Während sich andere auf dem Weihnachtsmarkt in winterliche Stimmung bringen, harren die Obdachlosen vom Mühlentor weiterhin Tag und Nacht in Sturm, Schneeregen und Kälte aus. Der Winter kam früher als erwartet, die Temperaturen fallen schon Anfang Dezember unter null Grad. So auch am Donnerstag, als gut 40 Greifswalder:innen bei Schneeregen für den Schutz und die Unversehrtheit von Wohnungslosen vor dem Mühlentor demonstrierten. Der Obdachlose Eckard Rütz wurde vor 21 Jahren an einer dunklen Stelle neben der Mensa am Mühlentor ermordet. Foto: Anna Hansen Anlass war die Räumung der Obdachlosen am 25. November, dem Todestag des dort im Jahr 2000 brutal ermordeten Obdachlosen Eckard Rütz. Mit Abstand und Mundschutz standen die Demonstrierenden im Schneeregen und hörten die mahnenden Redebeiträge des Bündnisses „Schon vergessen?“. Die Organisatoren waren froh, dass „trotz des Schneeregens so viele Leute spontan vorbeigekommen sind“. Trotz aufgeweichter Redezettel sind ihre Forderungen klar: keine Vertreibungen und kein Bettelverbot im öffentlichen Raum. Stadt und WVG machen Millionengewinne mit Wohnraum Die Demonstrierenden fordern eine Position der Stadt und insbesondere des Oberbürgermeisters Stefan Fassbinder (Grüne). Stadtvertreter:innen oder der Oberbürgermeister nahmen an der Veranstaltung nicht teil. Der Obdachlose Frank Klawitter habe auf seinen vier Quadratmetern niemanden gestört, er habe sich sogar mit dem Kioskbetreiber abgesprochen, schallte es durch die Lautsprecher – jetzt müsse er 550 Euro für die Räumung seiner letzten Habseligkeiten zahlen. „Die Stadt gehört allen! Keine Vertreibung“ und „Stadt für alle statt Spießbürgertum“ heißt es auf den Protestbannern. Foto: Anna Hansen Die Vertreibung armer Menschen aus der Innenstadt durch Sanierung, Privatisierung und teure Mieten sei ein jahrelanger, schleichender Prozess. Demgegenüber stehe eine städtische Wohnungsgesellschaft, ein kommunales Unternehmen der Hansestadt Greifswald, die Wohnungsbau- und Verwaltungsgesellschaft Greifswald (WVG) mit 8,7 Millionen Euro Rekordgewinn im letzten Jahr. Davon fließen 3,4 Millionen Euro in den Stadthaushalt. Forderung: Ungenutzte Häuser in der Loefflerstraße für Obdachlose öffnen Die Redner:innen forderten gemeinsam mit den Bündnissen „Schon vergessen?“ und „Unteilbar MV“, die WVG und die Wohnungsbaugenossenschaft Greifswald (WGG) auf, ungenutzten Wohnraum in der Loefflerstraße 8 und 44 für Wohnungslose noch vor Kälteeinbruch zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig machten sie auf die Notwendigkeit einer sozialen Lösung für alle, die von Wohnungslosigkeit bedroht sind – wie die Bewohner des ehemaligen „Müllerblocks“ in der Makarenkostraße –, aufmerksam. Neben dem Bündnis „Schon vergessen?“ nahmen auch „Unteilbar MV“ und „Greifswald ist bunt“ an der Kundgebung teil. Foto: Anna Hansen Klawitter habe eine Wohnung im Ostseeviertel abgelehnt, aufgrund seiner schlechten Gesundheit, weil er seine Kontakte in der Innenstadt habe und nicht im Randgebiet vereinsamen wolle, so die Organisatoren auf Zwischenrufe von Passanten, die auf die ihm angebotene Wohnung im Ostseeviertel hinwiesen. „Frank weiß selbstbestimmt, was er will: eine bezahlbare Wohnung in der Innenstadt im Erdgeschoss“, heißt es auch in einem offenen Brief an die Bürgerschaft und Mitglieder der Stadtverwaltung. „In der Obdachlosenunterkunft fühlt er sich unwohl und außerdem sucht er eine langfristige Lösung“ – und die stehe ihm und den anderen zu, meinen die Demonstrierenden. „Ein Großteil der Beschwerden über ihn resultieren wohl eher aus Vorurteilen als aus einer Bedrohung“, vermutet „Schon vergessen?