Arbeitsbelastung von Lehrer:innen

„Ein Job, der dein Leben verschlingen kann“

Hartnäckige Vorurteile gegenüber Lehrer:innen gibt es viele: Sie gehen schon mittags heim, haben viel Freizeit und Urlaub und sind faul. Dass dies nichts mit der Arbeitsrealität von Lehrkräften zu tun hat, wird schon beim Blick auf ihre 50-Stunden-Woche deutlich. Dass neben Unterricht, Vor- und Nachbereitung und Elternkontakt auch vermehrt Organisatorisches zum Beruf gehört, füllt den Tag weit über die sichtbare Schulzeit hinaus. Hinzu kommt der Personalmangel, der einer Entlastung entgegensteht – und sich künftig noch verschärfen wird.

Aus jeder und jedem das Beste herauszuholen und eine positive Grundeinstellung zum Lernen zu vermitteln, das sieht Dennis Köhler als seine Aufgabe. Er ist seit sechs Jahren Lehrer an einer Grundschule in Rostock, unterrichtet unter anderem Deutsch und Mathe. „Gerade in der Grundschule ist es besonders wichtig, eine gute Beziehung zu den Kindern zu haben“, findet er. Denn vor allem in den ersten Schuljahren arbeiten diese weniger für sich und gute Noten, sondern viel für die Lehrer:innen und das Lob, das es für gute Arbeit von ihnen gibt.

Für Köhler ist der Unterricht deshalb ein geschützter Raum. „Ich lege großen Wert darauf, dass andere Dinge das nicht konterkarieren“, so der Lehrer. Eine Aussage, die er mit Blick auf sein Arbeitspensum trifft, welches er als durchaus „unterschiedlich“ beschreibt. Es sei abhängig von der Klassenstufe, wie viel Vor- und Nachbereitung eine Stunde verlange. Bei den älteren Kindern sei etwa der Korrekturaufwand bei Tests höher, in den unteren Klassen gebe es viel Bastelkram vorzubereiten.

45 Stunden plus Elternabend und Co.

Wie viel Unterrichtsverpflichtung Lehrkräfte in Mecklenburg-Vorpommern haben, ist in der Lehrkräfte-Arbeitszeit-Landesverordnung festgelegt. Lehrkräfte an Grundschulen müssen demnach 27,5 Lehrerwochenstunden tätig sein. Eine solche Lehrerwochenstunde entspricht 45 Minuten Unterricht. Die Landesverordnung sieht für Lehrkräfte zudem eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 45 Zeitstunden vor. Dagegen veranschlagte die Kultusministerkonferenz (KMK) im Jahr 2020 lediglich 40 Zeitstunden pro Woche für Lehrkräfte im öffentlichen Dienst in MV.

Die Zeit, die übrig bleibt, wenn die Lehrerwochenstunden von der Gesamtarbeitszeit abgezogen werden, ist für „begleitende Tätigkeiten“ – sprich Vor- und Nachbereitung – vorgesehen. Für Lehrkräfte an Grundschulen blieben, ausgehend von 45 Zeitstunden, insgesamt 24 Stunden und 22,5 Minuten übrig. Gleichmäßig auf die Wochenstunden verteilt, stehen somit pro Unterrichtsstunde rechnerisch gut 53 Minuten für Vor- und Nachbereitung zur Verfügung, wenn die Wochenarbeitszeit nicht überschritten werden soll.

Was in Vor- und Nachbereitung allerdings nicht berücksichtigt ist, sind Elternabende, Gespräche mit Schüler:innen, das Verfassen von Zeugnissen, die Planung von Ausflügen, Schulveranstaltungen, Lehrer- und Fachkonferenzen, Dienstberatungen und Fortbildungen. Das ist dann Mehrarbeit, sagt Dennis Köhler. Er erzählt, dass diese für ihn phasenweise anfällt. Wenn dann Wochen über die 50-Stunden-Grenze gehen, brauche es ein gutes Selbstmanagement. Wenn mal keine organisatorischen Aufgaben anfallen, keine Fristen einzuhalten sind, seien das tolle Wochen. Dann könne er sich mal vollends auf Schule und Unterricht konzentrieren, sagt Köhler. „Leider merkt man meist erst hinterher, dass es so eine Woche war.“

Belastung hat zugenommen

In den vergangenen Tagen habe er über die Frage nachgedacht, wie viel er eigentlich in der Woche zu tun habe. „Es sind bestimmt 50 Stunden“, bilanziert Gymnasiallehrer Frank Hermann gegenüber KATAPULT MV. „Wenn ich um 16 Uhr nach Hause komme, sitze ich meist noch bis 22 Uhr am Schreibtisch.“ An Gymnasien, aber auch an regionalen Schulen, Förderschulen oder integrierten Gesamtschulen in MV schreibt die Lehrkräfte-Arbeitszeit-Landesverordnung „nur“ 27 Lehrerwochenstunden vor. Die Wochenarbeitszeit bleibt die gleiche.

