Die Abhängigkeit von einzelnen fossilen Energieträgern, namentlich Erdgas, wurde vor wenigen Jahren in MV und ganz Deutschland noch wohlwollend in Kauf genommen. Wir nutzen Gas zur Strom- und Wärmegewinnung, als Treibstoff, Brennstoff und industriellen Energielieferanten. Nord Stream 1 und 2 sollten Gas aus Russland in unseren Wohlstand schleusen. Das war politischer Wille, der mittlerweile an vier Stellen leckt und auch darüber hinaus bedenklich scheint. Dabei hätten schon vor Jahren die Weichen in eine andere Richtung gestellt werden können. Gerade MV bietet ideale Bedingungen. Hier generieren Windkraftanlagen an Land und auf See jährlich eine Leistung von mehr als 4.600 Megawatt. Allein durch Windkraft erzeugt Mecklenburg-Vorpommern etwa doppelt so viel Elektrizität, wie es aktuell nutzt. 2019 verbrauchten Endkunden im Land insgesamt 6.341 Gigawattstunden (GWh) Strom. Im gleichen Jahr wurden in Mecklenburg-Vorpommern 15.019 GWh aus erneuerbaren Energien gewonnen. Knapp 11.000 GWh entfielen dabei auf die Windkraft. Allerdings deckt die Stromerzeugung nur etwa ein Drittel der benötigten Energie. Im Verkehrs- und Wärmesektor bedarf es anderer Energiequellen. MV sitzt dabei ziemlich bequem. Der Weg zum selbstgesteckten Ziel der Klimaneutralität bis 2040 beginnt womöglich unter unseren Füßen. Wärme aus der Erde Die Nutzung von Erdwärme, Geothermie genannt, kann wesentlich zum Ziel der Energie- und Wärmewende beitragen. Sie gilt als CO₂-neutral und erneuerbar, ist regional und unabhängig von Tages- oder Jahreszeit verfügbar. Anders als Windkraft- und Photovoltaikanlagen beansprucht sie überirdisch kaum Platz. Gleichzeitig ermöglicht die Geothermie eine zuverlässige, preisstabile und sichere Energieversorgung. Unser Planet strahlt täglich etwa viermal mehr Energie ins All, als der Mensch derzeit verbraucht. Etwa 30 Prozent dieses Energiestroms kommen aus dem Erdkern. Diese Hitze ist der seit vier Milliarden Jahren stetig laufende Motor für alle geologischen Prozesse. Die übrigen 70 Prozent des aufsteigenden Energiestroms entstehen durch den stetigen Zerfall natürlicher radioaktiver Elemente in Erdmantel und Erdkruste. Die gespeicherte Wärmeenergie der Erde wird durch Bohrungen angezapft. Je tiefer man ins Innere der Erdkruste vordringt, desto wärmer wird es. Der Temperaturanstieg ist abhängig von geologischen Gegebenheiten. In Deutschland liegt er bei etwa drei Grad Kelvin pro 100 Meter. Weltweit wird die mit heutiger Bohrtechnik nutzbare Energiereserve in der Erdkruste auf das rund 30-fache sämtlicher fossiler Reserven aus Kohle, Gas und Öl geschätzt. Wobei diese Reserve der Wärmeenergie nach menschlichem Ermessen nicht versiegt. Mecklenburg-Vorpommern liegt geologisch betrachtet im Norddeutschen Becken auf einer mehr als 5.000 Meter mächtigen Schicht verschiedener Sedimente, die aus den erdgeschichtlichen Epochen des Jura, der Trias und des Perm stammen. Beinahe überall im Land kann die Geothermie zur Wärmegewinnung genutzt werden, indem in einer Tiefe von 1.000 bis 2.500 Metern Thermalwasser aus dem Untergrund gepumpt wird. Dort unten in der Erdkruste, auf 2.000 Metern Tiefe, beträgt die Temperatur der Thermalsole abhängig von den geologischen Bedingungen etwa 70 °C. Tiefe Geothermie Diese sogenannte tiefe Geothermie nutzen kommunale Energieversorger in MV. Auch die Schweriner Stadtwerke gehören bald dazu, denn unter der Landeshauptstadt befindet sich eine 45 Meter starke, poröse Sandsteinschicht, durch die Thermalwasser mit einer Temperatur von 56 °C fließt. Für die