Es war schon ein schneller Sprung ins kalte Wasser“, gibt Wenke Brüdgam zu. Seit dem 2. Februar ist sie Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte der Landesregierung. Dieses Amt gab es seit elf Jahren in Mecklenburg-Vorpommern nicht mehr. Bekannt wurde die Personalie erst Ende Januar. Von 1994 bis 2002 war Karla Staszak die erste Parlamentarische Staatssekretärin für Frauen und Gleichstellung der Landesregierung. Ihr folgte bis 2011 Margret Seemann nach. Anschließend wurde das Amt abgeschafft, die Aufgaben fielen in die Zuständigkeit des Sozialministeriums. Die rot-rote Landesregierung hat die Stelle nun wiederbelebt. 28 hauptamtliche Gleichstellungsbeauftragte in MV Brüdgam, die vormalige Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Rostock und damalige Linken-Chefin von MV, stellt allerdings klar: „Ich bin gar keine Gleichstellungsbeauftragte. Ich bin Landesbeauftragte für Frauen und Gleichstellung der Landesregierung.“ Und das ist ein Unterschied. Gemäß Artikel 3 des Grundgesetzes fördert der Staat die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Um diesen Auftrag zu erfüllen, gibt es Gleichstellungsbeauftragte, die laut der Kommunalverfassung für MV in Landkreisen und Gemeinden mit mehr als 10.000 Einwohner:innen hauptamtlich tätig sind. In MV gibt es 28 hauptamtliche Gleichstellungsbeauftragte. Darüber hinaus gibt es Gleichstellungsbeauftragte in Landes- und Bundesbehörden. Gleichstellung nach innen und außen „Kommunale Gleichstellungsbeauftragte sind sowohl nach außen für die Belange der Gesellschaft zuständig als auch nach innen für die Verwaltung“, sagt Heidrun Dräger von der Landesarbeitsgemeinschaft der kommunalen Gleichstellungsbeauftragten von MV. So sind sie einerseits Ansprechpersonen für Bürgerinnen und in Einzelfällen auch Bürger, die sich aufgrund ihres Geschlechts ungerecht behandelt fühlen, andererseits achten sie bei der Arbeit und den Personalentscheidungen der Verwaltung intern auf Geschlechtergerechtigkeit. Hinzu kommt die Pflege von Netzwerken sowie die Organisation von Aktions- und Feiertagen. „Förderung von Infrastruktur bei Stadtentwicklungsplanung, der Vereinbarkeit von Familie und Partnerschaft mit dem Beruf, Arbeitsmarkt, Existenzgründung, soziale Sicherung, Einkommen, Rente, mehr Frauen in die Kommunalpolitik sowie in Führung, häusliche und sexualisierte Gewalt, Stalking, Migrantinnen: Das ist die Palette der Themen, die die Kolleginnen vor Ort bearbeiten“, zählt Dräger auf. Karla Staszak Bevor sie die erste Staatssekretärin für Gleichstellung wurde, war Karla Staszak vier Jahre lang Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Rostock. In ihrer Zeit wurde das erste Frauenhaus in Rostock eingerichtet, eine Beratungsstelle für sexuell missbrauchte Mädchen, Unterkünfte für obdachlose Frauen, ein Existenzgründungsverein und der Frauenkulturverein „Die Beginen“. Doch nur acht der 28 hauptamtlichen Gleichstellungsbeauftragten sind auch tatsächlich in Vollzeit mit diesem Amt befasst. „Die meisten arbeiten weit unter der Hälfte ihrer Arbeitszeit als Gleichstellungsbeauftragte“, sagt Dräger. Sie arbeiten an vielen zusätzlichen Aufgaben oder machen diese Arbeit neben ihrer eigentlichen Tätigkeit, zwischen fünf und zehn Stunden die Woche. „Das geht zulasten der Gleichstellung.