Plötzlich war der Krieg ganz unmittelbar und ich sprachlos. Die ersten Nachrichten der russischen Militäroffensive in der Ukraine nahmen mich ein. „Das ist so absurd“, dachte ich. Es ist ein naiver Gedanke, der meine Privilegien offenlegt. Ich kann mich an den Frühstückstisch setzen, Kaffee trinken und zuschauen, wie mein übernächster Nachbar bombardiert wird. In den kommenden Tagen fühlte ich mich machtlos. Unfähig, etwas anderes zu tun, als Nachrichten zu konsumieren. Ich wollte alles wissen, ich wollte informiert sein, und darüber ging mein Alltag verloren. Ich war nicht klar genug im Kopf, um professionell etwas anderes zu erledigen. Immer wieder hatte ich das Handy in der Hand, um zu schauen, was es Neues aus der Ukraine gab. Und ich war genervt. Genervt von mir, so unproduktiv und passiv zu sein. Auf allen Kanälen wurde zur Solidarität aufgerufen, Social Media war blau-gelb. Viele gute Wünsche und meine eigene Bequemlichkeit. Eine Messengernachricht half mir auf die Beine. Weitergeleitet von irgendwo. „Die Menschen in der Ukraine brauchen unsere Hilfe!“, stand da. „Wir werden nächste Woche Hilfsgüter in die Ukraine bringen!“, und weiter: „Wir haben einen Kontakt vor Ort.“ Es folgte eine Liste von benötigten Sachspenden: Lebensmittel, Hygieneartikel, Winterkleidung, Feuerlöscher, Taschenlampen, Stromaggregate und so weiter. Das war mein Anstoß. Die Chance, konkret zu helfen. Mein Umfeld nahm ich direkt mit, sammelte Kleidung, Feuerlöscher, medizinische Ausrüstung. An einem Samstagvormittag fahre ich aus dem rauen Norden Rügens nach Bergen ins Industriegebiet. Mein Ziel: der Agrarmarkt Landfuxx. Über eine Rampe betreten Kunden den Laden. Sie suchen Futtermittel, Besenstiele, Gummistiefel oder Dünger. Andere suchen gar nichts. Sie bringen. Kisten, Koffer, Säcke, gefüllt mit Gütern für die Menschen aus der Ukraine. Mitten im Geschäftsbetrieb sortieren die Mitarbeiter:innen die entgegengenommenen Spenden. In den Gängen stapeln sich Kartons und Konserven. Kerstin Wessel, die Inhaberin, steht hinter der Kasse und bemüht sich um Überblick. Kunden und Spenden, beides will koordiniert werden. Ein dickes Sparschwein steht auf dem Tresen. „Spritkasse“ ist darauf zu lesen. Rund 1.100 Kilometer sind es von hier bis an die polnisch-ukrainische Grenze. Lebensmittel, Kleidung, Decken und Schlafsäcke, Hygieneartikel, Medikamente und medizinische Hilfsmittel, Feuerlöscher und Feuerwehrschläuche – manches ist bereits bei der Ankunft am Agrarmarkt schon sortiert und mehrsprachig beschriftet, anderes muss noch geordnet werden. Ich stehe in der Tür und weiß für einen Moment nicht, wohin mit mir, als Jaqueline vor mir auftaucht. Sie arbeitet im Landfuxx und ihr erkläre ich mein Anliegen: helfen, wo ich kann. Zuerst trage ich mich in eine Liste potenzieller Fahrer ein, die bereit sind, die angenommenen Spenden bis in die Ukraine zu fahren. Es gibt einen direkten Kontakt zu einem Landwirtschaftsbetrieb in der Nähe von Lwiw. Die Hilfe ist persönlich, in wenigen Tagen organisiert. Alles aus dem Bauch heraus und ohne zu wissen, was erwartet werden kann. Klar ist lediglich das Gefühl, das Richtige tun zu wollen. Danach geht es rein in die Gänge des Agrarmarktes. Die Situation ist leicht erklärt: Es herrscht Chaos. Aufgerissene Kleidersäcke, halb gepackte Kartons, Kleberollen, immer wieder der Ruf nach einer Übersetzung, denn auch eine mehrsprachige Beschriftung für die Menschen im Zielgebiet gehört zur Annahme