“. Die Demonstrierenden sehen eher Gefahr für Klawitter und die anderen Obdachlosen: durch Kälte, Corona und nächtliche Übergriffe. Neben Redebeiträgen gab es heißen Tee für alle im Schneegestöber. Foto: Anna Hansen Kurzinterview mit Frank Klawitter Zur Kundgebung konnte Frank Klawitter nicht selbst erscheinen – er blieb an seinem neuen Platz unweit der Mensa: „Die Kälte ... Ich habe zu starke Kreuzschmerzen. Hab schon einen ganzen Sack Müll entsorgen müssen, das hat gereicht für heute.“ Der Rücken schmerze ohne die Matratzen, die dem 60-Jährigen erst gespendet und dann auf Anordnung des Tiefbau- und Grünflächenamtes Greifswald von Ordnungsamt und Polizei entfernt wurden. Sein Herz, von einer Operation vor zwei Monaten geschwächt, mache nicht mehr viel Aufregung mit, erzählte er gegenüber KATAPULT MV. Die Welle der Solidarität, die anschließend über ihn hereinbrach, ist auch heute noch spürbar: viele Menschen seien vorbeigekommen und hätten ihre Hilfe angeboten. Über die KATAPULT-MV-Spendenaktion habe er sich sehr gefreut. „Das ist doch schön! Ich habe für den ganzen Monat sonst nur 30 Euro, da hätte ich mir jeden Tag einen Kaffee leisten können, aber ich bin ja sparsam. Dann kann ich ja sogar meine Rezepte noch einlösen!“, ist der 60-Jährige erleichtert. KATAPULT MV: Haben Sie ihre Sachen wiederbekommen? Frank Klawitter: Ja aber das konnte ich zum Teil alles wegschmeißen, alles durchgeweicht und nass, die Ratten waren schon bei - auch in den Matratzen. Die Stadt hat gar nichts weiter gesagt, sie sind wahrscheinlich froh, dass sie den Mist wieder los sind. Dabei waren die Leute vor der Räumung alle zufrieden mit meiner Anwesenheit an dem Toilettenhäuschen. Ich war immer für die Leute da mit Wechselgeld und hab ein nettes Wort eingelegt. Aber man bräuchte da eine Wechselstube, ich war ja für die Leute der Mann in Not, der Retter für die, die auf die Toilette wollten. Müssen Sie trotzdem die 550 Euro Räumkosten bezahlen? Ja, ich habe schon die Rechnung bekommen, da sind die ja fix. Kam der Bürgermeister vorbei oder hat er jemanden geschickt, um Sie über den Verbleib ihres Eigentums zu informieren? Nein, die vom Ordnungsamt waren jetzt schon zwei-, dreimal hier und haben gefragt, ob alles in Ordnung ist. Ich sagte: „In Ordnung ist gar nichts, meine Sachen sind alle durchgeweicht! Wer bezahlt das alles, wer kommt für meinen Schaden auf? Die Weihnachtssachen, das waren Sachen im Wert von 200 Euro! Das hab ich mir alles vom Munde abgespart. Jedenfalls geht’s hier an meinem neuen Platz vorwärts. Wie geht’s Ihrer Katze Luna? Hat sie den neuen Platz akzeptiert? (Lächelt.) Die Katze kommt jetzt auch regelmäßig her und wird verwöhnt. Nur das Beste, Lachs und irgendwas, was ich mir noch nicht mal leisten kann. Aber dafür hat man das Tier hier. Ihr ging es ja nicht anders als mir, obdachlos, ausgesetzt, verwahrlost und verfilzt. Wenn ich sie nicht aufgepäppelt hätte und chippen lassen, wer weiß, was aus ihr geworden wäre. Sie gehört jetzt zu meinem Inventar hier dazu. Ich hab ein bisschen Abwechslung, wenn sie abends kommt, ab und zu kriecht sie auch unter den Schlafsack und legt sich in meine Kniekehlen rein, da ist das warm, obwohl sie ihr Körbchen jetzt wieder hat – aber wir werden uns das schon schön machen. Weiterlesen: Greifswalder Obdachloser nach Räumung im Interview Zur Spendenaktion für Frank Klawitter MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!