Am Rostocker Hauptbahnhof tropft Regen kalt von der Überdachung auf die Gleise. Ein bisschen Wind ist auch. Michael Bösener lehnt am Geländer eines Treppenaufgangs. Die norddeutsche Wetterlage hindert ihn nicht daran, seine Beine in eine kurze Hose zu stecken. Bösener blickt auf einen Zug, dessen Ende nicht auszumachen ist. Seine Augen funkeln, denn dieser Zug gehört ihm. Also nicht direkt. Aber für diesen Moment. Für diesen einen Tag. Es ist der Sonderzug der Rostock Seawolves zum Auswärtsspiel der Basketball Bundesliga (BBL) gegen Alba Berlin.  Michael Bösener ist Vorstandsvorsitzender des Fanklubs Baltic Pirates Rostock. Er ist einer, der im Orange Block, der aktiven Fanszene der Seawolves, wahlweise trommelt oder ins Megafon ruft. Er ist einer, der liebevoll über Basketball spricht und dabei immer wieder Worte wie „Familie“, „Freundschaft“ und „gemeinsam“ nutzt. „Wir haben mit fast allen Fanclubs Freundschaft und unterstützen uns gegenseitig.“  Bösener erzählt auch von den Anfängen, den ersten Auswärtsfahrten in der ProB, der dritthöchsten Spielklasse im deutschen Vereinsbasketball. „Damals waren wir manchmal nur zu zweit oder zu dritt bei den Spielen“, erinnert er sich. Dass es einmal einen Sonderzug mit 1.000 Fans geben würde, habe er sich nicht erträumen können. Für den Orange Block sind die Erwartungen an den Tag deshalb schon vor der Abfahrt erfüllt. Doch dann blinzelt Bösener verschwörerisch. „Wenn die Spieler in die Halle einlaufen, haben wir eine große Choreo vorbereitet.“ Orange und Blau, die Farben der Seawolves sollen den kompletten Gästeblock schmücken. Die Vorfreude ist nicht zu überhören. Immer mehr Menschen schlendern auf den Bahnsteig. Jung und alt, irgendwo zwischen zwei und 85 Jahren. Piccolos und Fruchtsaft machen die Runde. Ein kleines bisschen Aufregung liegt in der Luft. So wie beim ersten Schultag nach den Sommerferien, wenn man nicht genau weiß, was einen erwartet. André Jürgens, Vorstandsvorsitzender der Rostock Seawolves, posiert mit zwei Polizisten und einer Schaffnerkelle für die Presse. „Die wundern sich bestimmt, was für einen entspannten Job sie mit uns haben“, witzelt Bösener und blickt auf die Ordnungsbeamten. Jugendarbeit als Basis des Erfolgs Die Seawolves spielen aktuell ihre erste Bundesligasaison überhaupt. Zu Beginn gelangen vier Siege in Folge. Die erste Niederlage kassierten die Basketballer in der heimischen Wolfshöhle im Hinspiel gegen Alba Berlin. Nun, fünf Spieltage vor Ende der Hauptrunde, ist das Saisonziel Klassenerhalt geschafft und sogar die Play-offs sind noch in greifbarer Nähe. „Nach dem guten Start mussten wir uns erst in der Liga akklimatisieren, aber die Mannschaft hat sich im Laufe der Saison stark weiterentwickelt“, sagt Thomas Käckenmeister, Pressesprecher der Seawolves. Die erste Liga ist ein Abenteuer, das für die Seawolves in ein weiteres Jahr geht. In Rostock, einem Standort, der vor allem für Fußball und Handball bekannt ist, wird somit auch kommende Saison Basketball in der höchsten nationalen Liga gespielt. „Das Pflänzchen ist aufgegangen“, freut sich Käckenmeister über die umfangreiche Jugendarbeit des Vereins. „Sie ist der Grund für unsere Aufstiege.