Am 9. Oktober hat die Neubrandenburger Stadtvertretung die Regenbogenflagge am Bahnhofsvorplatz verboten. Einen Tag später haben Sie Ihren Rücktritt verkündet. Gestern, am 18. Oktober, waren 1.300 Menschen in Neubrandenburg unterwegs, um die queere Community, aber auch Sie als Oberbürgermeister zu unterstützen. Wie haben Sie letzte Nacht geschlafen?
Silvio Witt: Wie ein Stein, weil die Woche sehr anstrengend und ich noch sehr viel unterwegs war. Ich arbeite ja ganz normal weiter. Erst Ende Mai 2025 lege ich das Amt nieder. Ich möchte einen geordneten Übergang – für die Mitarbeiter:innen und die Stadt. Gestern bin ich ins Bett gefallen und heute fast zu spät aufgestanden.
Und jetzt sind Sie auf dem Weg in den Urlaub.
Ja, das war aber schon lange geplant. Ich besuche einen Freund, mit dem ich zur Schule gegangen bin. Er arbeitet seit mittlerweile 20 Jahren als Architekt in London.
Durch London gehen Sie als Privatperson Silvio Witt – was Ihnen in Neubrandenburg wahrscheinlich nicht so oft gelingt?
Gar nicht. Als ich 2015 ins Amt gekommen bin, hatte ich den naiven Glauben, dass es in Europa-, Bundes- oder Landespolitik härter zugeht, weil über die großen Leitlinien eines Staates entschieden wird. Aber in der Kommunalpolitik geht man doch anders miteinander um. Dass mich die Menschen erkennen, die mich zum Teil auch gewählt haben, ist gar kein Problem. Ich fahre ja auch mit dem Stadtbus zum Rathaus oder laufe zu Fuß durch die Stadt. Ich möchte Teil der Stadtgesellschaft, nahe am Puls von Neubrandenburg sein. Weil die Menschen mir dann auch Dinge erzählen, die uns bei der Arbeit weiterhelfen: wie sie die Stadt sehen, was sie mögen und was nicht.
Es hat mich aber in den letzten Jahren gestört zu bemerken, wie das Klima rauer wurde, und ich ein Gefühl für die Stadt – oder zumindest für die Stadtpolitik – bekommen habe, das ich gar nicht haben wollte.
Fühlen Sie sich überhaupt noch wohl in Neubrandenburg?
Ja, auf jeden Fall. Es gibt hier zehn, fünfzehn Personen, die das politische Klima und somit die städtische Wahrnehmung vergiften. Diese Akteure bereiten einen demokratiefeindlichen Nährboden. Menschen, die politisch nicht so engagiert oder interessiert sind, lassen sich dadurch vielleicht beeinflussen. Mangels demokratischen Gegengewichts.
Zu diesem Gleichgewicht tragen ja auch Medien bei. Sie selbst waren zwischen 2007 und 2009 mal für den Nordkurier tätig. Wie hat sich die Medienlandschaft während Ihrer Amtszeit verändert?
Eigentlich bin ich Betriebswirt. Damals hatte ich mich auf eine Stelle beim Anzeigenkurier beworben und bekam letztendlich eine Art Springerstelle. Mal war ich in einer Lokalredaktion tätig, mal beim Anzeigenkurier. Ich erinnere mich noch gut an ein prägendes Erlebnis, als ich durch den damaligen Chefredakteur bei einer Recherche darin ermutigt wurde, meine Funktion als Journalist wahrzunehmen. Nämlich die Wahrheit zu berichten und das Thema aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten.
Diese Zeiten gibt es beim Nordkurier aus meiner Sicht nicht mehr. Das emphatische Gewissen fehlt, wenn es darum geht, Menschen zu erkennen, zu lesen und mit ihnen umzugehen. Und das muss eine Tageszeitung können.
Dazu muss ja erstmal ein Wille da sein.
Ja, der Wille zu erklären. Ich verstehe schon, dass negative Nachrichten – zum Beispiel als die Stadt mit fast 100 Millionen Euro so hoch verschuldet war – journalistisch reizvoller sind und man fragen kann: Wie kam es dazu? Wer ist daran schuld? Gibt es Fortschritt?
Wir haben aber nach fünf Jahren die Entschuldung geschafft und hatten 40 Millionen Euro Liquidität. Obwohl während meines ersten Wahlkampfes immer infrage gestellt wurde, ob ich Clown überhaupt eine Verwaltung führen könne, die so hoch verschuldet war.
