Theaterprojekt

Zeitzeugenberichte gegen das Vergessen

Im Jugendensemble Greifswald ermöglicht Christian Holm jungen Erwachsenen, Theater zu spielen. Aktuell führen sie das Stück „Überm Kuhstall Kampfverbände“ auf. Das Recherche-Theaterprojekt fußt auf insgesamt 14 Zeitzeugenberichten aus dem Zweiten Weltkrieg. Über Erlebnisse im Mecklenburg-Vorpommern der Nachkriegszeit und warum Theaterspielen manchmal sinnvoller sein kann als Geschichtsunterricht.

„Alles, nur nie wieder Krieg!“, rufen die Schauspieler:innen des Jugendensembles Greifswald lautstark von der Bühne. Ihr neues Theaterstück Überm Kuhstall Kampfverbände erinnert an die grausame Zeit des Zweiten Weltkriegs und erzählt Geschichten von Zeitzeug:innen aus Mecklenburg-Vorpommern. Manchmal seien die Jugendlichen bei den Proben erschüttert gewesen. Aber sie würden nicht auf die Bühne gehen, um zu trauern, sondern um ein Zeichen gegen Krieg und Faschismus zu setzen, erzählt Christian Holm, Gründer der Theatergruppe.

Seit 2016 haben Jugendliche aus Greifswald und Umgebung die Möglichkeit, in ihrer Freizeit auf der Bühne zu stehen. „Es ging mir und meiner Frau damals darum, jungen Leuten eine Chance zu geben, regelmäßig Theater spielen zu können“, erinnert sich Holm. Die aktuelle Inszenierung Überm Kuhstall Kampfverbände wurde im Frühjahr 2022 erstmals gespielt. Ende Oktober begann eine neue Runde Aufführungen des Stücks. Auch für das nächste Jahr sind weitere Veranstaltungen geplant. Denn: Die Nachfrage und insbesondere das Interesse von Schüler:innen seien groß, so Holm. Deshalb habe sich die Theatergruppe dazu entschieden, weitere Aufführungen anzubieten. Und das, obwohl das Projekt mittlerweile nicht mehr von Neustart Kultur und dem Fonds Soziokultur gefördert wird. Das sei nicht weiter problematisch, so Holm, er führe das Theaterstück ehrenamtlich weiter. Für die Termine im November und Dezember haben sich auch bereits mehrere Schulklassen aus Greifswald – vom Jahn-Gymnasium, dem Humboldt-Gymnasium und der Caspar-David-Friedrich-Schule – angemeldet.

„Das will ja heutzutage sowieso keiner mehr wissen“

Der Lockdown im Frühjahr 2020 führte Christian Holm zufällig zum neuen Theaterprojekt. Als er sich einen Kaffee in der Greifswalder Innenstadt holte, traf er eine alte Dame und kam mit ihr ins Gespräch – mit drei Metern Abstand, er auf der einen Bank ganz außen und sie auf der anderen Bank ganz außen sitzend. Irgendwann habe sie angefangen, von sich zu erzählen, von ihrer Flucht als Kind im Zweiten Weltkrieg. „Aber das will ja heutzutage eh keiner mehr wissen“, fügte sie am Ende des Gesprächs hinzu. Holm sei das im Gedächtnis geblieben, wie sie ihre traumatischen Erlebnisse abgetan habe, berichtet er. Dabei sei ja genau das Gegenteil der Fall. Solche Geschichten müsse man vor dem Vergessen bewahren. Also befragte er insgesamt 14 Zeitzeug:innen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, und verarbeitete die Erzählungen zu einem Theaterstück. Das Recherche-Theaterprojekt stelle sich entschieden gegen jede Form von Rechtsradikalismus, Diskriminierung und Geschichtsrelativierung, betont er. Es soll abschrecken, vor Gewalt, Rassismus und rechtem Gedankengut: „Ich wollte etwas über das Theater hinaus machen“, so der gebürtige Hamburger.

Die Koffer für die Flucht waren schon seit Wochen gepackt. Es kamen ständig Nachrichten, dass die Front näher rückt. Die Schüsse waren schon zu hören. Aber ich habe im März ’45 bei meiner Oma noch Konfirmation gefeiert. Das war ein schrecklicher Tag. Wir wurden in der Kirche eingesegnet, haben zuhause Kaffee getrunken und abends stand dann ein SS-Mann vor der Tür und sagte, dass wir das Dorf verlassen müssen. Wir haben die gedeckten Tische, meine Feier, so verlassen. Ich hatte mein Konfirmationskleid an, damit bin ich in der Nacht geflüchtet. Mit einem Lastwagen sind wir erst Richtung Stettin gefahren. Wir wollten dort unsere Möbel aus unserem Haus abholen. Unterwegs sind wir von Tieffliegern angegriffen worden und es wurden zwei Frauen getötet, oben auf unserem LKW, direkt neben uns. Die haben wir am Straßenrand abgelegt und sind weitergefahren. Am Bahnhof haben wir eine Nacht auf Koffern gesessen und sind nach Greifswald gekommen. Ohne Möbel, ohne alles. Denn in Stettin hatten wir unser Haus nicht mehr gefunden. Weggebombt.

