Am Freitag haben Forscherinnen vom Lehrstuhl für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Ulm eine Studie zum Missbrauch in der katholischen Kirche in Mecklenburg zwischen 1946 und 1989 vorgestellt. Sie ist die erste Studie, die sich ausschließlich mit dem Missbrauch von Minderjährigen in der katholischen Kirche in der DDR beschäftigt. Das Erzbistum Hamburg hatte die Studie in Auftrag gegeben, da eine Vorgängerstudie von 2018 im mecklenburgischen Teil des Erzbistums Hamburg so viele Geistliche mit Hinweisen auf sexuellen Missbrauch fand wie im Rest des Bistums in Schleswig-Holstein und Hamburg zusammen. Die Studie soll die Gewalt sichtbar machen, die Betroffene erfahren haben, und in den geschichtlichen Kontext einbetten, um kirchliche und historische Rahmenbedingungen aufzuzeigen, die den Missbrauch begünstigt haben. 40 Betroffene und 19 Tatverdächtige Geforscht haben Manuela Dudeck, Projektleiterin und Direktorin der Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm, die Psychologin und Leiterin der Forschungsabteilung Judith Streb sowie die Kriminologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin Laura Rinser. Das Team ermittelte innerhalb ihrer drei Jahre dauernden Arbeit 40 Betroffene von sexueller, körperlicher und psychischer Gewalt und 19 Tatverdächtige der katholischen Einrichtungen in Mecklenburg. Die Forscherinnen gehen von einer großen Dunkelziffer aus. Für die Studie interviewten sie 14 der 40 Betroffenen, die alle während der 1950er- und 60er-Jahre Gewalt erfahren haben. 13 Interviews wurden ausgewertet. Darüber hinaus führten sie Interviews mit elf Kirchenvertreter:innen, sichteten 1.500 Akten von 200 Priestern und führten Gespräche in Gemeinden und mit Sachverständigen. Ihr Fazit: Die Missbrauchsopfer waren tendenziell jünger und die Dauer des Missbrauchs länger, als es vorherige Studien ergeben hatten. Die Betroffenen waren zu Beginn des Missbrauchs zwischen 5 und 14 Jahre alt, im Durchschnitt dauerte der Missbrauch fünfeinhalb Jahre. „Das ist etwas, das, glaube ich, jeden betroffen macht“, sagt Projektleiterin Dudeck. In der Studie wurde deutlich, dass sowohl die Kirchengemeinde als auch die Nachbarschaft Mitwisser des jahrelangen schwerwiegenden Missbrauchs von Minderjährigen waren. Der Missbrauch sei alltäglich gewesen, ein Verstecken nicht notwendig. „Sie haben sich nicht in die Wohnung zurückgezogen, der Missbrauch fand in den Kirchenräumen statt“, so Dudeck. In der Sakristei, auf dem Beichtstuhl, im Pfarrhaus. Folgen für die Betroffenen Die Folgen für die Betroffenen beschreibt die Studie als gravierend: Bis zu 76 Jahre nach dem Missbrauch leiden die Betroffenen noch heute an psychischen Belastungen, posttraumatischen Belastungsstörungen, somatoformen (1) und depressiven Störungen. „75 Prozent der gleichaltrigen Allgemeinbevölkerung geht es besser als den Betroffenen“, fasst Dudeck zusammen. „Vermutlich wissen sie gar nicht, wie gut man sich eigentlich fühlen kann.“ Neben kurzfristigen Folgen, wie Ekel, dem Verlust der körperlichen und psychischen Unversehrtheit und dem Vertrauensverlust, gibt es schwerwiegende mittel- und langfristige Folgen, „die sich nicht nur in Krankheiten ausdrücken, sondern in der ganzen Lebensgestaltung“, wie Dudeck es beschreibt. Die Betroffenen leiden signifikant häufiger als Gleichaltrige unter Krankheiten wie posttraumatischer Belastungsstörung. Von diesen spricht man, wenn „Ereignisse eine Wunde in die Seele der Menschen geschlagen haben“, erklärt Dudeck. Sogenannte Trigger, bestimmte Gerüche, Orte oder Gegenstände, führen dazu, dass die Erinnerungen immer wieder wie ein Film vor dem inneren Auge der Betroffenen ablaufen. Außerdem leiden sie häufiger unter erhöhter Schreckhaftigkeit, Gefühllosigkeit sowie körperlichen Beschwerden, die sich nicht organisch, sondern nur durch eine Veränderung des Gespürs für Schmerzen im Gehirn erklären lassen. Das sind alles schwere Erkrankungen, weil sie mit Suizidalität einhergehen. Projektleiterin Manuela Dudeck Vermutlich seien auch daher viele Betroffene mittlerweile bereits tot. Die Täter Die für die Studie gesichteten Akten ließen auf 19 Täter schließen. Die 13 interviewten Betroffenen beschrieben vier von ihnen. Ein Beschuldigter war alleine für 19 Missbrauchsfälle verantwortlich. Alle Täter, die genannt wurden, sind tot und konnten daher nicht befragt werden. So kann die Studie keine Aussagen über die Straftäter treffen und keine Diagnosen stellen. Doch die Autorinnen vermuten sadistische Motive der Geistlichen. Darüber hinaus seien sie manipulativ und überheblich gewesen, hätten affektive Defizite gehabt und impulsiv gehandelt. „Das weist auf psycho- und soziopathische Persönlichkeitszüge hin“, erklärt Dudeck. Die