Etwa 30 bis 45 Minuten verbringt Kinderarzt Steffen Büchner derzeit zusätzlich am Telefon. Er spricht mit Apotheken über dringend benötigte Medikamente für seine kranken Patient:innen. „Ich telefoniere jeden Tag, um herauszufinden, was sie in der Apotheke heute haben und ob das zur jeweiligen Behandlung passt“, berichtet Büchner. Zeit, die an anderer Stelle für die Versorgung der Patient:innen fehlt. Momentan kaum bis gar nicht zu bekommen: Antibiotika. Dabei werden diese gerade überall gebraucht. Besonders kritisch ist die Situation bei Antibiotikasäften für Kinder, berichtet der Mediziner.
Büchner ist auf die Behandlung von Kindern und Jugendlichen spezialisiert, arbeitet in seiner Praxis in Güstrow. Seit Januar, berichtet er, zeigen sich die Auswirkungen einer großen und langanhaltenden Scharlachwelle, nicht nur durch die vielen Kranken, sondern auch durch fehlende Medikamente. So wäre die erste Wahl bei Scharlach das Antibiotikum Penicillin, doch dieses gebe es derzeit gar nicht mehr, so Büchner. Weder als Saft noch als Tablette. Das bestätigen auch Francie Ulbricht und Franziska Pritzke. Beide arbeiten als pharmazeutisch-technische Assistentinnen in der Greifswalder Apotheke im Elisenpark. „Penicillintabletten sind seit Monaten nicht lieferbar“, sagt Ulbricht. Und Saft kommt höchstens mal „tröpfchenweise“ rein, ist dann aber schnell wieder verbraucht. Wenn sich Krankheitswellen so lange hinziehen wie seit Monaten der Scharlach, seien dann irgendwann eben keine Medikamente mehr vorhanden.
„Raubbau an der Zukunft“
Kinderarzt Büchner muss bei seinen Patient:innen vermehrt abwägen, ob die Erkrankung den Einsatz von Antibiotika zwingend verlangt oder es auch ohne die Präparate geht. Geht es nicht ohne und ist obendrein kein Penicillin vorhanden, muss Büchner auf andere Antibiotika umschwenken. Häufig auf solche, „die für das Alter oder das Krankheitsbild eigentlich nicht vorgesehen sind“, sagt er. Alternativ kommen manchmal auch sogenannte Ersatz- beziehungsweise Reserveantibiotika zum Einsatz. Diese finden eigentlich bei der Therapie von Infektionen Anwendung, die durch gegen gängige Antibiotika resistente Bakterien ausgelöst werden. Die Risiken einer solchen Behandlung kennt Büchner genau und informiert auch die betroffenen Eltern transparent darüber. So treten beispielsweise stärkere Nebenwirkungen auf. Und auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Erkrankung nicht richtig austherapiert werde, erhöhe sich, erklärt er. Speziell in Bezug auf Reserveantibiotika gibt er zu bedenken, dass durch den Einsatz zukünftige Resistenzen gefördert werden können. Dadurch werde „Raubbau an der Zukunft“ betrieben, warnt Büchner.
Zahl der Engpässe mehr als verdreifacht
Auch an der Universitätsmedizin Greifswald (UMG) muss verstärkt auf Ersatzantibiotika zurückgegriffen werden, bestätigt Pressesprecher Christian Arns auf Anfrage. Und unterstreicht das von Büchner benannte Risiko: Die Verwendung solcher Antibiotika mit einem für die jeweilige Erkrankung zu umfangreichen Wirkspektrum erhöht die Gefahr von Resistenzen.
Ebenso wie in Büchners Praxis stellt der Medikamentenmangel auch die Belegschaft der UMG vor „erhebliche Herausforderungen“. Lange hätten die Mitarbeiter:innen der Uniapotheke unter erheblichem Einsatz verhindern können, dass Medikamente nicht mehr verfügbar sind. Ausfälle seien nun aber nicht mehr abzuwenden. Die Lage habe sich mittlerweile „insgesamt erheblich verschärft“, betont Arns. Sehr deutlich zeige sich das an der Zahl der dokumentierten Lieferengpässe. Erfasste die Klinik 2013 noch 301 Fälle, so waren es im vergangenen Jahr mehr als dreimal so viele – insgesamt 1.057. Für das laufende Jahr sind es bereits 430, was hochgerechnet für 2023 erneut eine Steigerung ergeben würde.