Zeitzeugin K., Flucht nach Greifswald, März 1945 – Jahrgang 1927. Im Zweiten Weltkrieg musste sie nach Greifswald fliehen. Dort wohnt sie noch heute. Bei Kriegsende war sie 18 Jahre alt.

„Damit die Geschichten nicht ganz verschwinden“

Die Zeitzeug:innen berichteten Holm von ihren Erfahrungen während der Nazizeit, die Jungschauspieler:innen erzählen sie im Theaterstück – so das Prinzip. Dabei handele es sich vor allem um Erfahrungen vom Ende des Zweiten Weltkriegs. Häufige Erwähnung finden Erlebnisse wie Bombenangriffe, Vergewaltigungen, Raubüberfälle und Flucht. Um die jungen Schauspieler:innen nicht zu sehr zu belasten, ihnen aber trotzdem die Nazizeit mit ihren Folgen und ihrer Bedeutung näherzubringen, stand von vornherein fest: „Sie sind lediglich in der Erzählerrolle. Es ging nie darum, dass sich die Jugendlichen mit der Rolle identifizieren sollten.“ Darüber hinaus habe Holm wahrgenommen, dass die Jugendlichen generell einen sehr „gesunden Abstand“ zu Kriegen haben. „Die Jugendlichen nehmen die schrecklichen Ereignisse mit großer Empathie wahr, aber du merkst, dass es für sie unglaublich weit weg ist. Und das bestätigt mich auch wieder darin, wie wichtig es ist, Zeitzeugenberichte aufzuarbeiten, damit die Geschichten nicht ganz verschwinden“, stellt der gelernte Schauspieler Holm fest.

Können Sie sich vorstellen, wie groß ein Feuer sein muss, das man auf 130 Kilometer Entfernung sehen kann? Als 1943 Hamburg gebrannt hat, haben wir den Feuerschein von Wismar aus gesehen. Also nicht die Flammen selbst natürlich, aber den roten Feuerschein am Himmel. In der tiefschwarzen Nacht. Lübeck haben wir auch brennen sehen, Rostock sowieso. Und dann ist deine eigene Stadt dran. Diese Angst als Kind im Bombenkeller kann man niemandem beschreiben. Du hörst einen Bombeneinschlag, der ist noch ein gutes Stück weg, aber der Keller vibriert trotzdem schon. Dann kommt der nächste Einschlag. Der scheint für deine Ohren genau auf halber Strecke zu sein, zwischen der ersten Bombe und deinem Keller. Es rieselt schon Putz von der Decke, das Licht flackert, dann geht der Strom weg, irgendjemand schreit kurz auf – und auf einmal ist Stille und Dunkelheit. Und du denkst nur: die nächste Bombe, die trifft uns. Meine Mutter hat immer mit uns gebetet, im Keller. Das Haus wackelte und sie betete mit uns. Das hilft, das habe ich gelernt.

Zeitzeuge B., Wismar, 1943 – Jahrgang 1933. Wurde in Wismar geboren und hat dort den Zweiten Weltkrieg miterlebt. Als 1943 Hamburg bombardiert wurde, war er zehn Jahre alt. Heute wohnt er in Greifswald.

Eine der beteiligten Jugendlichen spielt ein kleines Mädchen, das gemeinsam mit seinen Geschwistern aufs Land gebracht werden soll, um sich vor dem Krieg zu schützen. Sie könne sich gut mit der Rolle identifizieren, erzählt die 18-Jährige, weil sie selbst viele Geschwister habe. „Aber sonst sehe ich mich in der Rolle nicht wirklich. Uns geht es ja gut. Wir müssen nicht nachts aufstehen und irgendwohin flüchten. Ich bin einfach dankbar dafür, wie gut es uns geht.“

Eigentlich hatte der Theaterpädagoge vor, die jungen Schauspieler:innen selbst mit dem jeweiligen Zeitzeugen in Kontakt zu bringen, von dessen Erlebnissen sie im Stück erzählen. Aufgrund von Corona war das aber nicht möglich. Statt einem Jahr Vorbereitungszeit blieben am Ende drei Monate übrig. Auch die Premiere wurde fünfmal verschoben. Besonders froh war Holm deshalb, die Räumlichkeiten im St. Spiritus und im Jugendzentrum Klex in Greifswald kostenlos und unkompliziert für Proben nutzen zu können.