Gerade die Arbeit, die Lehrkräfte außerhalb von Unterricht und Vor- und Nachbereitung erledigten, werde immer mehr, bemerkt die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Mecklenburg-Vorpommern (GEW). „Der Aufgabenberg wächst“, so deren Landesvorsitzender Nico Leschinski, der etwa Klassenleitung, Elternabende, Gespräche und Konferenzen als Beispiele anführt. Dabei haben Lehrer:innen in MV sowieso schon eine recht hohe Pflichtstundenzahl. Im Bundesländervergleich arbeiten etwa an Gymnasien nur in Bremen (in der Sekundarstufe I), Bayern (je nach Fach) und Schleswig-Holstein die Kolleg:innen ebenfalls 27 Stunden. In allen anderen Ländern sind es weniger.

Dass die Wochenstundenzahl unter dem Eindruck der wachsenden Aufgaben nicht zu halten ist, belegte bereits 2018 eine Studie der Universität Göttingen. Darin wurden 20 Studien zur Lehrkräftearbeitszeit aus den vergangenen 60 Jahren analysiert. Die Wissenschaftler kamen zu dem Schluss, dass ein Großteil der Lehrer:innen wöchentlich über 48 Stunden arbeitet und damit kontinuierlich Mehrarbeit leistet. Sie wiesen außerdem darauf hin, dass „‚überlange Arbeitszeiten‘ auf Dauer mit erheblichen Risiken für die Gesundheit verbunden sind“. Mit Blick auf diese Ergebnisse kommentiert die GEW gegenüber KATAPULT MV, sie gehe davon aus, „dass die Belastung zu- und nicht abgenommen“ habe.

Verschiedene Ansätze zur Entlastung

Sowohl Dennis Köhler als auch Frank Hermann haben Ideen, wie sich ihr Arbeitspensum verringern ließe. So sieht Köhler etwa in einer Verkleinerung der Klassen eine Möglichkeit, Entlastung zu schaffen. Denn so müssten weniger Zeugnisse geschrieben oder Elterngespräche geführt werden. Die Aufgaben an sich zu reduzieren, funktioniert aus seiner Sicht jedoch nicht. Unterricht müsse schließlich immer vorbereitet werden und Elternarbeit gehöre auch immer dazu.

Die Klassen an Hermanns Schule seien bereits relativ klein, erzählt dieser. Allerdings könne er sich eine Reduzierung der Stundenzahl als Ansatzpunkt vorstellen oder eine Entschlackung des Lehrplans. Dann könnten Themen entspannter vermittelt werden. Er hofft außerdem, durch die Erarbeitung eines Grundgerüstes für die Unterrichtsstunden in der Oberstufe sein Arbeitspensum senken zu können.

Aus Sicht der GEW führt zur Entlastung kein Weg an mehr Personal vorbei. Im Hinblick auf die vielfältigen Aufgaben von Schulleitungen und dahingehender Entlastungsmöglichkeiten schlägt die Gewerkschaft zum Beispiel zusätzliches kaufmännisches Personal vor. Darüber hinaus brauche es an allen Schulen etwa Sozialarbeiter:innen und Sozialpädagog:innen, die sowohl im Unterricht als auch bei der Elternarbeit unterstützen können. Der Landesverband Bildung und Erziehung MV (VBE) bringt zudem den Einsatz von IT-Fachkräften an den Schulen ins Gespräch.

Es fehlen wohl Hunderte Lehrkräfte

Der VBE sieht auf Nachfrage verschiedene Gründe für die Zunahme der Arbeitsbelastung für Lehrkräfte. Neben einem höheren bürokratischen Aufwand, der Digitalisierung oder den Inklusionsbemühungen der Schulen gehört dazu auch „mehr Arbeit für weniger Personal“. Damit weist der Verband auf den Lehrkräftemangel hin, der, worüber sich alle Beteiligten einig sind, jetzt und in den kommenden Jahren MVs Schulen mit zu wenigen Lehrer:innen zurücklässt. Wie viele Lehrkräfte im Bundesland jedoch tatsächlich gebraucht und wie viele zu wenig es sein werden, dafür gibt es nur Anhaltspunkte. Das Bildungsministerium verweist auf Nachfrage lediglich auf die Lehrerbedarfsprognose für MV.

