gemeinsam mit Jump-Mitarbeitenden innerhalb des Klassenverbandes aufarbeiten konnte. „Der Fall zeigt exemplarisch, dass wir in MV über professionelle Strukturen und Institutionen verfügen, um derlei Ereignisse fachlich fundiert und elaboriert zu begegnen“, berichtet Trepsdorf.
Dieser Artikel erschien in KATAPULT MV-Ausgabe 30.
MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo!
KATAPULT MV abonnieren!