Die Bundesregierung stellt den Ländern für das bundesweite Neun-Euro-Ticket für den öffentlichen Personennahverkehr in den drei Sommermonaten insgesamt 2,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Doch warum nicht gleich ein Null-Euro-Ticket für alle? In Deutschland sind etwa 300.000 Menschen armutsgefährdet. Und vor allem Menschen mit geringem Einkommen profitieren von günstigen Tarifen. MVs Verkehrsminister Reinhard Meyer (SPD) schlug mit seinen Ministerkolleg:innen der Länder das Null-Euro-Ticket vor. Die Bundesregierung lehnte den Vorschlag ab: zu hohe Kosten und kein Überblick darüber, wie hoch die Nachfrage in den drei Monaten tatsächlich sei, heißt es aus Berlin. Für den künftigen Ausbau von Bus- und Bahnverkehr könnten jedoch die Ergebnisse der Nutzung des Neun-Euro-Tickets von Bedeutung sein. Günstig durch Meck-Vorp? Für Tourist:innen und Auszubildende gibt es bereits Vergünstigungen im Nahverkehr von MV. In Bad Doberan können Besucher:innen und Anwohner:innen bereits kostenlos mit dem Citybus fahren. Aus einem Pilotprojekt ist eine langfristige Entlastung für Fahrgäste geworden. Die Stadt übernimmt alle anfallenden Ticketkosten. Dadurch sind die Fahrgastzahlen gestiegen, laut Bürgermeister um 120 Prozent. Gleichzeitig müssen Besucher:innen für Parkplätze in der Innenstadt nicht mehr zahlen. Das soll mehr Tourist:innen anlocken. Auch im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte profitieren Tourist:innen von einem Sparangebot: Mit der Gästekarte kann das Angebot „Müritz rundum“ genutzt werden. Es umfasst alle Linien um die Müritz, den Stadtverkehr von Waren und Röbel sowie die Buslinie von Rechlin nach Mirow. Das gilt allerdings nur für die Hauptsaison von April bis Oktober. Außerdem haben Auszubildende seit Februar 2021 Anspruch auf ein Ein-Euro-Ticket: für 365 Euro im Jahr im Nahverkehr durch ganz MV. Doch lediglich sieben Prozent von ihnen nutzen das Sparangebot. Mignon Schwenke, ehemalige Landtagsabgeordnete der Linken, begründet das so: „Wo nichts fährt, kann auch nichts genutzt werden.“ Innenminister Christian Pegel (SPD) lehnte zuletzt das von der Linken vorgeschlagene Ein-Euro- Ticket für Studierende in MV ab: Es sei nicht finanzierbar, sagte Pegel vergangenes Jahr im Landtag. Außerdem fürchte er, dass nach Einführung des Spartickets für Studierende auch andere Personengruppen das 365-Euro-Ticket fordern könnten. Sozialtickets in MV Dabei könnten noch andere Menschen in MV von bezahlbarem Nahverkehr profitieren. Der Hartz-IV-Regelsatz liegt aktuell bei 449 Euro im Monat. Davon stehen 40,27 Euro zur Verfügung, um von A nach B zu kommen. Manche Städte und Regionen bieten daher sogenannte Sozialtickets für Personen an, die Hartz IV beziehen, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz empfangen, Hilfe zum Lebensunterhalt oder die Grundsicherung im Alter erhalten. So verkaufen die Verkehrsbetriebe in Rostock, Wismar und Greifswald Sozialtickets. Für das Rostocker Stadtnetz kostet eine solche Monatskarte 46 Euro – das liegt über dem Betrag, der Hartz-IV-Empfänger:innen für Verkehr und Mobilität zur Verfügung steht. In Wismar und Greifswald liegt der Preis für eine Monatskarte unter dem Mobilitätssatz. Schwerin, Stralsund und Neubrandenburg dagegen bieten ausschließlich ermäßigte Tickets an, mit denen etwa Kinder, Schüler:innen, Auszubildende, Studierende und Senior:innen günstiger fahren. Vergünstigungen für Sozialhilfeempfangende hingegen gibt es keine. Ein Jahr Knast wegen Schwarzfahrens Im Jahr 2021 wurden in MV circa 3.000 Personen beim Schwarzfahren erwischt. Zum