Einen „tendenziellen Hinweis auf die Versorgungslage“ bietet der Bericht, den die KMK im Frühjahr 2022 herausgab. Darin werden die Modellrechnungen der Bundesländer zum Einstellungsbedarf und Angebot an Lehrkräften zusammengefasst.

Für Mecklenburg-Vorpommern ergibt sich für die Jahre 2021 bis 2035 im Primarbereich, in den Sekundarstufen I und II an den allgemeinbildenden und beruflichen Schulen sowie der Sonderpädagogik ein Einstellungsbedarf von 9.760 Lehrkräften. Demgegenüber steht ein angenommenes Angebot von 7.420 Lehrer:innen. Dabei unterscheidet sich das Verhältnis zwischen Bedarf und Angebot je nach Lehramtstyp teilweise deutlich. Während sich in der Sek II der allgemeinbildenden Schulen ein Überangebot von rund 1.300 Absolvent:innen abzeichnet, droht für die Sek I ein Mangel. So steht dem Bedarf von 2.950 Lehrer:innen ein Angebot von nur 1.020 gegenüber. Ähnlich, wenn auch weniger extrem, das Verhältnis im Primarbereich: 1.980 benötigte Lehrkräfte, aber geschätzt nur 1.590 vorhandene.

Wie groß wird der Lehrer:innenmangel wirklich?

An der Zusammenfassung der Kultusministerkonferenz und damit an den Berechnungen der Länder übt der VBE deutliche Kritik. Der Verband stützt sich dabei unter anderem auf eine eigene Untersuchung, die ebenfalls im Frühjahr 2022 erschien. Darin bezeichnet der Bildungswissenschaftler Klaus Klemm die von den Ländern getroffenen Annahmen zum Lehrkräfteangebot als „in hohem Maße unseriös“. Er bezieht sich dabei vor allem auf die Tatsache, dass die Bundesländer von einem gleichbleibenden Angebot ausgehen. So geht etwa aus der KMK-Veröffentlichung für MV und die dortige Sek I hervor, dass das Land offenbar ab 2025 in jedem Jahr ein Lehrkräfteangebot von 70 erwartet. Klemm kritisiert diese Annahmen als „weitgehend von den Zahlen der Schulabsolvierenden mit allgemeiner Hochschulreife abgekoppelt“, die die KMK selbst berechnet hat.

Mit Blick auf die neuesten von der KMK veröffentlichten Absolvierendenzahlen speziell für MV lässt sich feststellen, dass diese mit Ausnahme der Jahre 2024, 2030 und 2035 in geringem Maße, aber stetig ansteigen. Das schlägt sich in Bezug auf die angenommenen Angebotszahlen zur Sek I jedoch nicht nieder. Länderübergreifend kommt Klemm in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, dass das Neuangebot an Lehrer:innen tatsächlich deutlich niedriger ausfallen wird, als von der KMK vorhergesagt. Dementsprechend seien deren Zahlen „nicht einmal ansatzweise belastbar“. Das bedeute ebenfalls, dass der Mangel neu ausgebildeter Lehrer:innen wohl wesentlich höher ausfallen wird, als von der KMK unterstellt.

Planung auf Kante – ausfallen darf niemand

Was das nun genau für MV bedeutet, bleibt zunächst offen. Die Landesvertretung des VBE schreibt jedoch, dass es schon jetzt nicht mehr gelinge, „alle ausgeschriebenen Stellen zu besetzen“. Darüber hinaus unterschieden sich die Auffassungen zum Bedarf an Lehrkräften an den Schulen, ergänzt die GEW. Der vom Land veranschlagte Bedarf deckt ihrer Ansicht nach „sowohl die Kontingentstundentafel als auch die Zusatzbedarfe nicht hinreichend ab“. Das Land plane zwar mit einer Abdeckung von 100 Prozent, doch aus Sicht der Gewerkschaft brauche es mindestens 107 Prozent, wenn nicht sogar mehr. So fehle es zum Beispiel an Zuweisungen im Hinblick auf die Inklusion. Und Krankheiten, Schwangerschaften oder Fort- und Weiterbildungen von Lehrkräften seien auch nicht hinreichend eingepreist.