Ich verlange keinen Blumentopf, aber man hätte wenigstens einen gut recherchierten Artikel schreiben und sagen können: Klasse, die im Rathaus haben es geschafft. Aber so funktioniert der Nordkurier nicht mehr. Sie wollen die Menschen nicht für diese Stadt oder für diese Region gewinnen. Sie wollen Stimmung machen.
Flughafen-Durchsage im Hintergrund: Das Boarding für den London-Flug geht los.
Würden Sie zustimmen, dass unsere Gesellschaft generell wenig Konstruktives und mehr Destruktives hat?
Absolut. Auch wenn das jetzt vielleicht ein bisschen spießig klingt, aber ein Staat lebt auch immer von einer Staatsräson. Und davon, dass sich die Menschen auch als Teil dieses Staates, dieser Gesellschaft sehen. Egal, wie kritisch sie der Gesellschaft gegenüberstehen.
Aber durch Protesthaltungen wird immer mehr kultiviert, dass die Menschen sagen: Wir wollen diesen Staat nicht, wir wollen diese Demokratie nicht. Wir holen die Menschen damit nicht zurück in die Gemeinschaft, die zum Beispiel durch das Grundgesetz fest vereinbart ist. Wir dürfen kritisch mit ihr umgehen, aber wir dürfen die Demokratie nicht bekämpfen. Die demokratischen Kräfte sind mir zu leise.
Mal ein Blick in die Vergangenheit. Sie sind seit April 2015 Oberbürgermeister. Damals waren Sie erst 36 Jahre alt. War das ein Problem?
Nein. Ich glaube, es kommt immer auf den Charakter an. Ich habe schon fantastische 18-, 19- oder 20-jährige Männer und Frauen kennengelernt, denen ich das zutrauen würde. Auch, wenn das Alter im politischen Kontext als jung gilt.
Erneute Durchsage auf dem Flughafen. Die ersten Boarding-Gruppen werden aufgerufen.
Also hatten Sie keine Probleme wegen Ihres Alters.
Nein. Die Verwaltung war mir immer wohlgesinnt und ist auch darüber traurig, dass ich gehe. Aber im politischen Raum wurde dann eben nicht sachlich über mich gesprochen, sondern gesagt, ich wäre der Clown, der Kabarettist. Solche Äußerungen gab es zumindest aus einzelnen Kreisen.
Hatten Sie andere Probleme?
In Neubrandenburg ist die Stadtvertretung das Problem. Sie war es auch schon vor der AfD. Ich habe nie mit der AfD verhandelt. Ich begrüße die Politiker:innen, wenn sie den Raum betreten – aber ich gebe ihnen weder die Hand noch paktiere ich mit ihnen. Und alle, die von der Linkspartei mit der AfD paktiert haben, sollten sich fragen, warum die Stimmung in der Stadtvertretung ist, wie sie ist.
In meiner naiven Vorstellung gibt es zwei Gruppen, mit denen Sie sich als Oberbürgermeister hauptsächlich auseinandersetzen müssen. Zum einen die interne Gruppe, also die Stadtverwaltung. Und zum anderen die externe Gruppe, sprich die Bürger:innen. Welche Gruppe ist für Sie herausfordernder?
Keine von beiden. In der Bevölkerung und auch in der Verwaltung gibt es 20 Prozent, die meine Fans sind. Die finden mich immer gut. Und es gibt 20 Prozent, die mich nicht mögen – egal was ich mache. Aber es gibt 60 Prozent, denen ich mehr oder weniger egal bin. Und für die muss ich gute Rahmenbedingungen schaffen. Mein Ziel war es immer, den Menschen, die gerne in der Stadtverwaltung arbeiten, und den Menschen, die gerne in Neubrandenburg leben, diese Rahmenbedingungen zu bieten.
Laura-Isabelle Marisken, die Bürgermeisterin von Heringsdorf, hat uns im Interview mal erzählt, dass sie scherzhaft von ihren Bürger:innen Krisenbürgermeisterin genannt wird. Und auch wenn man auf Ihre Amtszeit zurückblickt, war einiges los. Geflüchtetensituation 2015, Corona 2020, Krieg in der Ukraine 2022, Energiepolitik 2023, jetzt wieder Thema Migration. Sehen Sie sich auch als Krisenbürgermeister?