neu installierte Geothermieanlage in Schwerin wurden zwei Bohrungen durchgeführt. Mit dieser sogenannten Doublette wird aus der Förderbohrung zukünftig warmes Thermalwasser aus etwa 1.300 Metern Tiefe an die Oberfläche gepumpt. Diese Sole ist stark salzhaltig und könnte als Heilwasser in Thermalbädern verwendet werden. Für die Nutzung im Fernwärmesystem ist die Sole allerdings zu aggressiv, weshalb die vorhandene Energie über Wärmetauscher abgenommen wird, um sie anschließend ins Fernwärmenetz einspeisen zu können. Anschließend wird die auf 20 °C abgekühlte Thermalsole durch die Injektionsbohrung wieder in die Erdkruste gepresst und so in den Kreislauf zurückgeführt. Schweriner Wärmeclou Das Besondere an der Geothermieanlage der Schweriner Stadtwerke ist der Einsatz von vier in Reihe geschalteten Hochleistungswärmepumpen. Sie erhitzen das bereits erwärmte Wasser des Fernwärmenetzwerks weiter bis auf 82,5 °C. Bei höherem Temperaturbedarf im Winter erfolgt eine weitere Temperaturanhebung durch Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen. Diese Kombination aus Geothermie und Wärmepumpen und die Nutzung in einem bestehenden Fernwärmenetz sei bisher einzigartig in Europa, erklärt Julia Panke, Pressesprecherin der Stadtwerke Schwerin. Die hohen Temperaturen, mit denen das Wasser durch das 240 Kilometer lange Fernwärmenetz der Landeshauptstadt fließt, sind notwendig, denn ein Temperaturverlust auf dem Weg ist unvermeidlich. „Moderne Fernwärmesysteme zeichnen sich durch einen Wärmeverlust von weniger als 20 Prozent aus“, weiß Josef Wolf, Geschäftsführer der Schweriner Stadtwerke. Ganz ohne Verlust geht es nicht. Dennoch ist die Schweriner Geothermieanlage effizient. Bisher wurden Thermalsolen in wesentlich größeren Tiefen und mit einer damit einhergehenden höheren Wassertemperatur für die Wärmeversorgung genutzt. Doch je tiefer die Bohrung, desto höher die notwendigen Investitionen. Ein System, das Geothermie und Wärmepumpe verbindet, war bisher nicht attraktiv genug. „Die Wärmeversorgung mit Gas war über Jahre hinweg viel günstiger“, erklärt Projektleiter René Tilsen. Es gab keine wirtschaftliche Notwendigkeit, auf die Geothermie umzusteigen. Jetzt ist die Situation eine andere. „Wir haben schon frühzeitig den Umbau vorgenommen und nehmen nun eine Vorreiterrolle ein“, sagt Panke. Die Geothermieanlage geht voraussichtlich im Frühjahr 2023 in Betrieb und soll Fernwärme im Umfang von 46,5 Gigawattstunden produzieren. Der Stromverbrauch der Anlage wird mit etwa 10 GWh beziffert. Es bleibt also ein rein geothermischer Energiegewinn von gut 36 GWh. Erdwärme ist kostengünstig. Geothermieanlagen sind es nicht. Etwa 20,5 Millionen Euro kostet die Schweriner Anlage. Das Land stellte Fördermittel in Höhe von 4,2 Millionen Euro bereit. Weitere 2,6 Millionen Euro kamen von der KfW. Trotz der hohen Investition wird wohl mindestens eine weitere Geothermieanlage folgen. Geothermieanlagen sind vergleichsweise klein, weil die Förderung unterirdisch geschieht. Viel mehr als die Abdeckung des Förderbohrlochs ist auch in Schwerin nicht zu sehen. Zurück unter die Erde Von der Förderbohrung gut 1.000 Meter entfernt befindet sich die Injektionsbohrung. Hier wird die Thermalsole zurück in die Sandsteinschicht gepresst, aus der sie zunächst entnommen wurde. Der unterirdische Wasserhaushalt bleibt konstant. Die Sole fließt dann durch die Sedimentschicht erneut in Richtung Förderbohrung. In diesem Kreislauf wird innerhalb von 30 Jahren eine Temperatursenkung der Sole an der Förderbohrung