Dass es schon jetzt nicht reiche, zeigen laut GEW die Zahlen zum Vertretungsunterricht und Unterrichtsausfall an den Schulen, die noch bis zum Beginn der Pandemie regelmäßig (und jetzt wieder) erhoben wurden. Zuletzt erfasst für das Schuljahr 2018/19, geben sie Auskunft darüber, wie viele Unterrichtsstunden in den vier Schulbezirken zur Vertretung angefallen sind, aus welchen Gründen dies geschah, durch welche Maßnahmen und in welchem Umfang ein Unterrichtsausfall vermieden werden konnte und wie viel Unterricht schlussendlich doch ausfallen musste. An den Regionalen Schulen in MV beispielsweise fielen insgesamt 280.588 Stunden zur Vertretung an, die meisten aufgrund von Krankheit der Lehrkräfte. Davon kompensiert werden konnten 203.131,5 Stunden – davon übrigens die meisten durch Mehrarbeit und Überstunden verfügbarer Lehrkräfte. Der Rest fiel aus, vor allem deswegen, weil keine Vertretung organisiert werden konnte.

Lehrer:innenmangel, aber nicht überall

Ob Stellen besetzt werden können und ob an einer Schule bereits jetzt Lehrer:innenmangel herrsche, hängt aus Sicht des VBE auch davon ab, wo sich die Schule befindet. Es gebe „große Unterschiede zwischen den Regionen“, schreibt der VBE-Landesvorsitzende Michael Blanck. Er verweist damit unter anderem auf den Unterschied zwischen größeren Städten und ländlichem Raum. So erklärt sich auch Grundschullehrer Dennis Köhler, dass der Lehrer:innenmangel an seiner Rostocker Schule bisher noch kein Thema ist. Die Hansestadt habe eine „Sonderposition“ aufgrund der Attraktivität des Standorts und der Universität, glaubt er. Doch im ländlichen Raum sieht es anders aus.

Bestätigen kann das Referendar Eric Marsch. An seinem Gymnasium im Landkreis Rostock müsse bereits viel jongliert werden, um die Lehrkräfte auf alle Stunden zu verteilen. Es gebe keinen Überhang an Kolleg:innen. Wenn also mal jemand, auch für länger, ausfalle, müsse umgeplant werden. Manchmal gehe es ausschließlich ums „Löcherstopfen“. Dass dann auch fachfremd unterrichtet werde, sei zwar nicht der Regelfall, aber gang und gäbe – und der Not geschuldet.

Dass dies gerade in den sogenannten Mint-Fächern wohl alternativlos ist, schreibt auch Klaus Klemm in seiner Untersuchung für den VBE. An den allgemeinbildenden Schulen in der Sek I und II werde der Unterricht in „hohem Umfang von Lehrkräften erteilt, die über keine Lehrbefähigung in dem jeweils unterrichteten Fach verfügen“. Für MV habe das im Fach Mathematik im Jahr 2018 auf 3,9 Prozent des Unterrichts zugetroffen. Es fehlten also bereits damals in entscheidender Weise Lehrkräfte.

Ohne Seiteneinsteiger:innen geht es nicht mehr

Diesem Mangel versucht die Landesregierung mit verschiedenen Maßnahmen entgegenzuwirken. Der große Anteil sogenannter Seiteneinsteiger:innen, die inzwischen im Schulbetrieb tätig sind, zeigt, wie groß die Lücke tatsächlich ist. So waren von den 690 vom Bildungsministerium zu Schuljahresbeginn 2022/23 neu eingestellten Lehrkräften 225 Seiteneinsteiger:innen. Das sind immerhin 33 Prozent. Das Bildungsministerium könne zwar nicht mit einer genauen Prognose für die kommenden Jahre aufwarten, doch gehe es dennoch davon aus, „dass der Anteil an Lehrkräften im Seiteneinstieg sich weiterhin auf diesem Niveau bewegen wird“.

Wie unverzichtbar diese mittlerweile sind, haben nicht nur die Teilnehmer:innen einer Umfrage von KATAPULT MV auf Instagram erkannt – der größte Teil von ihnen hält Seiteneinsteiger:innen für notwendig, um die Personalnot an den Schulen abzufedern. Auch die Gewerkschaft GEW sieht das so. Ohne sie laufe es nicht mehr an MVs Schulen. „Da legen wir uns fest“, sagt Landesvorsitzender Nico Leschinski. Die Kolleg:innen im Seiteneinstieg seien „eine nicht mehr wegzudenkende Stütze in unseren Schulen“.