“ Sowohl in der Spitze als auch in der Breite sind die Seawolves sehr gut aufgestellt, urteilt er. Gemessen an den mehr als 1.200 aktiven Spielern und Spielerinnen sind die Rostock Seawolves der drittgrößte Basketballverein Deutschlands. „Aus dieser breiten Basis kommen unsere Talente von Morgen“, ist sich Käckenmeister sicher. Diese Kontinuität ist im aktuellen Mannschaftskader sichtbar. Viele Spieler der Aufstiegssaison haben den Schritt in die höchste Spielklasse mitgemacht. „Mit ihnen haben wir Erfahrung und auch mentale Stärke behalten. Die Spieler wissen, wie sie in kritischen Phasen reagieren müssen.“ Der Orange Block im Sonderzug nach Berlin „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin“ Der Sonderzug rollt, verlässt den Rostocker Hauptbahnhof, zuckelt durch Mecklenburg gen Süden. Sondershirts zur Sonderfahrt werden verteilt. Sie sind Teil des Pakets. Zug, Shirt, Ticket – teilfinanziert von Sponsoren. „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin“, schallt es durch den Zug. Dazu trommelt der Orange Block. „Let’s go Seawolves, let’s go.“ Dosenbier klackt und schäumt. Die Aufregung macht durstig. Michael Bösener erzählt vom Fan-Dasein, von der familiären Atmosphäre, von der Nähe zu den Spielern damals in der Pro B und vom Aufstieg bis in die Bundesliga. Es laufe nicht immer alles gut, aber der Orange Block, die Seawolves, die Spiele: „Das macht schon Spaß.“ Dann erzählt Bösener von Geburtstagsfeiern mit Spielern, von Fantagen, an denen die Profis gegen eine Fanmannschaft spielten. Gerade die Nähe zu den Spielern vermisst Bösener mittlerweile. Andere Liga, andere Standards. Je professioneller, desto distanzierter. So ist es auch im Basketball. Dass das Miteinander der Fans bleibt, ist Bösener wichtig. Auch bei Auswärtsspielen. Fair soll es sein, familienfreundlich. „Wir haben eine hohe soziale Verantwortung und wollen Werte vermitteln“, sagt auch Pressesprecher Käckenmeister. Die eigenen Fans seien dabei maßgeblich.  Noch sieht Käckenmeister die Seawolves nicht als Traditionsverein. Dafür sei das Wachstum in den letzten Jahren zu schnell vorangeschritten. Doch der Sonderzug ist bereits ein Dankeschön für die andauernde Unterstützung der Fans. Schon in der ersten Woche seien 800 Tickets verkauft worden. Zusätzlich zu den 1.000 Fans im Sonderzug werden rund 500 weitere Anhängerinnen in Berlin erwartet. Es sei überhaupt erst das dritte Mal, dass mehr als 1.000 Gästefans in der BBL anreisen, so Käckenmeister. Stets ging die Reise nach Berlin. Laut, lauter, Rostock „Hauptsache Spaß haben.“ Mit diesem Credo erreicht der Sonderzug den Berliner Ostbahnhof. Schlachtenrufe tönen über die Gleise. „Hurra, hurra, die Rostocker sind da.“ Ein paar Polizisten haben sich positioniert, schauen trainiert grimmig. „Sowas hatte ich auch noch nicht“, kommentiert Bösener die behördliche Eskorte hinaus aus dem Bahnhof. Draußen empfängt warme Hauptstadtluft die Fangemeinde. Berlin, eine Stadt so unbeirrbar und so cool wie Waffeleis, reagiert verdutzt. Passantinnen filmen und fotografieren 1.000 Seawolves-Fans, die angeführt vom sichtlich stolzen Orange Block zur Mercedes-Benz Arena marschieren. Etwa 1.000 Seawolves-Fans marschieren mit dem Orange Block vom Ostbahnhof zur Mercedes-Benz Arena Das Auswärtsspiel beim deutschen Meister ist aus sportlicher Sicht eine klare Angelegenheit. Alba ist Favorit. Dennoch hoffen die Gästefans auf eine Sensation. Immerhin kündigt der Hallensprecher die Seawolves als „einen der stärksten Aufsteiger der Ligageschichte“ an. Noch nie waren so viele Rostocker Basketballfans bei einem Auswärtsspiel der Seawolves wie die etwa 1.500, die jetzt in der Halle sind. Überhaupt würden durchschnittlich nur etwa 30 bis 50 Gästefans bei Spielen in der BBL gezählt, schätzen sowohl Thomas Käckenmeister als auch sein Pendant bei Alba Berlin Tobias Koschack. Die Rostocker sind mit einer bis zu 50-mal größeren Schaar anwesend. Auch Alba-Geschäftsführer Marco Baldi freut sich auf die Atmosphäre und zeigt sich zugleich beeindruckt: „Die Euphorie der Rostocker Fans war bereits bei unserer Vorbereitungspartie in Oranienburg vor der Saison sowie beim Hinspiel in Rostock zu spüren. (…) Ich glaube, das könnte der Beginn einer tollen Fanfreundschaft werden.