In der Nacht vom 24. auf den 25. November 2000 erschlugen drei jugendliche Neonazis den 42-Jährigen Eckard Rütz vor der alten Mensa. 21 Jahre später, das Wetter ähnlich wie damals. Die Obdachlosen am Greifswalder Mühlentor wissen, was heute für ein Tag ist, sie haben Gestecke und Kerzen dabei. Doch dann kommt das Ordnungsamt – mit Verstärkung.
9 Uhr am Mühlentor. Polizeibeamte und Ordnungsamt verweisen die Obdachlosen und räumen ihr Hab und Gut in einen Laster. Unter ihnen ist Frank Klawitter, der seit Jahren auf der Straße lebt. „Aufgrund eines Schufa-Eintrags aus DDR-Zeiten“, erzählt der 60-Jährige, der Erwerbsminderungsrente, aber keine Wohnung bekommt. Sein gerichtlich bestellter Betreuer übergab ihm den Bescheid, eine Untersagungsanordnung, vor zwei Tagen. Das Greifswalder Tiefbau- und Grünflächenamt hat ihm am 16.11. die „Sondernutzung“, so nennt die Stadt den Aufenthalt von Frank Klawitter am Mühlentor, ab dem 24. November untersagt. Seine „Inanspruchnahme der öffentlichen Verkehrsfläche“ beeinträchtige die öffentliche Sicherheit und Ordnung, heißt es in dem Schreiben, das KATAPULT MV vorliegt. Eine derartige Sondernutzung sei genehmigungspflichtig und im Fall von Herrn Klawitter „faktisch in Gänze ausgeschlossen“, da ein Gemeingebrauch der Fläche sowie die „Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs“ wegen Herrn Klawitters Aufenthalt nicht mehr gewährleistet sei. Die Stadt Greifswald äußerte sich nach mehrmaliger Nachfrage von KATAPULT MV: „Die Stadtverwaltung sah sich aufgrund der zahlreichen Beschwerden gezwungen, zu handeln.“ Dass das Datum der Räumung der Besitztümer mit dem Todestag von Eckard Rütz zusammenfällt, sei unbeabsichtigt und ein zufälliges Zusammentreffen. „Es hat nichts mit dem Gedenktag zu tun und auch nichts mit der Verlegung des Wochenmarktes an das Mühlentor wegen des Weihnachtsmarktes“, so eine Stadtsprecherin. Über die Utensilien von Frank Klawitter lässt sie ausrichten: „Sie befinden sich auf dem Bauhof und können jederzeit abgeholt werden. Er selbst kann weiterhin an dem Platz bleiben“ – eine Tatsache, die dem Obdachlosen gegenüber nicht ausreichend kommuniziert worden ist. KATAPULT MV hat heute Nachmittag mit Frank Klawitter über den Vorfall gesprochen.
KATAPULT MV: Was ist heute Morgen passiert?
Frank Klawitter: Zehn bis fünfzehn Polizisten kamen um 9 Uhr mit dem Ordnungsamt. Die Leute hat’s nicht interessiert. Alles, was es so gibt, der ganze Trupp. Sie sagten, ich habe hier in der Innenstadt nun Verbot, soll mich hier nicht mehr aufhalten. Dabei habe ich keinem Menschen was getan. Ich muss doch einkaufen.
Handgreiflich wurden sie auch. Ich sagte, „Sie fassen mich nicht an, das sind alles meine Sachen.“ Und dann haben sie, alles was sie fanden, Besteck, meine Thermoskanne, meinen Regenschirm, Stühle, meine warmen Klamotten, alles in den Laster gehauen. Ich kann jetzt nicht mal mehr vernünftig meine Stulle schmieren. Das hat mein Geld gekostet. Danach fragt keiner. Es hat keinen gestört. Ich sagte, ich hole die Sachen später ab, aber sie haben einfach alles mit auf den Laster geschmissen. Die zwei neuen Matratzen, die ich bekommen habe, dabei taten die meinem Kreuz richtig gut – weg. Nun muss ich wieder sehen. Wenn ich so wieder ohne schlafen muss, macht das mein Kreuz nicht mehr mit, ich komme nicht mehr hoch. Genauso mit den Stühlen. Hätten sie mir nicht zwei Stühle lassen können, auf die ich mich setzen und anlehnen konnte? Das war ja immer die Sache, dass ich hier nichts zum Anlehnen gefunden habe. Drüben von der Bank wurde ich auch verjagt. Die nehmen heute keine Rücksicht mehr, ich habe keine Lust mehr.