Auch Frank Hermann kam als Seiteneinsteiger an seine Schule. Seit 2017 arbeitet er an einem Gymnasium im Schulbezirk Greifswald, anfangs für vier Monate als Assistenzlehrer. „Das war ein Testlauf für mich“, erzählt er. In dieser Zeit sei er viel mitgelaufen, habe hospitiert und auch gelegentlich schon Stunden übernehmen dürfen. Parallel zu seinem eigentlichen Job als Wissenschaftler. „Ich habe damals eine Alternative zur Forschung gesucht“, berichtet er. Denn dort sind die Aussichten auf feste Stellen schlecht. Um eine Stelle in der Forschung zu ergattern, wäre ein „Vagabundenleben“ nötig gewesen. Er habe aber in der Region bleiben wollen. In seiner Zeit an der Universität habe er bereits viel gelehrt. „Das hat mir damals schon viel Spaß gemacht.“ So sei der Gedanke, an einer Schule mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, naheliegend gewesen.

Qualifizierung als Voraussetzung

Um in MV als Seiteneinsteiger:in arbeiten zu dürfen, müssen fachliche Qualifikationen vorliegen. Die Lehramtswilligen brauchen eine Fachzuordnung, ansonsten ist eine Einstellung nicht möglich. Bei Frank Hermann gelang das aufgrund seines Studiums und seiner vorherigen wissenschaftlichen Arbeit. So unterrichtet er an seiner Schule nun Biologie und Chemie. Im Idealfall folgt für Seiteneinsteiger:innen mit solchen fachlichen Grundlagen eine dreimonatige Qualifizierung, bevor es mit einer einjährigen berufsbegleitenden Einführung in die Pädagogik in den Schulbetrieb geht. In dieser Zeit sind die Neulehrer:innen befristet angestellt. Um verbeamtet werden zu können, sind anschließend noch weitere Qualifikationen nötig.

Hermann hat, wie er berichtet, eine schulinterne Weiterbildung mit einem Kollegen, der auch die Referendare betreut, wahrgenommen. Für ihn war es dann ein Sprung ins „lauwarme Wasser“. Er habe viel Hilfe bekommen und sich wirklich gut aufgehoben gefühlt. Das Kollegium habe ihn toll unterstützt, man habe sich auch gegenseitig geholfen, was er nicht als selbstverständlich ansehe. Auch sei er nicht der einzige Seiteneinsteiger an der Schule. Es gebe sogar relativ viele Kolleg:innen, die ursprünglich aus anderen Berufen kommen. „Das merkt man aber im Kollegium nicht“, findet Hermann.

Und auch anders behandelt fühlt er sich nicht. Das liege vielleicht auch daran, dass es an seiner Schule ein eher kleines Team gebe. Allerdings hat Hermann durchaus schon andere Erfahrungen gemacht. Für die Abiturprüfungen musste er eine Weiterbildung absolvieren und dort sei die Zweiteilung zwischen regulären Lehrkräften und Seiteneinsteiger:innen sowohl offen als auch unterschwellig präsent gewesen. Dennoch bereut er es nicht, sich für diesen Weg entschieden zu haben. Er bekomme viel zurück, vor allem mit den Schüler:innen mache es großen Spaß.

Welle von Renteneintritten muss kompensiert werden

Obwohl die Landesregierung seit Jahren aktiv für den Lehrberuf wirbt, seit 2019 jährlich einen Etat in Höhe von einer Million Euro dafür veranschlagt, kämen einfach nicht genug Leute von der Uni nach, sagt Hermann. Und viele Kolleg:innen gehen in den nächsten Jahren in den Ruhestand. Einen Eindruck davon, wie viele das sein werden, vermittelt ein Blick auf die Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen, die in den kommenden Jahren die Regelaltersgrenze erreichen. Für das aktuelle Schuljahr gibt das Bildungsministerium ihre Zahl mit 436 an. 502 und damit die meisten erreichen im Schuljahr 2028/29 die Regelaltersgrenze. In den darauffolgenden Jahren verringert sich die Zahl stetig. Bis zum Schuljahr 2035/36 sind es rechnerisch insgesamt 6.050 Lehrkräfte, die der Schuldienst in MV verlieren wird.

Dabei bleiben nach Aussage des Bildungsministeriums gar nicht alle Lehrer:innen tatsächlich bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze im Schuldienst. So verlasse „ein erheblicher Teil der Lehrkräfte bereits circa zwei bis drei Jahre“ vorher das Schulsystem. Zusätzlich rechne das Ministerium mit einem Abgang von einem Prozent jährlich – das gesamte Personal und alle Schularten betreffend – aus anderen Gründen. Darunter zum Beispiel die „Aufnahme der Tätigkeit außerhalb von MV, Erwerbsunfähigkeit oder Tod“.

