Der 25-jährige Mehmet Turgut springt am 25. Februar 2004 spontan für einen Freund ein und übernimmt dessen Schicht in einem Imbissstand in Rostock-Dierkow. Zwischen 10.10 und 10.20 Uhr wird er von zwei Mitgliedern der rechtsterroristischen Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) mit drei Schüssen in Hals, Nacken und Kopf ermordet. Turgut ist das fünfte Opfer des NSU. Mehmet Turgut, von allen Memo genannt, war der älteste Sohn einer kurdischen Familie, zog mit 15 Jahren nach Deutschland zu seinem Vater und erst zehn Tage vor seinem Tod von Hamburg nach Rostock. Er arbeitete als Aushilfe in dem Imbiss im Neudierkower Weg. „Er wollte Geld sparen, um eine Familie zu gründen und meinen Eltern zu helfen. Es war kein leichter Weg. Er hat ihn mit dem Leben bezahlt“, erinnert sich sein Bruder. Mehmet Turgut beantragte mehrmals Asyl, wurde zwischen 1994 und 2000 mehrfach abgeschoben und hielt sich ohne gültigen Aufenthaltstitel in Deutschland auf. Er lebte und arbeitete mit der Identität seines Bruders Yunus Turgut. Erst sieben Jahre später sollten die Behörden erfahren, dass nicht Yunus getötet wurde. Noch in der Anklageschrift hieß der Getötete Yunus. „Soko Halbmond“, „Soko Bosporus“ und „Dönermorde“ Rassistische Motive für die Tat wurden von den Ermittlungsbehörden etwa eine Woche nach dem Mord ausgeschlossen. Jahrelang ermittelten die Behörden im Umfeld des Opfers, bei seinem Arbeitgeber und seiner Familie in der Türkei, nicht in rechtsextremen Kreisen – wie auch bei den anderen Morden des NSU. „So gingen die Ermittler in Rostock zwei Hinweisen von Yunus Turgut auf einen möglicherweise rassistischen Hintergrund der Ermordung seines Bruders Mehmet nicht nach“, sagte Constanze Oehlrich, Grünen-Abgeordnete im Landtag, anlässlich des Jahrestags der Selbstenttarnung des NSU im November. Bezeichnungen wie „Soko Halbmond“ und „Dönermorde“ – wie die Mordserie des NSU in den Medien zunächst genannt wurde – illustrieren die rassistischen Vorurteile der Ermittler:innen und der Öffentlichkeit. Die „Soko Bosporus“ fahndete jahrelang nach türkischstämmigen Tätern, da sie von einem Milieumord ausging – Schutzgelderpressung, Geldwäsche, Drogengeschäfte, Ehrenmorde. Die Opfer des NSU waren türkische, türkischstämmige und ein griechischer Kleingewerbetreibender sowie eine Polizistin. Viele Fragen bleiben ungeklärt Erst nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 erkennt die Polizei den rassistischen Hintergrund des Mordes an Mehmet Turgut und acht weiteren Ermordeten. Noch heute sind viele Fragen ungeklärt: Warum kamen die Attentäter am 25. Februar 2004 nach Rostock? Gab es Mitwissende oder Unterstützende in Rostock und Mecklenburg-Vorpommern? Welche Unterstützung, Verbindungen und Netzwerke hatte der NSU in MV? Welche Informationen hatten Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden? Welche Rolle spielten der Verfassungsschutz und seine V-Leute im direkten Umfeld des jahrelang unbehelligt mordenden Terrortrios? Warum ist ein Großteil der Akten des Innenministeriums geschwärzt? Angehörige und Initiativen streiten seit Jahren für eine umfassende Aufklärung der Morde des NSU. Im Januar hat der Parlamentarische Untersuchungsausschuss in MV seine Arbeit aufgenommen und setzt die Arbeit des NSU-Untersuchungsausschusses der vergangenen Legislaturperiode fort. Die Terrorgruppe um Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ist für zehn Morde, weitere Mordversuche, Bombenanschläge und Banküberfälle verantwortlich. Mundlos und Böhnhardt brachten sich um, Zschäpe wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Mit Gedenktag an Turgut beginnt Gedenken an Lichtenhagen ’92 Am Gedenkort für Mehmet Turgut am Neudierkower Weg findet am Freitag um 16 Uhr die jährliche Gedenkveranstaltung statt. Angehörige des Ermordeten werden an der Veranstaltung teilnehmen, Mehmet Turguts Bruder Mustafa Turgut wird eine Rede halten, ebenso wie Seyhmus Atay-Lichtermann von Migrantenrat Rostock und Bürgerschaftspräsidentin Regine Lück (Linke). Im Anschluss können Blumen, Kerzen und Kränze niedergelegt werden. Laut einer Mitteilung der Stadt Rostock soll die Gedenkveranstaltung allen die Möglichkeit bieten, an Mehmet Turgut zu erinnern und sich mit Betroffenen rechter Gewalt zu solidarisieren. Veranstaltet wird sie von der Stadt und der Inititative „Mord verjährt nicht!“, unterstützt vom Allgemeinen Studierendenausschuss der Universität Rostock. Mit dem Gedenken an Mehmet Turgut beginnt das Bündnis „Gedenken an das Pogrom“ das 30. Gedenkjahr der rassistischen Anschläge zwischen dem 22. und 26. August 1992 in Rostock-Lichtenhagen. Seit 2012 findet jährlich an Mehmet Turguts Todestag eine Gedenkveranstaltung an dem Ort statt, an dem er getötet wurde. Bei der ersten Gedenkveranstaltung 2012 wollten zwei Dutzend Neonazis mit Schlagstöcken diese stören. Seit 2014 steht am Neudierkower Weg eine Gedenkstätte – zwei Betonbänke mit türkischen und deutschen Inschriften. Eine Übersichtskarte der Todesopfer rechter Gewalt in ganz Deutschland stellt die KNICKER-Redaktion zur freien Verfügung. MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!