Kurz vor elf Uhr stehe ich am Hauptbahnhof in Rostock. Die Sonne scheint, Müll wedelt durchs Gleisbett. Ich bin pünktlich. Der Zug nach Stralsund ist es nicht. Eine Viertelstunde Verspätung, heißt es auf der Anzeigetafel. Das ist gar nicht mal so gut. Schon vor der Abreise stört mich der Nahverkehr.
Ursprünglich war ich um 14 Uhr mit dem Geschäftsführer der Verkehrsgesellschaft Vorpommern-Rügen (VVR) in der Zentrale in Grimmen verabredet. Allerdings: Mit der Bahn im Zweistundentakt aus Rostock über Stralsund bin ich entweder viel zu früh oder viel zu spät. Also verabreden wir uns erneut. 13 Uhr passt in den Fahrplan. Theoretisch.
Am Infoschalter der DB blickt eine resignierte Mitarbeiterin auf den Bildschirm vor ihr. „Wartet der Anschluss in Stralsund?“ Sie zuckt mit den Achseln und schüttelt dann den Kopf. Immerhin fahren die Züge auf der Strecke Stralsund–Grimmen im Stundentakt.
Zurück zum Gleis. Auf dem Weg ein Anruf. „Hallo, ja, Sie wissen ja, der ÖPNV, ich bin doch erst 14 Uhr bei Ihnen.“ Auf dem Bahnsteig schauen Menschen mit leeren Blicken auf unsichtbare Ziele und umklammern Packpapier mit Blume-2000-Aufdruck. Bahnhof, klassischer Nullort. Alle wollen weg. Ein Baby schreit.
Ein Döschen mit Soße irgendeiner Fast-Food-Kette liegt auf dem Pflaster. Brutal aufgestochen von wilden Kreaturen der Großstadt. Möwen, Krähen, Spatzen, was weiß ich. Die Soßenflecken sehen aus wie Blutspritzer. Einsatz für Soko Bahnsteigkante. Doch niemand kümmert sich.
Mit zwanzigminütiger Verspätung fährt die Bahn ein. Gesellschaftliche Verabredungen sind aufgehoben. Das Konzept „erst aussteigen, dann einsteigen“ hat die gleiche Haltbarkeitsdauer wie pünktliche Abfahrtszeiten. Lediglich die leeren Blicke sind stabil.
Der Zug fährt an. Der Zug stoppt. Kurz hinter Rostock. Über einen Wellblechzaun schaue ich in Schrebergärten. Hier war ich noch nie. Ein entgegenkommender Zug rast vorbei und beschert uns weitere fünf Minuten Verspätung. Toll, wie sehr die Bahn entschleunigt. Auch der Schaffner ist entspannt. Warum der Zug so verspätet ist? Leute auf den Gleisen in Martensdorf, sagt der Kontrolleur. „Da war sogar die Polizei im Einsatz.“ Soko Bahnsteigkante, es gibt sie wirklich.
In Stralsund-Grünhufe warten wir noch einmal auf einen entgegenkommenden Zug. Der Anschluss nach Berlin ist spätestens jetzt weg. Zum Glück will ich nach Grimmen. Am Stralsunder Hauptbahnhof liegen Reiswaffeln auf dem Bahnhofsplatz. Es riecht nach Burger und Döner. In der Bahnhofsbuchhandlung strahlt perlweißes Lächeln von Zeitschriftencovern. Daneben Ernährung, Politik, Erotik. Fahndungsplakate suchen Menschen. Auch Wirecard-Betrüger Jan Marsalek.
Dann geht es weiter mit dem RE nach Grimmen. Zwischenhalt in Zarrendorf (hab ich noch nie gehört), Elmenhorst (hab ich schon mal gehört) und Wittenhagen. Überall kein Funknetz.
In Grimmen dann Netz, aber kein Bus. Es gibt keine Stadtbusse, sondern lediglich regionale Linien, die durch Grimmen verkehren. Einmal stündlich. Jetzt aber nicht. Also laufe ich los. Zweieinhalb Kilometer. Vorbei an Tedi und Rewe, durch den Park und die Schrebergärten, vorbei an einer Tankstelle und an einer zweiten.
Kurz vor 14 Uhr bin ich bei der VVR. Drei Stunden ÖPNV statt einer Stunde PKW. Mit Geschäftsführer Sehl spreche ich über das Deutschlandticket und die Erkenntnis, dass ein solches Nahverkehrsticket ohne entsprechendes Angebot nicht funktioniert. Immerhin: Die Rückfahrt findet wie geplant statt. Neben mir isst eine Frau ein Brötchen. Im Zug riecht es nach Leberwurst. Gestört, aber geil.
Rostock–Grimmen ist eine umständliche und dennoch komfortable Strecke mit dem ÖPNV. Beide Orte haben einen Bahnhof. Das erlaubt eine relativ stabile Verbindung. Störungsfrei ist das dennoch nicht. Genauso wenig wie der Nahverkehr im ganzen Land. In unserer Printausgabe 20 schauen wir auf den ÖPNV und darauf, ob sich das Deutschlandticket im Land lohnt.
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