Wo bleiben die Neuen?

Es fehlt jedoch an Nachschub von den Unis. Zahlen des Statistischen Bundesamtes belegen, dass es deutschlandweit immer weniger Lehramtsabsolvierende gibt. Für MV und die hiesigen Universitäten Rostock und Greifswald führte der Rostocker Bildungsforscher Falk Radisch 2018 eine Untersuchung zu Studienerfolg und -misserfolg im Lehramtsstudium durch. Die Ergebnisse zeigen, dass von den Studierenden gerade beim Lehramt für das Gymnasium und an Regionalen Schulen viele nicht bis zum Abschluss dabeibleiben. Sie verlassen entweder die Hochschule oder wechseln in einen anderen, nicht dem Lehramt zugeordneten Studiengang. Besonders stark von diesem Schwund betroffen ist das Lehramt für Regionale Schulen. So sind an der Uni Greifswald nach dem zehnten Fachsemester nur noch 15 Prozent der Studierenden übrig.

Dabei gebe es nicht nur zwischen den Abschlüssen, sondern auch zwischen den Fächern starke Unterschiede. So ist der Schwund in Fächern wie Deutsch oder Geschichte wesentlich geringer als etwa bei Physik und Informatik. Radisch verdeutlichte diese Aussage gegenüber der Süddeutschen Zeitung: So hätten in den vergangenen vier Jahren in MV für das Lehramt Regionale Schulen nur insgesamt drei Physiklehrer ihr Studium abgeschlossen. „Nötig wären etwa 80 gewesen.“

Mit Blick auf die Absolvierenden zeigt sich für die Uni Rostock, dass die Zahl der erfolgreich bestandenen Abschlussprüfungen 2021 geringer war als im Vorjahr. Für das Lehramt Gymnasium verzeichnete die Uni 2020 noch 295 bestandene Prüfungen, 2021 waren es 270. Ähnlich auch beim Lehramt Regionale Schulen, wo die Zahl von 145 auf 130 sank, oder im Grundschullehramt, wo es von 148 um 7 zurückging. An der Uni Greifswald bestanden im Studienjahr 2020/21 76 Studierende die Abschlussprüfung für das Lehramt Gymnasium – darunter nur eine Person in Mathematik – und 24 für die Regionalen Schulen – hier war kein Fach aus dem Mint-Bereich vertreten.

Referendar:innen nicht „verheizen“

Auch Eric Marsch hat ursprünglich kein Fach aus dem Mint-Bereich auf Lehramt studiert. Er tut es aber jetzt neben seinem aktuell noch laufenden Referendariat. Denn an seiner Schule werden diese Fächer gesucht. Mit seiner Ursprungskombination hätte er nach dem Ende des Vorbereitungsdienstes nicht dort bleiben können. Demnächst wird er bereits beginnen, im neuen Fach zu unterrichten, berichtet er.

Referendarin Eva Pagels hat sich ebenfalls entschieden, ihre Fächerkombination zu wechseln. Jedoch fiel dieser Beschluss schon während des Studiums. Nun hat sie im vergangenen Jahr mit den Fächern Englisch und Geschichte ihr Referendariat an einem Gymnasium im Landkreis Vorpommern-Rügen begonnen. Seit November durfte sie dort bereits unterrichten, seit Februar wird ihre Stundenzahl langsam weiter erhöht. Da sie bereits vor dem Referendariat an einer Schule als Vertretungslehrerin gearbeitet hatte, habe sie den „Praxisschock“ schon hinter sich gehabt, als es an die Schule ging, sagt sie. Sie sieht den Lehrberuf vielleicht auch deswegen bereits als stressigen Job an, „der allumfassend dein Leben verschlingen kann“.

Dass schon im Referendariat die Arbeitslast groß und Überforderung ein Problem darstellen kann, schätzt auch der VBE MV so ein. Die Landesregierung müsse sicherstellen, dass es nicht schon dort zu einem „Verlust von potentiellen Lehrkräften“ komme. Eric erzählt, dass er persönlich eine Überforderung oder gar ein „Verheizen“ von Referendar:innen nicht erlebt hat, aber durchaus von anderen Schulen weiß, an denen dies vorkomme. Dort würden Leute weit über ihre Stunden eingesetzt und zu Tätigkeiten herangezogen, die sie eigentlich noch nicht ausführen dürften. Das schreibt auch der VBE-Vorsitzende Blanck, bezieht seine Kritik aber auch auf die ersten Jahre im Job. So sei die Belastung bei jungen Lehrkräften ihrer „Überfrachtung (…) zu Beginn des ersten Jahres geschuldet“. Es müssten dort bereits Aufgaben übernommen werden, „die selbst gestandenen Lehrkräften Schwierigkeiten bereiten“.