1944 ist meine Mutter mit uns beiden Jungen nach Neubrandenburg geflohen. Wir saßen im Keller mit meinem Opa. Irgendwann guckte ein russischer Soldat durchs Kellerfenster und sah uns. Zuerst hieß es: Uri, Uri, er wollte also Uhren haben. Hatten wir aber nicht. Und dann kam er rein. Meine Mutter war 30 Jahre alt. Er sah sie und wollte sie vergewaltigen. Sie schrie so laut sie konnte, und Opa und wir Jungs saßen als Vier- und Fünfjährige daneben. Mit einem Mal ging die Tür auf und ein sowjetischer Offizier mit vielen Orden auf der Brust kam rein, grüßte uns militärisch und sah, was der Soldat da gerade mit meiner Mutter machte. Und dann – ohne einen einzigen Ton zu sagen – nahm der Offizier seine Pistole und erschoss vor unseren Augen im Keller den Soldaten. Dann ging er wieder raus. Mein Opa hat sich dann Sorgen gemacht, er war ja beim Volkssturm und nachher denken alle, er war das, und dann sind wir alle dran. Deshalb hat er den toten Soldaten dann unter den Armen gegriffen und mein Bruder ein Bein und ich ein Bein, und dann haben wir ihn in der Waschküche versteckt. Das war ein Erlebnis, da zittere ich heute noch.

Zeitzeuge N., Neubrandenburg, 1944 – Jahrgang 1940. In Ladebow bei Greifswald geboren. Während des Zweiten Weltkriegs floh er mit seiner Mutter kurzzeitig nach Neubrandenburg. Heute wohnt er wieder in Ladebow.

Ein Abzählreim mit aktuellem Bezug

Der Titel Überm Kuhstall Kampfverbände sei übrigens durch einen Abzählreim entstanden, von dem eine Zeitzeugin im Interview mit Holm erzählt habe: „Achtung, Achtung, Achtung, Ende, Ende, überm Kuhstall Kampfverbände, Mutter, Vater renn‘ in Keller und die Kinder noch viel schneller, und die Oma hinterher, ach, was war der Koffer schwer.“ Abzählreime spiegeln häufig soziale Gegebenheiten einer Zeit wider. Mit den im Reim genannten Kampfverbänden waren Truppen und Bomberstaffeln der Alliierten gemeint. Holm dachte deshalb, dass das Wort aus dem heutigen Sprachgebrauch verschwunden sei.

Umso überraschter war er, als kurz vor der ersten Aufführung in der Öffentlichkeit wieder von Kampfverbänden zu hören war – in Bezug auf Russlands Angriffskrieg in der Ukraine. „Ich hatte bis dahin das Gefühl, das ist ein altmodischer Begriff. Den verwendet man gar nicht mehr.“ Der russische Krieg in der Ukraine habe den Geschichten der Zeitzeug:innen unerwartete Aktualität verliehen, so Holm. Deutlich spürbar sei das bei einer Probe im St. Spiritus Anfang März gewesen. „Bei uns im Proberaum stand auf einmal eine ukrainische Familie. Eine Mutter mit ihren vier Kindern, die direkt vor dem Krieg in der Ukraine geflüchtet waren. Und wir spielten auf der Bühne Krieg.“ Unter den Jugendlichen habe sich zunächst Schweigen breitgemacht und die Probe wurde unterbrochen. Man habe sich mulmig gefühlt. So konkret könne Theater werden, erinnert sich Holm.

Ein Soldat kam sehr aufgeregt in unser Haus. Ein Melder von der Front. Er klopfte bei dem Major an die Tür und meldete: ‚Herr Major, russische Panzer beschießen Soldau.‘ Das war nur sieben Kilometer von uns entfernt. Ich erzähle das meiner Mutti, die spricht den Major an und fragt: ‚Stimmt das?‘ ‚Nein‘, sagt der Major, ‚es war eine Fehlmeldung. Die Front ist noch über 40 Kilometer entfernt und das was Sie da hören ist Kanonendonner, das sind keine Gewehre.‘ Anderthalb Stunden später ist der Major mit seiner Truppe in die Autos gestiegen und abgehauen. Ohne ein Wort zu sagen. Dem Bürgermeister haben sie am Telefon angedroht, wenn er einen Flüchtlingstreck zusammenstellt, dann wird er zum Tode verurteilt. Er soll die Bevölkerung ruhigstellen. Es ging nur darum, die Straßen fürs Militär freizuhalten. Die Zivilbevölkerung war denen völlig egal.

