Lichtenhagen war nicht nur ein rassistischer Mob“, sagt Kien Nghi Ha. Der promovierte Kultur- und Politikwissenschaftler forscht und arbeitet zu postkolonialer Kritik, Rassismus und Migration. „Das ganze politische Umfeld war stark rassistisch aufgeladen.“ Die Ereignisse in Rostock-Lichtenhagen vom 22. bis 26. August 1992 werden allmählich von der Geschichts- und Politikwissenschaft als Pogrom bezeichnet. Es gilt als größtes Pogrom der deutschen Nachkriegsgeschichte. Pogrome sind nicht nur Ausschreitungen, Krawalle, Randale oder Übergriffe. Bei einem Pogrom entsteht eine kollektive Gewaltdynamik einer dominanten Mehrheit gegenüber einer gesellschaftlichen Minderheit und es konzentriert sich auf einen bestimmten Ort und Zeitraum. Kien Nghi Ha identifiziert drei Elemente eines Pogroms: staatliche Institutionen, die die Gewalt zulassen, legitimieren und unterstützen; die Mehrheitsgesellschaft, die Gewalt ausübt oder unterstützt; und die Betroffenen der Gewalt, eine rassifizierte Minderheit. Pogrome entstehen nur unter bestimmten Bedingungen: Pogromstimmung Der Gewalteskalation geht eine aufgeheizte, emotionale Stimmung voraus. Diese entsteht durch Gerüchte, Drohungen, Hetze und Aufrufe wegen einer angenommenen Bedrohung durch die Minderheit für die Mehrheitsgesellschaft. In Rostock wurden Monate vor dem Pogrom Flugblätter verteilt, die forderten, dass Rostock deutsch bleiben solle – geschrieben von Michael Andrejewski, einem späteren Landtagsabgeordneten der NPD. Die Lokalzeitungen Norddeutsche Neueste Nachrichten und Ostsee-Zeitung veröffentlichten vor dem Pogrom Gewaltaufrufe aus Flugblättern und anonymen Anrufen unkommentiert in ihrer Berichterstattung. Staat billigt und ermöglicht Gewalt (mit) Staatliche Instanzen und Organe setzen sich nicht aktiv für Verständigung, Lösungen oder den Schutz der angegriffenen Minderheiten ein, sondern billigen die Übergriffe. Monatelang haben weder Stadt noch Land Maßnahmen gegen die katastrophalen Bedingungen um die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber:innen (Zast) ergriffen. Angesichts der vorangegangenen fast täglichen Angriffe auf Geflüchtetenunterkünfte war die Polizei völlig unzureichend vorbereitet. Durch die unangemessenen Reaktionen auf die Situation vor und während des Pogroms ermöglichten Politik, Verwaltung und Polizei die Gewalteskalation in Rostock. Täter-Opfer-Umkehr rechtfertigt Gewalt Die Mehrheitsgruppe nimmt den Staat nicht als ernstzunehmenden Akteur wahr, erwartet keine Hilfe von ihm und nimmt daher „die Dinge selbst in die Hand“. Gewalt wird als legitime und notwendige Selbsthilfe betrachtet. Anwohnende von Lichtenhagen fühlten sich von den Asylsuchenden bedroht, mit dieser Täter-Opfer-Umkehr rechtfertigten sie die Gewalt. Dieser Artikel erschien in KATAPULT MV Ausgabe 11. MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!