der Spenden. Etwa sechs oder sieben Personen sortieren zwischen den Regalen immer mehr Hilfsgüter. Dazwischen Kunden, die dieses und jenes benötigen. Ich versuche meinen Platz im Ablauf zu finden und bin direkt mit allen per Du, ohne mehr als ein oder zwei Namen zu kennen. Fertig gepackte Kisten tragen wir nach draußen und beladen einen riesigen Container. Auch hier Chaos, doch die Aufgabe ist klar. Ein dreidimensionales Tetrisspiel liegt vor uns. Einstapeln im ständigen Fluss neuer Spenden. Wir füllen jede Lücke, und täten wir es nicht, gäbe es im Geschäftsraum bald keinen Platz mehr. Die Solidarität und Bereitschaft der Menschen beeindrucken mich. Immer wieder fahren voll beladene PKW und Transporter auf den Parkplatz, um noch mehr Güter abzugeben. Fast alle bringen Kleidung und das ist, trotz aller Dankbarkeit für diese Gaben, eine Herausforderung. Kleidung, gerade für den Winter, ist sperrig. Sie nimmt viel Platz in Anspruch. Sowohl beim Sortieren als auch beim Verladen. Handlicher sind Lebensmittel und Hygieneartikel. Ich nenne sie die „Einwegprodukte“, weil sie nur einmalig oder nur von einer Person genutzt werden können und deshalb besonders gebraucht werden. Diese Erkenntnis ist so naheliegend, dass sie schon zu einfach erscheint. Auf dem Parkplatz kommen immer mehr Spenden zusammen. Manches ist bereits sortiert und mehrsprachig beschriftet und landet direkt vom Kofferraum im Container. Ein Überblick: Lebensmittel, Kleidung, Decken und Schlafsäcke, Hygieneartikel, Medikamente und medizinische Hilfsmittel, Feuerlöscher und Feuerwehrschläuche. Wahnsinn. Menschen kommen und bringen alles Mögliche. Sie wünschen Glück, doch manchen steht auch die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Einer Dame mit grauem Haar stehen Tränen in den Augen. Sie umarmt mich, schluchzt, dankt mir und den anderen Helfer:innen für das, was wir leisten. Ihre Geste ist emotional und voller Zuneigung. Ich bekomme ein mulmiges Gefühl. Nichtsdestotrotz bin ich überwältigt, zu sehen, wie viele Menschen versuchen, mit Zeit und Mühe die Lage anderer zu verbessern. Selbstverständlich ist nichts davon. Tagelang fließt der Strom der Spenden. Die meisten freuen sich, helfen zu können. Ihnen geht es wie mir. Es ist ein moralischer Akt, der auch zur eigenen Katharsis beiträgt. Wir helfen und fühlen uns damit selbst besser. Abseits zu stehen, ist hier für niemanden eine Option. Krieg in Europa, Krieg in der Ukraine geht uns alle an. Zwei Tage später, am Montagmorgen, ist der Container voll und abtransportiert. Stattdessen beladen wir einen großen Anhänger. Als auch dieser voll ist, bricht die Achse. Ärgerlich, aber kein Problem, denn ein leerer LKW ist bereits auf dem Weg. Fertig gepackte Kisten werden in einen riesigen Container oder gleich in den LKW geladen. Im Landfuxx haben die Mitarbeiter:innen etwas Struktur ins Chaos gebracht. Hygiene, Lebensmittel, Kleidung – alles hat eigene Bereiche. Dazu gibt es eine Rubrik, die zwei Tage zuvor noch nicht vorhanden war: Müll. Schmutzige Decken, zerrissene Kleidung. In den abgegebenen Kisten und Säcken tauchen sie nur vereinzelt auf, doch Stück für Stück türmen auch sie sich immer höher. Ihr Anblick betrübt mich, ohne dass ich daraus einen Vorwurf formulieren möchte. Dennoch: Wer Abgetragenes abgibt, handelt mindestens unbedarft. Lumpen haben nichts mit Solidarität zu tun. Menschen auf der Flucht haben Würde verdient und ich würde mich schämen, einer flüchtenden