Genau wie Eva musste auch Eric solche Erfahrungen an seiner Schule bislang nicht machen. Trotzdem macht er sich Gedanken, wie die für Referendar:innen veranschlagten 40 Stunden die Woche, gerade bei Fortschreiten des Referendariats und den damit immer neu hinzukommenden Aufgaben und Unterrichtsverpflichtungen, zu halten sein sollen. „Das schafft man gar nicht“, meint er. Immerhin sind ja nicht nur Aufgaben an der Schule zu erfüllen, sondern an einem Wochentag auch noch Fach- und Pädagogikseminare zu besuchen. Zudem müssen für Unterrichtsbesuche durch den:die Seminarleiter:in auch Unterrichtsentwürfe erstellt werden.

Eva sieht das pragmatisch. Das Referendariat sei eben schwer, egal wo, meint sie. „Wenn wir danach mit 27 Stunden in die Schule geworfen werden und das Ref nicht schwer war, dann zerbricht man schließlich auch.“

Lehrer:in sein lohnt sich – wegen der Schüler:innen

Allerdings sei eine tolle Schule schon die halbe Miete. So fühlen sich beide von ihren jeweiligen Mentor:innen gut betreut. „Meine waren ordentlich auf Zack“, freut sich Eric. Er habe auch gerade seinen Einstand an der Schule als ziemlich positiv wahrgenommen. „Ich habe auch super Glück mit meiner Schule“, sagt Eva. Und trotzdem gebe es immer Dinge, an die man sich gewöhnen müsse. Etwa daran, dass nicht alle Schüler:innen jederzeit Lust auf Unterricht haben. Das habe ihn zu Beginn stark frustriert, erzählt Eric. Man frage sich dann schon, was man dort eigentlich mache, und müsse seine Erwartungen herunterschrauben. Wieso also überhaupt Lehrer:in sein?

Besonders schön ist für Eric der „Aha-Moment“ bei Schüler:innen. „Ich finde es sehr befriedigend, wenn Leute etwas verstehen“, sagt er. Auch Eva mag diesen Moment. Wenn sich die Schüler:innen über eine gute Note freuen, dann freue sie sich auch. „Ich denke dann: Hey, ich habe etwas richtig gut erklärt.“

Dieser Artikel erschien in KATAPULT MV Ausgabe 16.