“ Gemeinden mit weniger als 10.000 Einwohner:innen können eine ehrenamtliche Gleichstellungsbeauftragte bestellen. „Leider gibt es oft den Versuch, andere Aufgaben anzudocken“, weiß auch Brüdgam. Daher möchte sie in ihrer Amtszeit die Position der kommunalen Gleichstellungsbeauftragten stärken. „Wir möchten für gute Arbeitsbedingungen sorgen, sodass sie sich nicht zerreißen müssen zwischen den Tätigkeiten.“ Gleichstellung als Querschnittsaufgabe Dieser Punkt steht auch im Koalitionsvertrag. Und Wenke Brüdgam ist nun dafür zuständig, die Ziele des Koalitionsvertrags zum Thema Gleichstellung zu verwirklichen. „Und das sind ziemlich viele, darüber freue ich mich sehr.“ 13-mal kommt das Wort „Gleichstellung“ im Koalitionsvertrag vor. In dem Kapitel zum Thema geht es um die großen Aufgaben: die Bekämpfung häuslicher und sexualisierter Gewalt, den Anteil von Frauen in Führungspositionen, die Gleichstellung queerer Menschen. „Gleichstellung ist eine Querschnittsaufgabe“, sagt Brüdgam. Gleichstellungspolitische Forderungen würden sich nicht nur in einem Kapitel finden, das sich „Gleichstellung“ nennt. Nahezu alle Lebensbereiche greifen ineinander: Familie, Arbeit, Mobilität. Beispielsweise besitzen laut einer bundesweiten Statistik mehr Männer als Frauen ein Auto. Frauen würden also mehr von ausgebautem öffentlichen Nahverkehr profitieren. Wenke Brüdgam, Landesbeauftragte für Frauen und Gleichstellung der Landesregierung Weitere Auswirkungen der Mobilität auf die Gleichstellung erlebte Brüdgam als zweifache Mutter und Pendlerin selbst, als ihre Zwillinge noch klein waren: Kinder in die Kita bringen, mit dem Bus von Vorpommern nach Rostock zur Arbeit fahren, acht Stunden arbeiten – plus eine halbe Stunde Pause – und wieder zurück, um die Kinder abzuholen. „Komme ich da mit einem Kitaplatz für zehn Stunden aus?“, fragt sie rhetorisch. So sei schon alleine die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Privatleben mit Kita-Öffnungszeiten, Pendelwegen und Arbeitszeiten ein riesiges Thema. Auch bei den Themen, die nicht vordergründig mit Gleichstellung zu tun haben, würden deren Mechanismen wirksam werden. „In fast jedem Thema sind Gleichstellungsaspekte zu finden. Jedes Haus und jeder Bereich muss reflektieren, wo es Aspekte der Geschlechtergerechtigkeit gibt“, sagt Brüdgam. Alle profitieren von Gleichstellung Ein weiteres Thema, das Brüdgam am Herzen liegt, ist der Abbau von Rollenstereotypen. „Was für ein Bild haben wir von Männern, von Frauen? Warum müssen Männer sich als Versorger fühlen, was machen die Anforderungen, die toxische Männlichkeit, mit Jungen und Männern?“ Auch Männer erleben strukturelle Benachteiligungen und Diskriminierungen aufgrund ihres Geschlechts. Als Gleichstellungsbeauftragte Rostocks kamen auch Männer zu ihr, beispielsweise, weil sie Elternzeit nehmen wollten. „Sie haben das Recht, Vater zu sein, pflegender Sohn zu sein, nicht glauben zu müssen, 60 Stunden die Woche arbeiten zu müssen, um mehr zu verdienen“, zählt Brüdgam auf. Alle würden von Gleichstellung profitieren. „Wir brauchen mehr Feministen.