Zuzugsstatistik

Alle wollen hier weg hin?

2020 ist Mecklenburg-Vorpommern gewachsen. Obwohl hier mehr Menschen sterben, als geboren werden. 12.581 Menschen sind dazugekommen. Freiwillig. Das liegt auch, aber nicht nur an Corona.

Land zum Leben“, so wird man begrüßt, wenn man auf der Autobahn die Landesgrenze überquert. Der Slogan ist Teil eines zur Imagekampagne gewordenen Minderwertigkeitskomplexes. Wozu soll ein Bundesland schließlich sonst sein, wenn nicht zum Leben. Er zeigt, dass Mecklenburg-Vorpommern auch 2021 vielen noch als ein Land gilt, in dem man außer Urlaub nicht viel machen kann. Dabei gibt es schon seit 2013 mehr Zuzüge als Wegzüge. Und nun hat Corona der Zuwanderung nach MV kräftigen Rückenwind gegeben. Sehnsucht nach Leben auf dem Land, Einschränkungen durch Corona-Maßnahmen und die neue Flexibilität der Arbeitswelt haben sich für viele Umzugswillige vermutlich zu einem ohrenbetäubenden „Wann, wenn nicht jetzt!“ verbunden. Wer schon immer raus aus der Stadt wollte, bestellte den Umzugswagen diesmal wirklich.

Jedenfalls ist MV 2020 gewachsen. Erstmals in ernstzunehmendem Ausmaß, jedenfalls wenn man das Jahr 2015 rausrechnet, als viele Flüchtlinge eher unfreiwillig nach MV kamen. Und das, obwohl hier nach wie vor (und wegen des hohen Altersdurchschnitts vermutlich auch noch länger) jährlich mehr Menschen sterben, als geboren werden. Denn im Corona-Jahr 2020 sind 44.647 Menschen nach Mecklenburg-Vorpommern gekommen. 12.581 mehr, als weggezogen sind. Klingt erst mal nach nicht so viel. Aber Mecklenburg-Vorpommern hat nur 1,6 Millionen Einwohner. Und 12.581 Menschen – das sind mehr, als in Anklam leben. Nach Jahrzehnten abgeschlagen auf den hinteren Rängen liegt MV nun plötzlich zum allerersten Mal auf Platz vier der am schnellsten wachsenden Bundesländer. Davor nur noch Brandenburg, Hamburg und Schleswig-Holstein.

Boock statt Kreuzberg

Eine der Neuen ist Annette Herrmann. Sie ist Musikmanagerin, betreut Musikerinnen und Bands, ihr Mann Tobias Siebert ist Produzent und arbeitet mit Gruppen wie Kettcar und Juli an deren Musik. Bisher hatten die beiden ihr Studio in Berlin, in einer Fabriketage in Kreuzberg. Zukünftig werden die Künstler nun nicht mehr nach Berlin fahren, um Songs aufzunehmen, sondern nach Boock. 580 Einwohner, 20 Kilometer östlich von Pasewalk. „Berlin wurde immer lauter und stressiger, der Raum enger“, sagt Annette Herrmann. „Innerhalb Berlins umzuziehen, war keine Option. Zu teuer und so gut wie aussichtslos, in erreichbarer Nähe was zu finden. Und vor allem nicht so schön.“ 

Geschichten wie die von Annette Herrmann hört Tina Netzband häufig. Sie ist selbst vor eineinhalb Jahren in ein Dorf bei Pasewalk gezogen und arbeitet nun bei der Förder- und Entwicklungsgesellschaft Vorpommern-Greifswald, um anderen den Schritt in die Provinz zu erleichtern. Die Gesellschaft soll für den Landkreis und seine Gemeinden dem neuen Trend zum Leben auf dem Land zusätzlichen Schwung verleihen und einen Imagewandel anstoßen. Schon vor zwei Jahren hat die Gesellschaft den Slogan „Berlin größer denken“ ausgerufen. Eine Art Abwerbungskampagne, mit der sich die Vorpommern um Berliner wie Annette Herrmann und Tobias Siebert bemühen.