All die Herausforderungen, die Sie genannt haben, waren, bis auf Geflüchtete, nicht vorhersehbar. Und trotzdem haben wir sie gemeistert, obwohl die Verwaltung nicht einen Mitarbeiter mehr bekommen hat und wir alles mit unserem bestehenden Team leisten mussten. Auch dafür erwarte ich keinen Blumentopf, aber man kann anerkennen, dass die Stadt nicht in Schutt und Asche zerfallen ist. Auch, weil einige das ja behauptet haben, wenn „so ein Clown“ wie ich ins Amt kommt.
Was waren Ihre größten Erfolge als Oberbürgermeister?
Ich verstehe alles, was wir gemacht haben, als Teamleistung. Selbst wenn ich eine Rede gehalten habe, in der ich kritische Themen angesprochen habe, und andere danach gesagt haben, dass ich mutig war, basiert das darauf, dass ich fühlte, dass die Menschen mich unterstützen.
Aber dass wir die Stadt von 93 Million Euro Kassenkredit auf rund 40 Millionen Euro Liquidität schuldenfrei bekommen haben, ist ein großer Erfolg. Wir konnten außerdem das Rathaus sanieren – auch, wenn Kitasanierungen natürlich populärer sind. Aber das war wichtig, weil das Rathaus energetisch eine Katastrophe war.
Wir haben aber auch Schulen saniert und bereits konkrete Pläne für zwei neue Schulen. Wir haben den Bahnhof barrierefrei umgebaut, die Stadthalle saniert und neue Wohnbauten in der Innenstadt realisiert. Außerdem konnten wir die Privatwirtschaft bei der Expansion unterstützen, indem wir Flächen zum Kauf bereit gestellt und Fördermittel akquiriert haben.
Erneute Durchsage: Die nächsten Boarding-Gruppen werden aufgerufen.
Wir haben aber auch eine positive, konstruktive Stimmung erzeugt. Dazu zähle ich auch, dass es deutliche, negative Zeichen zu Migration und Integration gab. Wir sind das Thema aber offenherzig angegangen. Auch, dass es einen gemeinsamen Christopher Street Day der Städte Neubrandenburg und Neustrelitz gibt, ist ein Erfolg. Das sind sogenannte weichen Themen. Es ist uns gelungen, Neubrandenburg als weltoffene, konstruktive und kooperative Stadt darzustellen. Deswegen hat mich der Beschluss zum Verbot der Regenbogenflagge auch so enttäuscht.
Und was ist Ihnen und Ihrem Team nicht so gut gelungen?
Manche Dinge gehen viel zu langsam voran. Transformationsprozesse wie kommunale Wärmeplanung oder Digitalisierung sind noch nicht so zufriedenstellend. Für die Wärmeplanung können wir noch in diesem Jahr den Transformationsplan vorlegen. Der soll zeigen, wie Neubrandenburg bis 2045 schrittweise klimaneutral werden kann. Das sind große, große Schritte – aber die dauern viel zu lange. Gleiches gilt für die Digitalisierung. Damit bin ich unzufrieden.
Aber auch bei einigen Entbürokratisierungsprozessen kommen wir nicht so schnell voran, wie wir uns das vorgestellt haben. Da will ich mich nicht aus der Verantwortung nehmen. Aber ich bin niemand, der cholerisch wird und hektische Flecken bekommt, wenn Dinge mal schieflaufen. Wir sind alle nur Menschen. Das ist normal und kann passieren.
Aber genau das hat mir in der Stadtvertretung auch den Ruf eingebracht, dass ich zu soft sei. Dass nicht ich die Stadtverwaltung führe, sondern sie mich.
Eine erneute Durchsage. Oberbürgermeister Witt geht in Richtung Flughafentoiletten, wo es etwas leiser zu sein scheint.
Stichwort Stadtvertretung. Wir haben deren letzte Sitzung verfolgt und hatten eigentlich den Eindruck, dass Sie fest im Sattel sitzen. Stand Ihre Entscheidung, zurückzutreten, zu dem Zeitpunkt schon fest?
Ich habe mich schon seit einem Jahr damit beschäftigt. Zu meinen persönlichen Gründen möchte ich nichts sagen. Aber ich will diese Gelegenheit nutzen, um über das politische Klima in der Stadt und vielleicht auch in Deutschland zu reden.
Wer genau hingeschaut hat, konnte das Narrativ des schwulen Bürgermeisters schon lange erkennen, das immer wieder aufkam. Ja, ich bin ein Bürgermeister, der schwul ist. Und ich führe eine Verwaltung – aber ich führe nicht schwul eine Verwaltung. Ich schreibe keine schwulen Beschlussvorlagen oder baue schwule Spielplätze oder Schulen. Aber Teile der Stadtvertretung haben das eben genauso dargestellt. Und so war das eben auch eine schwule Regenbogenflagge. Eine schwule Regenbogenflagge des schwulen Bürgermeisters.