Ich zahle meine AOK-Beiträge und Rentenversicherungsbeiträge und werde hier abgestempelt als sonst was? Wie ein Schwerverbrecher! Da sagen sie, „Da gehen Sie eben in eine Zelle“ – ich habe mir aber nichts vorzuwerfen. Aber man muss sich trotzdem nicht alles gefallen lassen. Und zieht am Ende trotzdem den Kürzeren.
Ist niemand stehen geblieben?
Doch, es kamen welche und haben geguckt, Fotos gemacht. Aber da kamen auch gleich wieder andere Sprüche. Das ist heute die Gesellschaft. Ich hab damit zu kämpfen jetzt erst mal.
Meine Sachen, alles nagelneu gekauft und ordentlich verpackt – und meine Ecke, wo ich geschlafen habe. Ich habe keinen gestört. Aber alles musste entsorgt werden. Ich bin doch kein Rockefeller. Und jetzt kämpfe ich wieder. Eine Woche, vierzehn Tage gebe ich, dann werde ich von meinem neuen Platz auch wieder verjagt. Weil die Leute, die Stadtverwaltung, Obdachlosigkeit nicht dulden. Ob das wohl ein freier Platz ist? Wem habe ich was getan? Keinem Menschen! Im Gegenteil!
Was passiert mit Ihren entsorgten Sachen?
Angeblich wollen sie die Sachen einlagern, in der Grimmer Straße. Aber das glaube ich nicht, ich hab das ja schon durch mit dem Ordnungsamt. Ich war vor anderthalb Monaten für drei Wochen für eine Herz-OP im Krankenhaus. Danach waren meine Sachen weg, meine Papiere, meine Zeitungsausschnitte, ich habe keine Adressen der Leute, die mir geholfen haben. Da hieß es auch, wir lagern es irgendwo ein. Mein Betreuer hat mit Wohnen nichts zu tun, er macht nur Post, Finanzen und das Gesundheitswesen, heute hat er auch einen Termin gehabt und ist gar nicht erschienen. Solche Leute brauche ich nicht.
Kam jemand, um zu helfen?
Zu helfen? Die kamen mit Polizei und allem. Mit ihrem Hänger, und dann wurde aufgeladen. Ich sagte, der Tisch bleibt, der Stuhl bleibt. Es wurde hinter meinem Rücken alles wieder raufgeschmissen, auf den Entsorgungsanhänger.
Wie wurde die Räumung begründet?
Es soll nicht sein, dass hier in der Stadt Obdachlose sind. Wir werden hier von einem Ort zum nächsten gejagt. Bloß ziehen wir den Kürzeren. Vor zwei Tagen wurde mir von meinem gerichtlichen Betreuer gesagt, dass eine Räumung kommt. Und ich habe verstanden, weil ich im Moment sowieso etwas durcheinander bin, durch die ganze Sache mit Rütz: am 24. Dezember. Und heute morgen standen sie plötzlich da. Ich war schockiert und konnte nichts mehr machen. Der Bürgermeister hat sich nicht einmal hier blicken lassen, nicht gefragt, wie es geht oder ob wir etwas brauchen.
Noch nie?
Noch nie. Jetzt kommen sie mir mit so einem Schreiben. Das hätte man auch anders, vor allem vernünftig regeln können. Und ich bin nicht der Gesündeste – Hüfte kaputt, das flache Liegen hier geht aus gesundheitlichen Gründen gar nicht. Ich komme ja kaum noch hoch. Voriges Jahr wurden meine beiden Hüften gemacht, mein Sprunggelenk ist kaputt, die Nieren angegriffen, Lungenriss, und in diesem Jahr war ich mit meinem Herzen in der Klinik. Wenn ich mich zu stark aufrege, kann das mein Tod sein. Also muss ich jetzt alles in Ruhe, sachte, erst mal wieder so hinkriegen, dass es ordentlich ist. Aber ich bin heute um 18 Uhr Abend trotzdem dabei, bei der Veranstaltung für Eckard Rütz.
Und das gerade heute, am Todestag von Rütz, gleich neben seinem Gedenkstein. Überhaupt verstehe ich nicht, dass sie so etwas machen müssen. Der andere, der wird geduldet, da er keinen Betreuer hat. Ich hab einen und deswegen diesen Brief bekommen und mein Betreuer war noch nicht mal anwesend.
In der Untersagungsverfügung steht auch, Sie müssten für die Entsorgung aufkommen.
Ich habe über acht Jahre keine Schulden gehabt, jetzt, für die Räumung meines Eigentums, soll ich 550 Euro bezahlen. Wo soll ich das hernehmen? Ich muss jetzt am Hungertuch nagen.