„Berlin größer denken“ – im Juni fand in der Hauptstadt dazu ein Forum beim „Tagesspiegel“ statt. Man kann sich im Internet ansehen, wie die Bürgermeister von Greifswald, Ueckermünde und Anklam und die Bürgermeisterin von Pasewalk ein bisschen ungelenk versuchen, die Vorzüge ihrer Städte zu betonen. Ueckermünde wird da zur Touristenhochburg, Anklam zu einem Zentrum der Lebensmittelproduktion, Greifswald zur Kulturhauptstadt. Dazu werden Englisch untertitelte Imagefilme eingeblendet, in denen Drohnenaufnahmen künftige Neubauviertel zeigen, die Anbindung an Autobahn und Bahnnetz. Alles ganz toll hier, Bauland ist günstig und in eineinhalb oder zwei Stunden ist man auch wieder zurück in der großen Stadt. So lautet die Botschaft.

Ob es diese Werbung bräuchte? Vorpommern wächst sogar noch stärker als Mecklenburg, das Land stärker als die Städte, als Schwerin, Rostock, Neubrandenburg oder Stralsund. Annette Herrmann sagt, dass in ihrem Bekanntenkreis „jeder leuchtende Augen bekommt“, der von ihrem Neuanfang auf dem Land erfährt. „Noch trauen sich die meisten nicht“, sagt sie, „aber bei uns können sie sich jetzt alles anschauen und dann entscheiden.“ An Leute wie sie, an Kreative und Akademikerinnen, die Ideen, am besten auch ein bisschen Kapital mitbringen, die im Homeoffice arbeiten und nicht jeden Tag nach Berlin pendeln müssen, richtet sich die Botschaft „Berlin größer denken“. Es müssten schon „die Richtigen“ kommen, sagt Landrat Michael Sack (CDU) auf dem Forum.

Alles ganz toll hier, Bauland ist günstig und in eineinhalb oder zwei Stunden ist man auch wieder zurück in der großen Stadt.

Die Richtigen – es ist kein Zufall, dass sich Michael Sacks ausgestreckte Arme ausgerechnet an Leute richten, die nicht allzu sehr auf die Strukturen angewiesen sind, die Politiker in Mecklenburg-Vorpommern mit rigoroser Spar- und Schließungspolitik, auch mit der Zentralisierung durch die Kreisreform 1994 und die Kreisgebietsreform 2011 in den letzten dreißig Jahren zerstört haben. Zur Erinnerung: Noch 2014 wurde in Mecklenburg-Vorpommern darüber diskutiert, kleine Dörfer einzustampfen, um Infrastruktur nicht mehr aufrechterhalten zu müssen. Während die Bevölkerung seit 1990 um 18 Prozent geschrumpft ist, wurde die Zahl der Schulen im Land um 66 Prozent, die der Kreise um 78 Prozent reduziert, sagt Helmut Klüter, Greifswalder Geografieprofessor im Ruhestand.

Er ärgert sich über diese Sparpolitik. Der südliche Teil des Bundeslands, unterhalb des von ihm so genannten „Mecklenburg-Vorpommern-Äquators“, einer Linie zwischen Lübtheen im Westen und Peenemünde im Osten, sei politisch-administrativ stärker zentralisiert als die Altai-Region in Sibirien. Und an diesen Äquator halte sich sogar die Zustimmung zur AfD und das Coronavirus – beides sei südöstlich der Linie stärker ausgeprägt. Schließlich stärke die Zerstörung demokratischer Strukturen wie die eines Landkreises stets undemokratische und verfassungsfeindliche Kräfte. Und die Gesundheitsämter in den drei Großkreisen im Süden von MV, Mecklenburgische Seenplatte, Vorpommern-Greifswald und Ludwigslust-Parchim (übrigens die drei flächenmäßig größten in ganz Deutschland), seien zeitweise wegen der Größe des Einzugsgebiets und der unzureichenden Infrastruktur mit der Eindämmung der Pandemie überfordert gewesen.