Quellen

  1. Name von der Redaktion geändert.
  2. § 1 Absatz 4 Landesverordnung über die Arbeitszeit der Lehrkräfte an staatlichen Schulen, auf: landesrecht-mv.de.
  3. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Übersicht über die Pflichtstunden der Lehrkräfte an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen, auf: kmk.org (Stand: November 2020).
  4. Name von der Redaktion geändert.
  5. E-Mail der GEW MV vom 9.1.2023.
  6. Sekretariat der KMK (Hg.): Übersicht über die Pflichtstunden der Lehrkräfte an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen, auf: kmk.org (Stand: November 2020).
  7. GEW (Hg.): Viele Lehrkräfte arbeiten mehr als 48 Stunden, auf: gew.de (29.1.2018).
  8. Hardwig, Thomas; Mußmann, Frank: Zeiterfassungsstudien zur Arbeitszeit von Lehrkräften in Deutschland, S. 95 (Januar 2018).
  9. E-Mail der GEW MV vom 9.1.2023.
  10. Ebd.
  11. Landesverband Bildung und Erziehung (Hg.): Bildungspläne der neuen Koalition bleiben weit hinter den Erwartungen zurück, auf: vbe-mv.de (8.11.2021).
  12. E-Mail des VBE MV vom 11.1.2023.
  13. Der Bericht gibt Auskunft über die Lehrer:innenbedarfsentwicklung von 2021 bis 2035. Enthalten sind Zahlen zum Gesamtbedarf der Schulen und dem Einstellungsbedarf, nicht jedoch zum voraussichtlichen Mangel.
  14. E-Mail vom Ministerium für Bildung und Kindertagesförderung vom 16.1.2023.
  15. Sekretariat der KMK (Hg.): Lehrkräfteeinstellungsbedarf und -angebot in der Bundesrepublik Deutschland 2021–2035, S. 14 (10.3.2022).
  16. Ebd., S. 4.
  17. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Lehrkräfteeinstellungsbedarf und -angebot in der Bundesrepublik Deutschland 2021–2035, Anh. S. 13-25 (10.3.2022).
  18. Klemm, Klaus: Entwicklung von Lehrkräftebedarf und -angebot in Deutschland bis 2035, S. 23-24 (31.3.2022).
  19. Sekretariat der KMK (Hg.): Lehrkräfteeinstellungsbedarf und -angebot in der Bundesrepublik Deutschland 2021–2035, Anh. S. 22 (10.3.2022).
  20. Klemm, Klaus: Entwicklung von Lehrkräftebedarf und -angebot in Deutschland bis 2035, S. 24 (31.3.2022).
  21. Sekretariat der KMK (Hg.): Vorausberechnung der Zahlen der Schüler/-innen und Absolvierenden 2021–2035, Anh. S. 109 (8.9.2022).
  22. Klemm, Klaus: Entwicklung von Lehrkräftebedarf und -angebot in Deutschland bis 2035, S. 26 (31.3.2022).
  23. E-Mail des VBE MV vom 11.1.2023.
  24. Die Kontingentstundentafel legt fest, für welches Fach beziehungsweise Fächergruppe wie viele Schüler:innenwochenstunden erteilt werden sollen.
  25. E-Mail der GEW MV vom 9.1.2023.
  26. Telefonat mit der GEW MV am 10.1.2023.
  27. Ebd.
  28. Erfassung des Vertretungsunterrichts und des Unterrichtsausfalls, auf: service.mvnet.de.
  29. E-Mail des VBE MV vom 11.1.2023.
  30. Name von der Redaktion geändert.
  31. Klemm, Klaus: Entwicklung von Lehrkräftebedarf und -angebot in Deutschland bis 2035, S. 28 (31.3.2022).
  32. Ministerium für Bildung und Kindertagesförderung MV (Hg.): Land stellt 690 Lehrkräfte zum neuen Schuljahr ein, auf: regierung-mv.de (16.8.2022).
  33. E-Mail vom Ministerium für Bildung und Kindertagesförderung vom 16.1.2023.
  34. Ministerium für Bildung und Kindertagesförderung MV (Hg.): Seiteneinstieg – der Direkteinstieg in den Schuldienst, auf: lehrer-in-mv.de.
  35. E-Mail der GEW MV vom 9.1.2023.
  36. Ministerium für Bildung und Kindertagesförderung MV (Hg.): Seiteneinstieg – der Direkteinstieg in den Schuldienst, auf: lehrer-in-mv.de.
  37. E-Mail vom Ministerium für Bildung und Kindertagesförderung vom 16.1.2023.
  38. Lehrkräfte erreichen dem Landesbeamtengesetz zufolge mit der Vollendung des 67. Lebensjahres die Regelaltersgrenze und treten mit Auslaufen des betreffenden Schuljahres in den Ruhestand ein.
  39. Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur (Hg.): Bericht zur Lehrerbedarfsentwicklung 2021 bis 2035, S. 16.
  40. Ebd.
  41. E-Mail vom Ministerium für Bildung und Kindertagesförderung vom 16.1.2023.
  42. Statistisches Bundesamt (Hg.): 28 900 angehende Lehrkräfte schlossen 2021 ihr Studium mit einem Master oder dem 1. Staatsexamen ab, auf: destatis.de (4.10.2022).
  43. Radisch, Falk; Driesner, Ivonne; Arndt, Mona u.a.: Abschlussbericht. Studienerfolg und -misserfolg im Lehramtsstudium, S. 68-69 (30.6.2018).
  44. Ebd.
  45. Munzinger, Paul: Wo sind sie denn, die Lehrer?, auf: sueddeutsche.de (3.1.2023).
  46. E-Mail der Universität Rostock vom 11.1.2023.
  47. Universität Greifswald (Hg.): Prüfungsstatistik für das Studienjahr 2020/2021, auf: uni-greifswald.de (31.3.2022).
  48. Name von der Redaktion geändert.
  49. E-Mail des VBE MV vom 11.1.2023.

Autor:in

  • Redakteurin in Greifswald

    Geboren in Berlin, aufgewachsen in Berlin und Brandenburg. Tauschte zum Studieren freiwillig Metropole gegen Metropölchen.