Ich hab keinem Menschen was getan, alle haben gesagt, es sieht gut aus an meinem Platz, ich hab meine Ruhe gehabt, konnte ein bisschen schlafen durch die Matratzen und jetzt ist alles wieder auf null. Da muss ich durch, hilft nichts, nimmt mir keiner ab. Das bisschen hier konnte ich noch retten. Als ich meine Sachen hergebracht hab, haben sie einem Passanten auf Nachfrage noch meine Liege gegeben. Dann hätten sie mir auch die Matratzen für meinen Rücken lassen können. Aber trotzdem mache ich mir das hier noch ein bisschen gemütlich.
Wie kann man jetzt helfen?
Zum einen finanziell, damit man wieder auf die Beine kommt. Und mit Sachen, so einem Katzending zum Beispiel. Ich hatte einen Korb für meine Katze, wo ihr Futternapf mit kleinem Fell drin war. Jetzt muss sie sich erst mal an den neuen Platz gewöhnen. Ich muss heute Abend erst mal versuchen, dass sie hierher kommt zum Fressen. Die haben ja alles weggeschmissen. Essen, Fischdosen, alles was haltbar ist – jetzt ist alles weg und ich fange von vorne an. Ich hatte noch zwei Gläser Bienenhonig, die wollten sie auch wegschmeißen.
Wie wurden Sie behandelt?
Sie sagten, „Sie bleiben hier, bis alles weg ist“ – und ich musste zuschauen. Ich sagte, ich hab Zeit, ich kann das auch so wegbringen, nichts muss entsorgt werden. Mit meinen restlichen Sachen musste ich vier-, fünfmal absetzen, dann kam jemand und hat mir schnell rübergeholfen mit den beiden Säcken. Sonst wäre ich noch zusammengebrochen. So schubsen sie einen hin und her. Und ich kämpfe um eine Wohnung und kriege keine.
Jetzt auch wieder, da hatte ich mich in der Rotgerberstraße beworben. Aber da müssen die Vormieter noch renovieren und die Kündigungsfrist einhalten. Ich wäre im Januar dran. Die WVG meinte, sie wird sich drum kümmern – nichts ist passiert. Woanders brauchen sie mich nicht hinzustecken, nicht ins Ostseeviertel oder sonst wohin. Da habe ich keinen und bin total verlassen, wenn was ist. Hier habe ich Leute, die ich ansprechen kann, die mir auch helfen mit allem. Hier hab ich den Markt, mein Obst, die Apotheke, was will ich mehr? Und meine Katze würde sich da draußen gar nicht wohlfühlen, sie kennt es nur hier am Wall.
Wie heißt Ihre Katze?
(Das erste Mal erhellt sich Frank Klawitters Gesicht und seine Stimme wird weich und ruhiger.)
Luna, wie der Mond. Eine ganz liebe Katze. Die kommt regelmäßig zum Essen und Schlafen und jetzt muss ich ihr einen neuen Schlafplatz suchen. Da hatte ich extra so einen Korb mit Fell drin, da ist sie abends, wenn es kalt war, reingekrochen zum Aufwärmen und Schlafen. Jetzt muss ich sehen. Sie bekommt jetzt erst mal meine Geldschale als Futternapf.
Ist traurig, sowas. Wie sie mit Menschen und Tieren umgehen. Wir sind nichts mehr wert.
Sie wollen trotz Untersagungsanordnung heute Abend Eckard Rütz’ gedenken.
Ja, alles nicht so einfach. Ich hab einen Strauß und die Kerzen hier geholt. Das habe ich noch übrig für so einen Menschen wie Eckard Rütz. Vor allem diese Gewalt ist schlimm. Das kann nicht sein, sowas. Ich sehe ja, wie die Gesellschaft als Obdachloser mit mir umgeht. Wie ein Stück Vieh wird man behandelt. Man möchte nur eine vernünftige Wohnung, Miete bezahlen, jetzt muss ich mit allem von vorne anfangen und betteln. Dabei liegt mir das überhaupt nicht. „Sie verschwinden hier, sie haben hier nichts mehr verloren“, sagten sie zu mir. Ich sagte daraufhin, ich habe hier heute Abend einen Termin. Das störte die gar nicht, die nehmen keine Rücksicht auf das Gedenken. Die lassen uns Obdachlose einfach nicht mehr in Ruhe. Besoffene haben mir schon einiges angetan. Mich wollten sie vor einem Monat schon umbringen.
Hier an der Mensa? Was genau ist passiert?
Ja hier, nachts kamen sie an. Da waren hier vom Klimacamp noch die Zelte aufgebaut. Von denen sind fünf Mann dazugekommen und dazwischengegangen. Zu acht kamen die Leute, um mich zu entsorgen. Alles solche Sachen, die man erlebt. Jetzt muss ich meinen Platz hier ein bisschen sauber machen, dass man sich ein bisschen wohlfühlt.