Stell dir vor, du bist in der Wahlkabine und siehst die Unterlagen zur Europawahl. Katastrophe. 34 Auswahlmöglichkeiten, aber nur ein Kreuz. Viele Bundeslisten, aber eine Landesliste. Europawahl, aber nur nationale Parteien. Keine Panik. Wir helfen dir da durch. Hier kommt unser kleiner Tourguide zur Europawahl.
Wie entsteht eine Wahlliste?
Auf den Stimmzetteln sind Parteien mit ihrer Spitzenkandidatinnen zur Europawahl abgedruckt. Wer auf die Europawahllisten kommt, bestimmen die Delegierten auf den Parteitagen. Je weiter oben eine Kandidatin auf der Liste platziert ist, desto wahrscheinlicher zieht sie ins EU-Parlament ein. Sabrina Repp aus MV hat es mit Unterstützung der ostdeutschen Delegierten auf Platz elf der SPD-Bundesliste geschafft. Sie hat damit gute Chancen, MV in der kommenden Legislaturperiode im EU-Parlament zu vertreten. Bei den Grünen belegen Hannah Neumann, die ihr Wahlkreisbüro in Greifswald hat, auf Listenplatz fünf und der Rostocker Niklas Nienaß auf Platz 14 aussichtsreiche Positionen für eine Wiederwahl. Beide sitzen bereits im EU-Parlament.
Wie die Kandidatinnen auf den Wahllisten angeordnet werden, ist Sache der Parteien. Einige achten auf ein Gleichgewicht zwischen Frauen und Männern. Auch die Aufteilung auf Ost- und Westdeutschland sowie Themenschwerpunkte der Kandidatinnen spielen eine Rolle, erklärt Nele Vahl vom Europäischen Informationszentrum Rostock. Für kleine Landesverbände wie die aus MV sei es grundsätzlich schwierig, eigene Kandidatinnen erfolgversprechend auf Bundeslisten zu platzieren, weil nur wenige Delegierte entsandt werden. So steht Paul Bressel, Spitzenkandidat der Landes-FDP, auf der Bundesliste nur auf dem 68. Platz. Seine Chance auf einen Sitz in Straßburg ist damit gering. Die Linke hat in MV erst gar keine eigene Kandidatin aufgestellt. Auf der Bundesliste zur Europawahl von Parlament aufmischen – Stimme der Letzten Generation sind dagegen zwei Kandidaten aus MV auf einem der ersten fünf Listenplätze zu finden. Ob es beide ins Parlament schaffen, hängt vom Wahlergebnis der noch jungen Vereinigung ab.
Die CDU tritt als einzige Partei mit einer Landesliste an, weil sie in Bayern der CSU den Vortritt lässt und so keine Bundesliste stellen kann. Ob es für Jascha Dopp, Spitzenkandidat der Landes-CDU, für Europa reicht, hängt vom Wahlergebnis ab. „Wenn die CDU bundesweit bei knapp über 30 Prozent liegt, reicht es meist auch für einen Abgeordneten aus MV“, erklärt Dopp.
Jan-Peter Warnke aus Trassenheide steht ebenfalls weit oben auf einer Europawahlliste. Er kandidiert für das Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW). Ute Büschkens-Schmidt aus Kuchelmiß bei Krakow am See hat Listenplatz acht für Bündnis C – Christen für Deutschland inne. Robert Gabel aus Greifswald steht auf Listenplatz drei seiner Tierschutzpartei. Steffen Beckmann aus Schwerin wurde auf der Bundesliste der AfD auf Platz 28 gewählt.
Europäische Partei vs. Gruppe im EU-Parlament
Nach der Wahl wird es wild, denn die nationalen Parteien können sich in europäischen Parteien organisieren, die dann wiederum Gruppen im EU-Parlament bilden. Aktuell gibt es zehn europäische Parteien. Eine davon ist die Europäische Volkspartei (EVP), der unter anderem CDU und CSU angehören.
Die Gruppen im EU-Parlament stützen sich sowohl auf europäische Parteien als auch auf nationale Parteien und Abgeordnete, die nicht notwendigerweise Mitglied einer europäischen Partei sein müssen, erläutert der Rostocker Politikwissenschaftler Wolfgang Muno.