sozioökonomischen Status der Schwarzfahrer:innen kann das Innenministerium keine Angaben machen. Doch es ist denkbar, dass viele Menschen, die sich Bus- und Bahnfahrten nicht leisten können, einfach ohne Ticket fahren. In Deutschland können Fahrgäste ohne Fahrkarte verhaftet werden. In Paragraph 265a Strafgesetzbuch steht das ungefähr so: Wer einen Automaten hinters Licht führt, kann bis zu ein Jahr ins Gefängnis kommen. Automaten? Ein Blick in die Vergangenheit hilft zu verstehen. Der Paragraph 265a wurde 1935 eingeführt, um eine Strafbarkeitslücke angesichts des zunehmenden Einsatzes von Automaten zu schließen. Taz-Redakteur Gareth Joswig bezeichnet ihn als „Nazi-Paragraphen“. Demnach können Personen ins Gefängnis kommen, die sich „Leistungen erschleichen“. Kauft sich ein Fahrgast am Ticketautomaten keinen Fahrschein, hintergeht er den Automaten und erschleicht sich eine Leistung. Natürlich werden Schwarzfahrer:innen nicht sofort verhaftet. Zunächst müssen sie ein „erhöhtes Beförderungsentgelt“ in Höhe von 60 Euro bezahlen. Können sie das langfristig nicht, erhöht sich die Strafe meist auf etwa 1.000 Euro. Und wenn auch dieser Betrag nicht bezahlt wird, bekommen Schwarzfahrer:innen eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe: Dann geht es in den Knast – für bis zu ein Jahr. Ausgrenzung Einkommensschwacher Personen, die sich bereits in finanziell prekären Verhältnissen befinden, werden so noch mehr benachteiligt: Wer 2,70 Euro nicht zahlen kann, wird vermutlich weder 60, noch 1.000 Euro für eine Geldstrafe aufbringen, erklärt Joswig in seinem Kommentar. Die Logik des Überlebens des (Einkommens)Stärkeren beziehungsweise der Ausgrenzung (Einkommens)Schwacher oder auch „Asozialer“ finden sich im Sozialdarwinismus wieder, der noch heute maßgebend für rechte Bewegungen ist. Das Wort „asozial“ wurde maßgeblich von den Nationalsozialisten geprägt. Wie viele Menschen in MV wegen Schwarzfahrens eine Haftstrafe bekommen haben, erfasst das Justizministerium nach eigenen Angaben nicht. Das Erschleichen von Leistungen zählt zum Straftatbestand „Betrug und Untreue“, ebenso wie Versicherungs- und Kreditbetrug. Wegen Betrugs und Untreue saßen 2021 insgesamt 80 Personen im Gefängnis. Dabei handelt es sich auch um Ersatzfreiheitsstrafen, die Personen antreten mussten, weil sie Geldstrafen nicht begleichen konnten. Schwarzfahren entkriminalisieren Grüne und Linke fordern schon seit 2019, Schwarzfahren zu entkriminalisieren. Während die Grünen die Straftat in eine Ordnungswidrigkeit verwandeln wollen, fordern die Linken eine Abschaffung der strafrechtlichen Verfolgung. Auch der Deutsche Richterbund stellte 2018 Schwarzfahren als Straftat infrage. Grund dafür sei die Überlastung der Justiz. Für MVs vorherige Justizministerin Katy Hoffmeister (CDU) sollte Schwarzfahren weiterhin als Straftat gelten: „Wenn Schwarzfahren als Kavaliersdelikt gelten würde, wäre das ebenso ein schlechtes Zeichen an alle, die Bus und Bahn redlich nutzen. Nicht zuletzt wäre es ein falsches Signal an Schwarzfahrer selbst, die sich vielleicht bestätigt fühlen könnten.“ Die amtierende Justizministerin Jacqueline Bernhardt (Linke) hingegen begrüßt eine offene Diskussion zur Vermeidung sogenannter Ersatzfreiheitsstrafen, zu denen Schwarzfahren führen kann. „Das Instrument und die Praxis der Ersatzfreiheitsstrafe sollten auf den Prüfstand gestellt werden“, sagt Bernhardts Pressesprecher. Auf der Justizministerkonferenz am 1. und 2. Juni werde man den weiteren Umgang mit dieser Art von Freiheitsstrafen besprechen. MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!