Am stärksten betroffen von der aktuellen Situation sind an der UMG ebenfalls antibiotikahaltige Säfte für Kinder – über alle Wirkstoffe hinweg. Dazu nennt die UMG „weitere Antibiotikavarianten, fiebersenkende und schmerzlindernde Zäpfchen für Kinder, hustenstillende Präparate sowie Mittel gegen Herzinsuffizienz und bei Herzrhythmusstörungen“ als besonders von Ausfällen betroffen. Es fehlen demnach nicht nur im Kinder- und Jugendbereich Medikamente. Auch für Erwachsene sind bestimmte Präparate nur schwer und unter enormem Aufwand zu bekommen. Die Mangellage bei den für Kinder vorgesehenen Medikamenten ist also nur „die Spitze des Eisbergs“, weiß auch Büchner.
Einen Überblick, welche Medikamente MV-weit besonders schwer lieferbar sind und welche es wie sehr betrifft, gibt es nicht. Weder das Gesundheitsministerium MV noch die Landesapothekerkammer führen eine Liste der Lieferengpässe. Es gebe dafür kein „Barometer“, erklärt Bernd Stahlhacke, Geschäftsführer der Apothekerkammer. Zudem hängen Engpässe bei Medikamenten auch von den jeweiligen Apotheken und deren Bevorratung sowie der regionalen Ausbreitung verschiedener Krankheiten ab. Deutschlandweit erfasst das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte online gemeldete Lieferengpässe. Am 26. Juni waren dort 493 Einträge verschiedenster Medikamente und Wirkstoffe aufgeführt. Darunter Penicillin, Insulin oder das Antiepileptikum Clonazepam.
Engpass schon im letzten Herbst und Winter
Obwohl auch MV von auftretenden Lieferengpässen betroffen ist, und das nicht zum ersten Mal, beruhigt das Gesundheitsministerium auf Nachfrage: Der Mangel an bestimmten Medikamenten bedeute „in der Regel nicht, dass Patientinnen und Patienten keine ausreichende Versorgung mit geeigneten Arzneimitteln erfahren“. Vielmehr kämen dann „andere geeignete Medikamente oder alternative Therapien in Betracht“, so ein Pressesprecher. Auch die UMG spricht – unter der Voraussetzung einer „enormen Anstrengungen seitens der Apotheke sowohl bei der Beschaffung als auch bei der Kommunikation“ – von einer umfassend gewährleisteten Versorgung im Haus.
Dabei ist die Situation nicht neu. Bereits im vergangenen Herbst und Winter war eine Erkältungswelle über MV hereingebrochen. „Fast jeder war krank“, erinnert sich Francie Ulbricht von der Apotheke im Elisenpark. Auch damals kam es bereits zu Lieferengpässen und infolgedessen zu einem Mangel an bestimmten Medikamenten. So fehlten Fiebermedikamente, etwa Ibuprofen und Paracetamol. Dabei ebenfalls besonders betroffen: Säfte und Zäpfchen zur Versorgung kranker Kinder. Sie hätten Patient:innen in dieser Zeit mitunter an eine andere Apotheke in Greifswald verwiesen, die die erforderlichen fiebersenkenden Präparate selber herstellte, erzählt Ulbricht. Das sei aber dann auch entsprechend teurer gewesen. Andere, wissen sie und ihre Kollegin Pritzke, fuhren für die Fiebersäfte nach Polen.
„Kreative Recherche“ in den Apotheken
Welchen Aufwand nicht nur Ärzt:innen wie Steffen Büchner, sondern auch die Apotheken selbst betreiben, um eine ausreichende Versorgung mit Medikamenten zu gewährleisten, können Ulbricht und Pritzke aus ihrem Alltag bestätigen. Es gebe durch die aktuelle Lage in den Apotheken „unheimlich viel zu tun“, weiß auch Kammerchef Stahlhacke. Damit ist nicht nur die Suche gemeint, die beginnt, wenn ein Medikament als nicht lieferbar angezeigt wird. „In meinem Kopf starten dann sofort die kreativen Überlegungen“, sagt Pritzke. Die „kreative Recherche“ beginnt zumeist bei kleineren Packungsgrößen, in Absprache mit den Patient:innen schaue sie nach anderen Herstellern, anderen Stärken, die sich womöglich zur verschriebenen Menge teilen lassen.