Klüter unterstützt für Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg das Leitbild von den „Gärten der Metropolen“. Das Leitbild, bei dem es um die Stärkung regionaler Landwirtschaft, um Ökologie und die Gewinnung von Zuzüglern geht, ist ein Wachstumsmodell für ländliche Räume. Es hat einige Anknüpfungspunkte zur Initiative „Berlin größer denken“. Klüter sieht die Gärten der Metropolen (mit Metropolen ist übrigens neben Hamburg und Berlin auch Stettin gemeint) als ein Alternativprogramm zu dem, wie er sagt, „resignativen, fatalistischen De-facto-Leitbild vom demografischen Wandel“. Er bemängelt, dass sich die Landespolitik bis heute an einem Raumordnungsbericht orientiert, der 1995 erstellt und nie grundlegend überdacht worden sei.

Tatsächlich geht es auch im aktuellen Raumentwicklungsplan der Landesregierung von 2016 immer noch viel um die Anpassung an den demografischen Wandel. Der werde „nicht nur in dünn besiedelten Räumen dazu führen, dass öffentliche Leistungen überprüft, Infrastruktureinrichtungen effizienter genutzt und gegebenenfalls auch Entscheidungen über die Schließung oder Zusammenlegung von Einrichtungen getroffen werden müssen“, heißt es in dem Bericht zum Beispiel. Weiteres Schrumpfen und Sparen stehen demnach in Aussicht.

„Als wäre eine Bevölkerungsprognose ein Gottesurteil und nicht einfach eine Handlungsaufforderung“

„Als wäre eine Bevölkerungsprognose ein Gottesurteil und nicht einfach eine Handlungsaufforderung“, sagt Wolf Schmidt dazu. Er ist Sprecher und einer der Stifter der Mecklenburger „AnStiftung“, die sich für Kultur und demokratische Prozesse in Mecklenburg einsetzt. „Wissen Sie, das passt thematisch gerade“, sagt er, „ich lese in diesem Moment ‚Über Menschen‘ von Juli Zeh.“ Das Buch steht seit Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste, es geht darin um eine Frau, die von Berlin aufs Land zieht. Der Garten verhält sich widerspenstig, der Nachbar ist ein Nazi und der Bus zum nächsten Supermarkt fährt nur dreimal am Tag. Trotz dieser Widrigkeiten ist das Buch auch ein Plädoyer fürs Landleben, bei dem man sich näher kommt und intensiver miteinander auseinandersetzen muss als in der Stadt.

Schmidt ist selbst von Hamburg nach Mecklenburg gezogen, wo er sich nun mit „Obst und Gemüse nahezu selbst versorgt“ und ihm der kurze Weg zum Badesee wichtiger ist als die gute Verbindung nach Schwerin oder Hamburg. Die Schönheit des Landlebens – Wolf Schmidt wäre ein flammender Redner auf dem Forum „Berlin größer denken“ gewesen. Wie er sehen es viele Menschen in Deutschland: 38 Prozent wünschen sich, auf dem Dorf zu leben, 40 Prozent in Kleinstädten, nur 21 Prozent wollen in die Großstadt.

Eine Sprecherin des Ministeriums für Energie, Infrastruktur und Digitalisierung widerspricht dem Vorwurf, die Landesregierung verhalte sich gegenüber den Prognosen fatalistisch. Man gehe aber nicht davon aus, dass die langfristige Tendenz zum Bevölkerungsrückgang aufgehoben oder gar ins Gegenteil verkehrt werden könne. Der Sterbefallüberschuss werde insbesondere ab dem Jahr 2030 der bestimmende demografische Faktor sein. Man wäre aber „überglücklich“, wenn sich die Bevölkerungsprognosen nicht bewahrheiten würden.