Person eine zerrissene, mit Farbspritzern befleckte Hose als großzügige Spende anzubieten. Am Mittwoch macht sich der Landfuxx-Konvoi mit 28 Fahrzeugen von Rügen auf den Weg ins polnische Chelm im Grenzgebiet zur Ukraine. Als Fahrer werde ich nicht gebraucht und so steige ich in den Zug nach Rostock. Im „grünen Ungeheuer“, einem hässlichen Klotz in der Parkstraße, der zur Universität Rostock gehört, sammelt der Verein „Rostock hilft“ ebenfalls Spenden für die Ukraine. Seit 2015 unterstützt Rostock hilft Geflüchtete, Asylsuchende und Migrant:innen. Anders als auf Rügen gibt es hier eine Struktur und Erfahrung mit geflüchteten Menschen, und doch ist das Bild ähnlich. Eine gewaltige Menge unsortierter Kisten und Säcke, eine Handvoll ehrenamtlicher Helfer:innen, die sich durch das Spendengebirge arbeitet, und immer wieder Menschen, die noch mehr Spenden vorbeibringen. „Die Leute wissen zum Teil nicht, wohin. Die fühlen sich hilflos, die wollen etwas machen“, erklärt mir ein Sprecher von Rostock hilft. Das „grüne Ungeheuer“ ist eine von mehreren Sammelstellen in Rostock. Hier im Hinterhof findet zugleich ein Flohmarkt statt. Es sind bereits Menschen aus der Ukraine in der Stadt, die, in Deutschland angekommen, mit leeren Händen dastehen. Sie suchen nach Kleidung und Lebensmitteln, nach Shampoo und Schuhen. Mütter, Kinder, Großmütter. Spenden anzunehmen, zu sortieren und gleichzeitig bereitzustellen, erfordert eine neue Stufe der Organisation. Erst recht, wenn eine gemeinsame Sprache fehlt. Übersetzungsprogramme helfen und doch bleibt in der Kommunikation vieles rudimentär. Samuel arbeitet ehrenamtlich bei Rostock hilft, zeigt mir die Räume der Spendenannahme und erklärt mir das Arbeitsprinzip. In der Theorie ist alles klar, doch die Praxis zeichnet ein anderes Bild. Auch im „grünen Ungeheuer“ gibt es viel zu wenig Raum, um in Ruhe sortieren zu können. Etwa zwölf Helfer:innen sind beschäftigt. Die meisten von ihnen Studentinnen. Annemarie ist da und Johanna. Wir sind per Du, die Sache verbindet. Auf dem Hinterhof des Universitätsgebäudes in Rostock wurde ein kleiner Flohmarkt organisiert. Weil ich über Nacht in Rostock bleibe und auch am nächsten Morgen helfen möchte, überträgt mir Samuel direkt die Verantwortung für den nächsten Vormittag. Schlüssel und Vereinstelefon wandern in meine Hosentasche. Auch das gehört zur unorganisierten Wahrheit: Ich bin gerade erst ein paar Stunden dabei und aus Mangel an Alternativen schon verantwortlich für ein riesiges Spendenlager. Die Zentrale von Rostock hilft ruft an. Da sei ein Zahnarzt, der Tausende Masken spenden möchte. Wohin damit? Haben wir Platz? – Nein, leider nicht. Vielleicht kann das Rote Kreuz helfen? Nächster Anruf: Eine Unterkunft braucht vier Matratzen. – Haben wir. Perfekt. Nächster Anruf: Monchi kommt am Abend rum, weil er ein paar Kisten einladen will. Er sammelt mit seiner Band „Feine Sahne Fischfilet“ ebenfalls Spenden und fährt sie bis an die Grenze. – Soll er. Gebe ich weiter, denn dann bin ich nicht mehr da. Es ist ein ständiges Geschiebe. Hin und her. Am Ende, und das ist wirklich bewundernswert, wird es dank des Ehrenamtes funktionieren. „Wir dürfen die Leute, die uns unterstützen, nicht überlasten“, heißt es vonseiten des Vereins Rostock hilft. „Uns ist mehr geholfen, wenn jemand gelegentlich für ein paar Stunden vorbeikommt.