Sind diese Maßnahmen nicht erfolgreich, rufen sie im nächsten Schritt auch bei anderen Apotheken oder sogar den Herstellern an. Manchmal sei dort noch etwas vorrätig. Im schlechtesten Fall muss Rücksprache mit den behandelnden Ärzt:innen gehalten werden, um gegebenenfalls auf ein anderes Medikament, einen anderen Wirkstoff umzustellen. „Wir haben das Gefühl, dass sich die Engpässe auch auf die Arbeit der Arztpraxen auswirken – durch die vielen Rückfragen von Apotheken und Patient:innen“, erzählt Pritzke. Jemanden dort ans Telefon zu bekommen, sei teilweise schwierig. Apotheken dürfen Wirkstoffe nur in Absprache mit den behandelnden Mediziner:innen umstellen, was solche Telefonate, wie sie auch Steffen Büchner von der „anderen Seite“ her kennt, zwingend erfordert.
Solche Vorgänge den Patient:innen zu vermitteln, gehört ebenfalls zu den Aufgaben von Praxen und Apotheken. Sowohl Büchner als auch Ulbricht berichten von unterschiedlichen Reaktionen der Eltern und Patient:innen. Bei ihm reiche es von Kopfschütteln über Unverständnis bis hin zur Angst vor Versorgungsengpässen, schildert Büchner. In ihrer Apotheke nehme ein Teil der Kund:innen solche Nachrichten gut auf, manche haben vielleicht auch schon von diesen Problemen gehört, sagt Ulbricht. Andere wiederum reagierten durchaus emotional.
Besonders schwierig sei die Kommunikation etwa, wenn ein „Hopping“ von einer Firma zu einer anderen nötig wird, erklärt Pritzke. So kommt es vor, dass sie Patient:innen in der Apotheke aufgrund eines Medikamentenmangels von einem anderen Präparat eines anderen Herstellers überzeugen. Aber beim nächsten Mal ebendieses auch nicht mehr verfügbar ist, also erneut zu einem anderen gewechselt werden muss. Gerade für ältere Menschen, die seit Jahrzehnten bestimmte Medikamente einnehmen, sich etwa an Form und Farbe orientieren, sei dies für die „Sicherheit der Einnahme problematisch“. „Wir versuchen unser Bestes, die Patienten zu versorgen“, betont Ulbricht. In der aktuellen Situation sei das aber „sehr schwer geworden“.
Einfuhrerlaubnis für Antibiotikasäfte „genau der richtige Schritt“
Um Mangellagen so gut es geht vorzubeugen, bestellt Ulbricht für ihre Apotheke im Großhandel grundsätzlich vor. Erst anzufragen, wenn tatsächlich wieder eine Menge lieferbar ist, sei zu spät. Derzeit laufen über 200 Reservierungen verschiedener Medikamente. „Wer zuerst bestellt, bekommt auch als Erstes“ – so sei das Prinzip.
„Hätte ich vor drei Jahren Eltern erzählt, dass sie für ihre Kinder keine Fieberzäpfchen mehr kriegen, hätte man mich für verrückt erklärt“, kommentiert Bernd Stahlhacke die Situation. Dabei sei er froh, dass die Probleme jetzt zumindest – auch von der Politik – wahrgenommen würden. So sei das Landesgesundheitsministerium glücklicherweise zu der Einschätzung gelangt, dass der Mangellage „auch mit der größten Fantasie“ nicht mehr beizukommen sei, erklärt Stahlhacke. Anfang Mai erließ das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lagus) eine Allgemeinverfügung, nachdem das Bundesgesundheitsministerium den Mangel offiziell festgestellt hatte. Demnach ist die Einfuhr von in Deutschland eigentlich nicht zugelassenen oder registrierten antibiotikahaltigen Säften für Kinder nun abweichend vom Arzneimittelgesetz bis zum 31. Juli gestattet. Dabei kann es sich beispielsweise um Produkte handeln, die keine auf Deutsch beschriftete Verpackung oder Beipackzettel besitzen. Die Verfügung verpflichtet Apotheken bei Abgabe dieser Medikamente jedoch, einen deutschen Beipackzettel beizugeben.