Wenn man anders als die Landesregierung nicht von einem weiteren Rückgang der Bevölkerung in MV ausgeht, sondern das Land kühn als Zuwanderungsland denkt, als prosperierenden Garten der umliegenden Metropolen, voller junger, kreativer, im Homeoffice arbeitender Menschen, voller dankbarer Eigenheim-Bauenden, die nicht die Probleme, sondern das Potenzial der Großstadt mitbringen und in Form von kulturellen Events und Beteiligung an demokratischen Prozessen Provinz gestalten, dann ergeben sich allerdings gleich ein paar neue Probleme. Was sagen denn eigentlich die Einheimischen dazu? Die Immobilienpreise sind in ganz Deutschland, aber auch in Mecklenburg-Vorpommern in den letzten Jahren stark angestiegen. Das geht aus einer aktuellen Studie der Landesbausparkassen hervor. Vor allem in der Landeshauptstadt Schwerin zahlte man 2020 mit 400.000 Euro durchschnittlich 150.000 Euro mehr für ein Einfamilienhaus als noch vor fünf Jahren.  

Auch für die Einheimischen ist es ein Vorteil, wenn der Wert des eigenen Hauses steigt. Aber vor allem in landschaftlich besonders attraktiven Orten an der Küste sind die Preise so explodiert, dass sich Einheimische die Summen nicht mehr leisten können. Und in einigen Dörfern wächst der Unmut über Menschen, die nur ihren Zweitwohnsitz aufs Land verlegt haben – und darum höchstens am Wochenende mal kurz da sind.

Keine Exklaven der Metropolen auf dem Land

Wolf Schmidt sagt, man müsse aufpassen, die Identität der Dörfer zu erhalten. „Wir wollen natürlich keine Exklaven der Metropolen, wo sich alle genauso verhalten wie in der Großstadt. Dann verliert das seinen Charme.“ Als Kitt zwischen alten und neuen Bewohnern könnte Kultur fungieren, sagt er. „Kunst und Kultur sind ganz entscheidende Hoffnungsträger in Dörfern, die unter Leerzug leiden. Ich rede nicht über Hochkultur“, sagt er, „da steht man nicht mit ’nem Glas Sekt in der Pause rum und kennt keinen.“

Annette Herrmann und Tobias Siebert haben ihren eigenen Beitrag zur Kultur in Vorpommern mitgedacht, sie wollen Konzerte veranstalten, auch Lesungen. „Wir wollen die Türen öffnen, uns aber auf gar keinen Fall aufdrängen“, sagt Herrmann. Noch in diesem Jahr soll es ein Drachenfest und ein Apfelkuchenfest in Boock geben.Ob 2020 im Rückblick nur ein Ausreißerjahr war, eine Corona-Eintagsfliege, oder tatsächlich eine Trendwende eingeleitet hat, muss sich zeigen. Man könnte einiges dafür tun, um das zu erreichen. Das Schienennetz ausbauen, die unterirdische Taktung und die schlechten Anschlüsse im Bahnverkehr in MV verbessern, zum Beispiel. Die Digitalisierung schneller voranbringen. Strukturen nicht weiter zentralisieren und kulturelle und demokratische Initiativen auf den Dörfern unterstützen. Da die Enge und der Mietspiegel der Städte genauso bleiben werden wie die Sehnsucht nach dem Landleben, und weil das Arbeitsleben auch dank Corona flexibler wird, spricht einiges dafür, dass sich weiterhin Großstädter finden, die lieber in Mecklenburg oder Vorpommern leben wollen als in Hamburg, Berlin oder Stettin.

Quellen

  1. Statistisches Amt Mecklenburg-Vorpommern: Bevölkerung, auf: laiv-mv.de (28.7.2021)
  2. Ostsee-Zeitung (Hg.): Finanzspritze oder Abriss? Streit über Zukunft der Dörfer, auf: ostsee-zeitung.de (10.2.2014)
  3. Prof. Dr. Helmut Klüter: „Zur Zukunft der ländlichen Räume in Nordost-Deutschland“, auf: landblog-mv.de (1.3.2021)
  4. ebd.
  5. Ministerium für Energie, Infrastruktur und Digitalisierung Mecklenburg-Vorpommern: Landesraumentwicklungsprogramm, auf: regierung-mv.de (9.6.2016)
  6. ARD Deutschlandtrend: Umfrage zum bevorzugten Wohnort, auf: statista.com (22.8.2018)
  7. Landesbausparkassen: Immobilien-Preisspiegel 2021, auf: lbs-markt-fuer-wohnimmobilien.de (Januar 2021)

Autor:in