Zeitzeugin I., Scharnau in Ostpreußen, 1945 – Musste mit ihrer Mutter im Alter von 14 oder 15 Jahren aus Ostpreußen fliehen. Ziel der Flucht war Berlin. In ihrem Haus in Scharnau hatten sie eine Einquartierung, eine Nachrichtengruppe, geleitet von einem Major.

300 Kalorien pro Tag für Erwachsene in Polen

Die 14 Zeitzeug:innen, mit denen der Theaterpädagoge für das Stück sprach, waren alle im Alter zwischen 81 und 93 Jahren. Nach den Gesprächen standen ihm rund 35 Stunden Interviewmaterial zur Verfügung. Durch die Corona-Pandemie konnte er lediglich Telefonate führen und die Zeitzeug:innen nicht persönlich treffen. Trotzdem sei er jetzt noch begeistert von der Offenheit, die er erfahren habe. Gerade weil er auch von den jungen Erwachsenen im Ensemble immer wieder höre, dass Kriegserfahrungen in der eigenen Familie ein Tabuthema seien.

Holm hingegen kennt die Rolle seines Großvaters in der Nazizeit durch Erzählungen relativ gut: „Meine Tante väterlicherseits hat hartnäckig recherchiert“, sagt er. Auch im Theaterstück wird sie erzählt. Holms Opa war 1933 sofort der NSDAP beigetreten und arbeitete später im besetzten Polen im damaligen Distrikt Krakau in der Verwaltung. Sein direkter Vorgesetzter war Hans Frank. Nach dem Krieg wurde Frank als Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg angeklagt und 1946 hingerichtet. Holms Opa habe in der Abteilung Ernährung und Landwirtschaft gearbeitet und mutmaßlich festgelegt, wie viele Kalorien erwachsenen Polen pro Tag zustanden: 300. Also viel zu wenig, um davon leben zu können. Frank, der „Schlächter von Polen“, soll regelmäßig bei Familie Holm zu Mittag gegessen haben, erzählt Holm. 1941 starb der Großvater an einer Lungenentzündung. Bei seiner Beerdigung wurde eine riesige Hakenkreuzfahne über seinen Sarg gelegt. Holm fragt sich, ob sein Opa auch mit Auschwitz zu tun hatte. Immerhin lag das Konzentrationslager ebenfalls im „Distrikt Krakau“, wo er arbeitete.

Theater erreicht Jugendliche anders als Geschichtsunterricht

Die Vergangenheit durch lebendiges Theater aufzuarbeiten und Geschichte von Gleichaltrigen erzählt zu bekommen, ist eine besondere Art des Lernens. Das sehen auch die jungen Schauspieler:innen des Jugendensembles Greifswald so. Es sei zwar kein schönes Thema, aber man müsse einfach darüber Bescheid wissen, findet eine Zwölftklässlerin: „Ich bin eigentlich nicht so gut in Geschichte. Das Stück ist für mich eine tolle Art zu lernen.“ Vor allem, wenn es im Geschichtsunterricht um Kriege gehe, liege der Fokus oftmals auf Verträgen oder historischen Daten. Erzählungen von Zeitzeug:innen über das Kriegsende oder die Nachkriegszeit kämen zu kurz, so ein Elftklässler. Dabei ist der Krieg nicht mal 100 Jahre her. Deshalb frage er sich, wie sowas in Vergessenheit geraten kann.

Es sei wichtig, das Stück zu spielen, weil die Geschichten nur jetzt noch richtig und von den damals Betroffenen erzählt werden können, so eine weitere beteiligte 18-Jährige. „Sobald die Leute tot sind, verändern sich die Geschichten oder gehen komplett verloren.“ Gerade der persönliche Zugang sei bedeutend, da man sich durch das Spielen den Leuten viel näher fühle. Es ist eindrücklicher. Theater schaffe es, die Leute ganz anders zu erreichen, als es ein Geschichtsbuch im Unterricht könnte.

Dieser Artikel erschien in KATAPULT-MV-Ausgabe 14.

Quellen

  1. Kind Aktuell (Hg.): Abzählreime, auf: kindaktuell.at.
  2. Jakob, Volker: Als die Alliierten kamen, auf: westfalenspiegel.de (7.5.2020).
  3. Das Soziokulturelle Zentrum St. Spiritus war zu Beginn des russischen Angriffskriegs eine Anlaufstelle für geflüchtete Familien aus der Ukraine.
  4. Eckelmann, Susanne: Hans Frank 1900-1946, auf: dhm.de (14.9.2014).

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