Verwirrend ist es bei der EVP, da sowohl die europäische Partei als auch die Gruppe im Parlament so bezeichnet werden. Klarer ist es bei den Liberalen. Die europäische Partei Allianz der Liberalen (ALDE) bildet im EU-Parlament die Gruppe Renew Europe. Zu ihr gehört auch die Partei Renaissance des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, die jedoch nicht Mitglied von ALDE ist.
Opa nach Europa?
Lange Zeit galt in Deutschland: „Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa.“ Ausgediente Politiker wie etwa Günther Oettinger (CDU) oder Edmund Stoiber (CSU) wurden nach Brüssel delegiert. Das habe sich etwas gewandelt, sagt Muno.
Parteiinterne Machtkonstellationen, politische Ambitionen und Erfahrungen spielen eine Rolle für eine europäische Kandidatur. Manche EU-Abgeordnete wie der scheidende Helmut Scholz (Die Linke) sind bereits seit 15 Jahren Mitglied des Parlaments. Andere, wie die Kapitänin und Aktivistin Carola Rackete, steigen hier in die Politik ein oder stehen am Anfang ihrer politischen Karriere, wie SPD-Frau Repp. Sie möchte eine „junge, weibliche und auch ostdeutsche Stimme für MV im Europäischen Parlament“ sein.
Das EU-Parlament sei jedoch zu wichtig, als dass man sich ausprobieren und schauen könne, „ob einem der parlamentarische Betrieb liegt“, sagt Christian Albrecht von der Linken MV. Es komme darauf an, welche Menschen von den Parteien aufgestellt werden, meint Niklas Nienaß und zeigt sich zuversichtlich, dass „die jungen Wilden, die die Zukunft in Europa erkannt haben“, immer mehr werden.
34 Parteien und nur ein Kreuz
Für die Europawahl sind in Deutschland 34 Parteien zugelassen. Gerade Kleinstparteien haben die Chance auf ein Mandat, weil es anders als bei der Bundestagswahl keine Fünfprozenthürde gibt. Von 720 Sitzen im EU-Parlament erhält Deutschland 96. So reicht etwa ein Prozent der Stimmen für ein Mandat. Im EU-Vergleich sind Kleinstparteien in Deutschland dadurch im Vorteil. In der aktuellen Legislaturperiode sind etwa die Familienpartei, die ÖDP, Volt (tritt in mehreren EU-Ländern an), Die Partei, aber auch Einzelpersonen im Europäischen Parlament vertreten.
Vor allem für die Wahlberechtigten, die sich mit den etablierten, großen Parteien kaum oder nicht identifizieren können, bietet die Europawahl die Möglichkeit, die eigene Stimme anders zu vergeben, so Nele Vahl.
Was das EU-Parlament bewirken kann
Das EU-Parlament ist das einzige direkt gewählte Organ der EU und hat ähnliche Funktionen wie der Bundestag. Es bestimmt gemeinsam mit dem Rat der Europäischen Union das EU-Budget, wählt die Kommission und deren Präsidentin und kann diese auch per Misstrauensvotum absetzen. Aktuell verklagt das Parlament die EU-Kommission, weil sie zehn Milliarden Euro Fördermittel unrechtmäßig an Ungarn gezahlt haben soll.
Allerdings kann das Parlament keine Gesetze vorschlagen. Christian Albrecht von der Linken nennt es den „Geburtsfehler der EU“. Gesetze werden von der EU-Kommission vorgeschlagen. Parlamentsabgeordnete können die Kommission jedoch auffordern, Gesetzesvorschläge zu machen, und in verschiedenen Ausschüssen maßgeblich an Gesetzen mitbestimmen, bis diese verabschiedet werden.
Zugleich ist das Parlament nur so stark wie die Parlamentarierinnen. Bürokratie, Lobbyismus und Interessen einzelner Konzerne wirken auf die Abgeordneten und ihre Arbeit ein.
Quellen
- Autor nutzt generisches Femininum.↩
- E-Mail von Nele Vahl vom 28.5.2024.↩
- E-Mail von Jascha Dopp vom 5.6.2024.↩
- E-Mail von Wolfgang Muno vom 1.6.2024.↩
- E-Mail von Sabrina Repp vom 3.6.2024.↩
- E-Mail von Christian Albrecht vom 31.5.2024.↩
- E-Mail von Niklas Nienaß vom 30.5.2024.↩
- E-Mail von Nele Vahl vom 28.5.2024.↩
- ZDF (Hg.): EU-Parlament verklagt EU-Kommission, auf: zdf.de (14.3.2024).↩