Und Tim Großmüller1 sagt, er habe sein Ziel erreicht, weil ich zurückgetreten bin. Dass es ihm nicht um die Flagge ging, sondern darum, dass ich sie wahllos hinhänge. Die AfD sowie Teile des BSW sind außerdem voller Hass gegen mich. Und genau dieses Klima hat diese Stadtvertretung vorher schon mitgetragen. Die demokratischen Kräfte von SPD, CDU, Grüne, FDP, ja sogar teilweise der Linkspartei, die sogar mit der AfD koaliert hat, waren viel zu schwach.
Was erlaubt sich zum Beispiel eine linke stellvertretende Stadtpräsidentin zu behaupten, der Oberbürgermeister mobbt Mitarbeiter:innen? Das tat sie in einer Sitzung, in der meine Amtseinführung stattfinden sollte. Aber niemand hat mal Druck ausgeübt und gesagt: Meine Fraktion macht so nicht weiter, bis das aufgeklärt ist. Die demokratischen Kräfte haben das einfach durchgehen lassen. Sie waren viel zu leise und haben es möglich gemacht, dass ein Tim Großmüller so einen Wahlkampf führen konnte.
Die Stadtvertretung konnte sich nicht mal vor der Sitzung darauf verständigen, dass so ein Krawallmacher, der im Wahlkampf Karikaturen der demokratischen Parteien benutzt hat, durchkommt. Sie haben es nicht möglich gemacht, den Schweriner Weg2 zu gehen und zu sagen: Selbst wenn Großmüller vorschlagen würde, 1.000 Blumen am Tag zu pflanzen, wir lehnen das ab, weil der Vorschlag von ihm kommt.
Sylvia Bretschneider, die verstorbene Landtagspräsidentin, war damals so konsequent. Sie hat gesagt: Von links bis CDU – wir dürfen der NPD keinen Platz lassen in diesem Parlament. Und da würde ich gern mal von den Fraktionen der Stadtvertretung wissen, warum sie das nicht gemacht haben.
Mich hat der Beschluss zur Regenbogenflagge und Ihr Rücktritt getroffen, weil es bestärkende Zeichen für all jene sind, deren Politik ähnlich wie die von Großmüller aussieht.
Ich sage Ihnen ganz selbstbewusst: Neuneinhalb Jahre habe ich die Kohlen aus dem Feuer geholt wegen solcher Leute. Ich habe offene Briefe geschrieben und mich positioniert. Jetzt habe ich aber ein deutliches Zeichen gesetzt: Ihr müsst das jetzt machen. Ihr seid als Stadtgesellschaft gefordert. Mein Rücktritt ist dennoch privater Natur. Irgendwann später, wenn alles erledigt ist, kann ich was dazu sagen.
Mittlerweile wurde die Boarding-Gruppe von Silvio Witt aufgerufen. Der OB steht jetzt in einer Warteschlange.
Was wünschen Sie sich für Neubrandenburg?
Ruhe, Besonnenheit und klare Linien. Dass man Populist:innen keinen Millimeter lässt. Das gilt auch für die AfD-Politik. Ich halte die AfD nicht für eine demokratische Partei. Das heißt aber nicht, dass das zwangsläufig auch für deren Wähler:innen gilt. Aber wenn man diese Politik salonfähig macht, verheißt das nichts Gutes.
Was wünschen Sie sich für sich selbst?
Wieder ein bisschen mehr Silvio sein zu können.
Heißt das, der neue Silvio bleibt in Neubrandenburg?
Ja, das ist erst mal mein Ziel. Ich habe aber noch keinen Plan, was ich ab Juni mache. Das ist auch nicht schlimm. Ich bin bisher immer gut damit klar gekommen, für mich selbst zu sorgen.
Dann erstmal guten Flug.
Dieser Beitrag erschien erstmalig in Ausgabe 37 von KATAPULT MV.
- Fraktionsloser Stadtvertreter, der die Beschlussvorlage zum Verbot der Regenbogenflagge am Bahnhofsvorplatz eingereicht hat.
↩︎ - Als Schweriner Weg wird eine politische Strategie des Landtags MV bezeichnet, die die grundlegende Ablehnung aller durch die NPD eingereichten Anträge vorsah. Das Ziel war es, die Demokratie zu beschützen.
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