von voraussichtlich einem Grad Kelvin erwartet. Nach der Fertigstellung der Geothermieanlage werden etwa 15 Prozent des Schweriner Fernwärmebedarfs durch Erdwärme gedeckt. Langfristig sei es möglich, dass die Geothermie 50 bis 60 Prozent zur Wärmeversorgung beiträgt. Für eine vollständige Wärmeversorgung wird es dagegen nicht reichen. „In der Spitze ist die Geothermie nicht rentabel. Dafür sind die Investitionskosten zu hoch“, erklärt Projektleiter Tilsen. Großes Potenzial für Geothermie in MV Das geothermische Potenzial zur Wärmegewinnung sei faktisch unerschöpflich, heißt es im Landesatlas für erneuerbare Energien. Allerdings braucht der wirtschaftliche Betrieb einer Geothermieanlage einen hinreichend großen Wärmebedarf an der Oberfläche, der mit einem Wärmenetz erschlossen ist. Für den dünn besiedelten ländlichen Raum eignet sich eine geothermische Wärmeversorgung dagegen nicht. Bereits 2011 wurden 52 Städte im Land mit einer Bevölkerungszahl ab 5.000 Einwohnerinnen in eine Potenzialbetrachtung aufgenommen. Entsprechend der Prognose könnten insgesamt 86 Geothermiedoubletten in den Kommunen errichtet werden. Dabei ist Geothermie in MV keine neue Praxis. In Waren wird bereits seit 1984 eine Geothermieanlage betrieben. Es war die erste Anlage für tiefe Geothermie, die in Deutschland Erdwärme im Megawatt-Leistungsbereich nutzbar machte. Auch in Neustadt-Glewe ist bereits seit Ende der Achtzigerjahre eine Geothermieanlage im Einsatz. Die Förderbohrung reicht etwa 2.500 Meter in die Tiefe, von wo sie eine 99 °C heiße Thermalsole an die Oberfläche pumpt. Bei dieser Wassertemperatur ist der Einsatz einer Wärmepumpe für die Wärmeversorgung nur noch in der Spitzenlast notwendig. Das Kraftwerk war außerdem der erste Geothermiestandort in Deutschland, an dem Strom produziert wurde. In Neubrandenburg dient die ebenfalls in den 80er-Jahren installierte Geothermieanlage mittlerweile als Tiefenspeicher. Überschüssige Wärme eines Gas-und-Dampf-Kombikraftwerks wird hier für die Wärmeversorgung im Winter gespeichert. Die geothermische Förderung aus der Erdkruste, die nun auch die Stadtwerke Schwerin einsetzen werden, liefert eine langfristige grundlastfähige Wärmeversorgung zu konstanten Preisen, heißt es im Landesatlas Erneuerbare Energien. Über MV hinaus gibt es in Deutschland allerdings nur drei geologische Regionen mit geeigneten Voraussetzungen. Neben dem Norddeutschen Becken handelt es sich dabei um das Molassebecken im Alpenvorland und den Oberrheingraben. Nur hier sind poröse, wasserführende Sedimentschichten in ausreichender Tiefe vorhanden, um rentabel Wärme zu nutzen oder Strom zu erzeugen. Für Letzteres braucht es allerdings eine Wassertemperatur von weit über 100 °C, die nur in sehr großen Tiefen auftritt. Für die Stromerzeugung bieten sich in Norddeutschland sowieso andere erneuerbare Energiequellen an. Wind und Sonne gibt es genug. In ganz Deutschland betrug der Anteil erneuerbarer Energien an der Stromgewinnung im Jahr 2021 rund 41 Prozent. Bei der Wärmeversorgung waren es kaum 17 Prozent. Und während die Geothermie bei der Stromgewinnung nicht einmal 0,1 Prozent zur Leistung der erneuerbaren Energien beiträgt, liefert sie bereits zehn Prozent der erneuerbaren Wärme. Dort wo Geothermie genutzt werden kann, ist ihr Potenzial enorm. In Schwerin wird sie einen weiteren Baustein auf dem Weg zur Klimaneutralität des Landes darstellen. Doch noch ist der Weg weit. Dieser Artikel erschien in Ausgabe 13 von KATAPULT MV. MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!