“ Foto: Die Linke MV Wenke Brüdgam  1984 in Rostock geborenAbitur in Ribnitz-Damgarten2004-2010 Studium Politikwissenschaft, Öffentliches Recht, Neuere Geschichte Europas an der Universität Rostock2010: Geburt ihrer Zwillinge2010-2014: Wahlkreismitarbeiterin für verschiedene EU- und Bundestagsabgeordnete2014-2020 Projektreferentin beim Landesfrauenrat MV2017-2022: Vorsitzende der Partei Die Linke in MV1.11.2020-1.2.2022: Gleichstellungs-beauftragte Stadt RostockHobbys: Tauchen, Lesen, Fußballspielen, Volleyballspielen In ihrer Amtszeit möchte sie ein ressortübergreifendes Rahmenprogramm aufstellen, realisieren und evaluieren. Unter breiter Beteiligung Betroffener und der Zivilgesellschaft möchte sie herausfinden, was MV bei der Gleichstellung braucht und welche besonderen Anforderungen es gibt. Wie müssen Beratungsangebote so eingerichtet werden, dass Frauen diese im Flächenland auch erreichen können? Wie können Migrantinnen geschützt werden, die Opfer häuslicher Gewalt in einer Gemeinschaftsunterkunft werden, ohne zu lange in einem Frauenschutzhaus wohnen zu müssen? Und warum gibt es viele Frauen, die studieren, aber so wenig Frauen mit Professuren? „Wir müssen Professorinnen fördern. Wir haben an unseren Hochschulen eine niedrige Professorinnenquote.“ Brüdgam gibt zu: „Am liebsten würde ich schon in einem Jahr mit dem Rahmenprogramm fertig sein, aber das wird nicht funktionieren.“ Der Posten der Gleichstellungsbeauftragten ist am Linken-geführten Ministerium für Justiz, Gleichstellung und Verbraucherschutz angesiedelt. Brüdgam ist somit im Rang einer Abteilungsleiterin im Justizministerium tätig. Ihr Posten ersetzt die Ende 2021 frei gewordene Stelle von Bernd Schubert (CDU) als Stellvertreter des Parlamentarischen Staatssekretärs für Vorpommern, der mit Beginn der neuen Legislaturperiode in Ruhestand gegangen ist. Kritik an Besoldung der Stelle Kurz nach Bekanntwerden der Personalie kritisierte die CDU Ausschreibung und Besoldung der Stelle. Umgekehrt lief es 2017, als die Linke der CDU vorwarf, mit dem hochdotierten Stellvertreterposten für Patrick Dahlemann einen Versorgungsposten für den ehemaligen Landtagsabgeordneten Schubert als „hauptamtlichen Empfängebesucher“ geschaffen zu haben. Die Ostsee-Zeitung nannte ihn nach einer ersten Bilanz seiner Arbeit 2018 „Vorpommerns bestbezahlten Protokollführer“. Heidrun Dräger hingegen freut sich über die Entscheidung: „Wir freuen uns, dass die Position besetzt ist, und gehen von einer guten Zusammenarbeit aus.“ Rostocks Oberbürgermeister Claus Ruhe Madsen (parteilos) gratulierte seiner ehemaligen Gleichstellungsbeauftragten: „Wenke Brüdgam hat als Rostocker Gleichstellungsbeauftragte in kurzer Zeit viele neue Akzente setzen können und sich einen exzellenten Ruf erarbeitet. (...) Wenke Brüdgam hat das Wissen, die Energie und das Netzwerk für diese fordernde neue Aufgabe.“ Und auch Justizministerin Jacqueline Bernhardt (Linke) sagt: „Ich freue mich, dass mit Frau Brüdgam eine ausgewiesene Fachfrau dieses Thema mit betreut. Sie ist durch ihre langjährige Erfahrung bestens vertraut mit den gleichstellungspolitischen Strukturen im Land und zudem sehr gut mit allen Akteurinnen und Akteuren vernetzt. Ich wünsche der neuen Gleichstellungsbeauftragten gutes Gelingen und freue mich auf die Zusammenarbeit.“ Dieser Text erschien in Ausgabe 5. MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!