“ Durch die Arena dröhnt das Stampfen der Trommeln. Es ist unfassbar laut. Dichter Nebel zieht über das Parkett, als die Alba-Spieler einlaufen. Im orange und blau leuchtenden Gästeblock prangt ein riesiges Seawolves-Banner. Die Wölfefans heulen durch den Nebel. Das Spiel, erst intensiv und ausgeglichen, wird zu Beginn der zweiten Halbzeit intensiv und einseitig für die Berliner Titelverteidiger. 12.117 Zuschauer peitschen die Mannschaften an. Auch das ist eine Rekordkulisse für die Seawolves. Im letzten Viertel ist das Spiel einigermaßen gelaufen. Da entert plötzlich die Rostocker Fangemeinde, angeführt von den Baltic Pirates, die Halle mit ihrem Gesang: „Let’s go, Seawolves, let’s go.“ Die Berliner Fankurve ist für einen Augenblick überrumpelt. Als sie die Hoheit über die Lautstärke wieder an sich reißt, ist es bereits zu spät. Ekstase im Gästeblock. Wahnsinn. Auf den Rängen unterstützen lautstarke Rostocker Basketballfans ihre Seawolves (Foto: Stefan Junghanns) Justus Koch, der als freier Journalist für das Portal basketball.de schreibt, stellt nach dem Spiel fest, dass er an diesem Tag die lautesten Fans in seiner dreijährigen Zeit als Basketballreporter erlebt hat. Das Spiel gewinnen die Berliner deutlich mit 104:79. Doch der Orange Block feiert die eigene Mannschaft und sich selbst. Später, auf der Fahrt zurück nach Rostock, resümiert Fanklubchef Bösener die Erlebnisse. Die Stimmung war gut, meint er. Die Arena vielleicht ein bisschen zu groß. Zu Hause in der Wolfshöhle, der Rostocker Stadthalle, sei man näher beieinander. Da sei die Stimmung noch besser. Dennoch war es ein toller Tag. „Wir haben eine Straße in Berlin gesperrt, das schafft man auch nicht so oft.“ 12.117 Zuschauer in der Halle sind eine Rekordkulisse für die Seawolves (Foto: Gunnar Rosenow) Ein Tag für den Basketball Auch für die Offiziellen des Vereins war der Tag emotional. „Es war unglaublich. Das macht große Lust auf viel mehr davon“, urteilt Vorstandsvorsitzender André Jürgens. Noch Tage später spricht er von „Gänsehautmomenten, die unbeschreiblich sind und unvergessen bleiben werden“. Für Thomas Käckenmeister ist vor allem die Fanbindung entscheidend. „Es war eine tolle und vor allem entspannte Fahrt. Das hatten wir so gehofft und es ist so gekommen.“ Auch der sportliche Leiter Jens Hakanowitz ist trotz der Niederlage zufrieden: „Es ist unglaublich schön, dass wir so viele Rostocker mobilisieren konnten, heute den Weg nach Berlin zu finden.“  Der Tag endet, wo er begann, an einem Gleis des Rostocker Hauptbahnhofs. Müde und zufrieden lächelnde Fans steigen aus dem Sonderzug. „Das war der Hammer. Die Berliner müssen gedacht haben, wir sind bekloppt“, sagt Michael Bösener und fragt mit erwartungsvollem Blick: „Und, kommst du jetzt öfter zum Basketball?“ Der Fanklubvorsitzende ist so begeisternd, dass ablehnen keine Option ist. „Wir basteln auch schon für die Choreo zum letzten Heimspiel.“ Let’s go Seawolves, let’s go. MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!