“ Keine Hilfe sei es dagegen, drei Tage komplett durchzuziehen und danach nie wieder helfen zu wollen, weil es so anstrengend war. Dass die Stadt Rostock Ehrenamtliche in Zwölf-Stunden-Schichten sucht, löst bei den Verantwortlichen des Vereins bloßes Kopfschütteln aus. Auch an diesem Vormittag kommen freiwillige Helfer:innen, die sich bei Rostock hilft meist für Zwei-Stunden-Schichten angemeldet haben. Annemarie ist wieder dabei; sie bleibt den ganzen Tag. Gemeinsam schmeißen wir den Laden, erklären anderen Helfer:innen, wie wir die Arbeit aufteilen, und nehmen immer wieder Sachspenden an. Doch besonders das Kleiderlager ist voll und so entschließen wir uns, hier die Annahme auszusetzen. Uns fehlt schlicht der Platz für noch mehr Klamotten. Es ist nicht leicht, Solidarität abzulehnen, doch alle zeigen Verständnis. „Wenn ihr mögt, dann kommt in einer Woche wieder“, biete ich an, wenn das Kleiderlager wieder frei ist. Viele versprechen, wiederzukommen. Auf den Kanälen von Rostock hilft – auf der Website und in den sozialen Medien – gibt es immer wieder aktualisierte Spendenliste von Dingen, die gerade dringend benötigt werden. Auch andere Organisationen teilen ähnliche Listen, denn Spenden sind dann besonders hilfreich, wenn sie eine aktuelle Lücke schließen können. Ein Ehepaar bringt Lebensmittel – Konserven. Und weil gerade viele Kinder im Hof sind, kommen die beiden ein paar Minuten später mit Schokolade und Überraschungseiern zurück. Es ist ein kurzer, aber intensiver Glücksmoment, der über den Hof huscht. Die Situation auf dem Flohmarkt ist vertrackt. Frauen suchen Kleidung in speziellen Größen für ihre Kinder, die sicher irgendwo im Durcheinander zu finden sind. Aber uns fehlt die Kapazität, darauf einzugehen. Wir können lediglich weitere Kisten nach draußen stellen und hoffen, dass etwas Passendes dabei ist. Was fehlt, ist Unterwäsche für Jugendliche und Frauen. In den überbordenden Kleiderbergen gibt es davon viel zu wenig. Gegen Mittag wird es ruhiger. Endlich haben wir Zeit zum Sortieren. Doch auch hier fällt mir auf, dass gut gemeint nicht gleich gut gemacht ist. Einzelne Schuhe braucht niemand und auch Kleidung voller Hundehaare wollen wir nicht weiterreichen. Der größte Witz ist ein T-Shirt mit aufgedruckter Russlandflagge. Am frühen Nachmittag übergebe ich Telefon und Schlüssel an Annemarie. Ich muss zurück nach Rügen, denn auch mein Leben geht weiter. Mein Kopf ist etwas leichter. Die Solidarität meiner Mitmenschen hat mich abgeholt. Das russische Militär ist in der Ukraine unterdessen weiter vorgerückt. Es läuft bereits die zweite Woche Angriffskrieg, als ich wieder auf Rügen ankomme. Zwei Wochen, kaum Zeit, und doch ist so viel Unterstützung angelaufen. Nicht nur in Rostock und auf Rügen, sondern überall im Land. Mit vorhandenen Strukturen wie Rostock hilft, oder aus dem Nichts, wie der Spendenkonvoi von Kerstin Wessel und ihren Mitarbeiter:innen. 45 Stunden nach seiner Abfahrt ist der Konvoi wieder auf Rügen. Mit dabei sind 27 Menschen aus der Ukraine, die nun auf der Insel untergebracht werden. „Jetzt gründen wir einen Verein“, erklärt Kerstin Wessel. „Wir wollen Geld sammeln, damit wir weitere Spenden auf Paletten in die Ukraine schicken können.“ Ich freue mich über dieses Miteinander, das so selbstverständlich daherkommt, wenn Not sichtbar ist, und hoffe, dass wir es noch lange erhalten können. Dieser Artikel erschien in April-Ausgabe von KATAPULT MV.

(Fotos: Morten Hübbe) MV braucht mehr als nur eine Zeitung pro Region. Holt euch ein KATAPULT-MV-Abo! KATAPULT MV abonnieren!