Täter wurden oft als charismatische Personen beschrieben, die auch Gutes getan hätten. „Aus psychologischer Sicht sehen wir das anders“, so Dudeck. Es seien keine guten Taten gewesen, sondern ein typisches Anbahnungsverhalten von Tätern, mit dem sie Kontakt und Vertrauen aufbauen und so die Gewalt vorbereiten konnten. Für die Studie selbst wurden keine personenbezogenen Daten erhoben, weder zu Opfern noch zu Tätern. „Das Nennen von Namen muss der Kirche selbst überlassen bleiben. Sie kennt sie“, sagt Dudeck. Die Mitwisser Sowohl Interviews mit Kirchenvertreter:innen als auch Gespräche ohne wissenschaftlichen Hintergrund machten deutlich, dass die Gemeinden und Amtskirchen Bescheid wussten. Hilfe erfuhren die Betroffenen nirgends, auch wenn sie um diese ersuchten. Die Taten wurden verharmlost und aktiv vertuscht. Nicht nur von den Tätern selbst, sondern auch von Kirche und Staat. Auch die DDR verhinderte, dass die Taten öffentlich gemacht wurden, und unterstützte das Nichteingreifen bei Gewalt gegen Minderjährige. Da der Sozialismus der Ideologie nach kein Ort für Straftaten und Kriminalität war, wurden diese tabuisiert und die Strafverfolgung verhindert. Mitunter wurden Täter gezielt als inoffizielle Mitarbeiter von der Stasi angeworben und für die eigenen Zwecke genutzt, andere wurden in den Westen abgeschoben. Die katholische Kirche wusste von all dem, kannte Beschuldigte und Betroffene. „Daher ist die Kirche von der Hauptverantwortung für den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen nicht zu entbinden“, schlussfolgerte Dudeck, bevor sie dem Erzbischof von Hamburg, Stefan Heße, die Studie überreichte. Dieser kündigte umfassendere Untersuchungen auf dem ganzen Gebiet des Erzbistums bis heute an: „Wir müssen davon ausgehen: Ein solches Anbahnungsverhalten gibt es auch heute.“ (2) Der Betroffenenrat der norddeutschen Bistümer forderte als Reaktion auf die Studie, die Namen der Täter zu nennen. Heße lehnt dies ab: Die Namen seien hinlänglich bekannt, teilweise bereits öffentlich und der Fokus auf Namen bringe nichts. (3) Katholizismus und Sozialismus Die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse erleichterten den Machtmissbrauch durch Priester in Mecklenburg. Das Erzbistum Hamburg ist das flächenmäßig größte Bistum Deutschlands und umfasst neben Hamburg auch Schleswig-Holstein sowie den Landesteil Mecklenburg von MV. Während der deutschen Teilung war es das Erzbistum Osnabrück, Mecklenburg gehörte damit dem westdeutschen kirchlichen Verwaltungsbezirk an. Die DDR pflegte als atheistischer Staat eine „Kultur der Konfessionslosigkeit“, wie es die Forscherinnen nennen. Da die Verwaltungshoheit in der BRD lag, Mecklenburg aber zur DDR gehörte, war es eine der autonomsten Regionen innerhalb der katholischen Kirche. Dass Katholik:innen in der DDR eine Minderheit waren und nur in ständiger Bedrohung durch den Staat ihren Glauben ausüben konnten, führte zu einer tiefen Verbundenheit der Gemeinden mit ihrer Kirche. Darüber hinaus übernahm diese in der Nachkriegszeit, die – wie auch in der BRD – von Flucht, Vertreibung, Armut und durch im Krieg verwundete oder getötete Väter geprägt war, auch die Erziehung der Kinder. Die prekären Lebensbedingungen führten zu einer Abhängigkeit der Eltern der Betroffenen von materiellen und sozialen Zuwendungen der Geistlichen, die auch eine Erziehungsfunktion übernahmen. Auf diese Weise sowie durch Charisma und Präsenz machten sich die Priester unentbehrlich. Kritik der Forscherinnen Kritik äußern die Forscherinnen an dem Stasiunterlagenarchiv: 14 Monate hätten sie auf die angeforderten Akten warten müssen. Darüber hinaus habe die Behörde nur Unterlagen zur Arbeitszeit von Pfarrern zugeschickt, weshalb Dudeck davon ausgeht, dass nicht alle Akten zur Verfügung gestellt wurden. Die Unterscheidung zwischen Missbrauch in Arbeits- und Freizeit bezeichnet sie als „zynisch“. Außerdem kritisieren Dudeck, Streb und Rinser, dass den jahrelangen Forderungen der Opfer nach umfassender Anerkennung des erlittenen Leids und finanzieller Entschädigung nicht nachgekommen werde. Darüber hinaus komme die Aufarbeitung 60 Jahre zu spät. Das Erzbistum Hamburg hat eine Hotline für Betroffene eingerichtet. Die Berater:innen sind bis zum 3. März zwischen 10 und 19 Uhr unter 0385 / 489 7070 zu erreichen. (1) Körperliche Beschwerden, die nicht auf eine organische Krankheit zurückgehen und von denen man annimmt, dass sie seelisch verursacht sind.
(2) Erzbistum Hamburg (Hg.): Stellungnahme von Erzbischof Dr. Stefan Heße, auf: erzbistum-hamburg.de (27.2.2023).
(3) NDR (Hg.): Missbrauchsstudie: Erzbischof Heße räumt Versäumnisse ein, auf: ndr.de (27.2.2023). MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!