Für das Landesgesundheitsministerium verbindet sich mit der Verfügung die Hoffnung, Patient:innen nun wieder umfänglicher versorgen und die entstandenen Engpässe abmildern zu können. Ähnlich sehen das auch Kinderarzt Steffen Büchner sowie Francie Ulbricht und Franziska Pritzke in der Greifswalder Apotheke. Das sei „genau der richtige Schritt in dieser Krise“, kommentiert Büchner. Da es sich bei den jetzt einführbaren Produkten um genau die gleichen handelt, die auch bisher auf dem deutschen Markt verfügbar waren, lediglich die Beschriftung oder der Beipackzettel sich unterscheidet, habe er damit „keine Bauchschmerzen“. Auf solche Produkte zurückzugreifen, sei definitiv „weniger risikoreich, als Ersatzantibiotika zu verwenden“.
Vorsorgliche Bevorratung nun erlaubt
Die Allgemeinverfügung sei ein „guter Schritt“, sagt auch Ulbricht. Das „deutsche Medikament“ gebe es sowieso nicht, weiß Pritzke. Kaum ein Präparat werde noch in Deutschland hergestellt. Es werde lediglich durch die Hersteller für unterschiedliche Länder verpackt. Allerdings war es auch schon vorher erlaubt, solche Produkte nach MV einzuführen, erklärt Ulbricht weiter. Jedoch lediglich im speziellen Einzelfall für eine:n Patient:in. Und auch nur dann, ergänzt Bernd Stahlhacke, wenn es das verschriebene Medikament wirklich nicht mehr gibt und es auch nicht durch ein vergleichbares ersetzt werden kann. Diese Möglichkeit hätten sie in der Greifswalder Apotheke auch schon genutzt. Etwa für Patient:innen in der Krebstherapie, die ein Antibiotikum langfristig einnehmen müssten.
Die Allgemeinverfügung des Lagus ändert demnach nur, dass Apotheken oder der Großhandel solche antibiotikahaltigen Säfte nun auch präventiv bevorraten dürfen. Das war vorher eben nicht möglich, sagt Kammergeschäftsführer Stahlhacke. Es gebe zu diesem Schritt der Landesregierung aus seiner Sicht verschiedene Auffassungen. Als „Feuerlöscher“ sei die Regelung okay, findet er. Es brauche jedoch auch eine langfristige Lösung. Man müsse sich Gedanken darüber machen, wie solche Mangellagen zukünftig verhindert werden können. Zudem stelle sich die Frage, woran genau es liegt, dass aus anderen Ländern Medikamente nach Deutschland abgezogen werden können. Haben die EU-Nachbarn einfach noch so viel verfügbar, dass die Nachfrage aus Deutschland gut gedeckt werden kann, oder wird damit jetzt ein neuer Preiskampf um auch dort knappe Ressourcen losgetreten? Zumindest was die Antibiotika betrifft, ist laut Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach mittlerweile „in ganz Europa (…) ein Lieferengpass (…) zu sehen“.
Rabattierung und Zentralisierung als Auslöser
Es sei unter anderem ein ebensolcher Preiskampf, der zur aktuellen Misere geführt habe, ist Steffen Büchner überzeugt. Ein „hausgemachtes Problem“. So handeln die Krankenkassen regelmäßig Rabattverträge mit den Herstellern bestimmter Medikamente aus, erklärt er. Bei der Ausschreibung dieser Verträge zeige sich dann der Preiskampf, sagt Ulbricht. Der Hersteller mit dem niedrigsten Angebot gewinnt den Vertrag mit der jeweiligen Kasse. Für viele Firmen rechnet sich dieses Prinzip nicht, mitunter ziehen sie sich von dem betreffenden Produkt zurück. Dass es den deutschen Markt auch insgesamt für Hersteller unattraktiv macht, die Anreize fehlen beziehungsweise es nicht wirtschaftlich genug ist, Medikamente überhaupt herauszubringen, geht damit ebenso einher. So werde die Produktion bestimmter Medikamente und Wirkstoffe auf immer weniger Füße gestellt, erklärt Pritzke. Ein Beispiel: Mittlerweile gibt es hierzulande nur noch zwei Hersteller von paracetamolhaltigen Fiebersäften.
Existieren nur noch wenige Produzenten für ein Medikament und kämpfen diejenigen mit Rabattpflicht gegenüber den Kassen dann mit Lieferproblemen, so könne das in einen Medikamentenmangel münden. Denn: Für die ausfallenden Lieferungen des Originalherstellers müssen nun die anderen einspringen, können dies jedoch meist nicht in der benötigten Menge. Je weniger Hersteller es also gibt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, Ausfälle auffangen zu können.
Hinzu kommen die Zentralisierung vieler Wirkstoffproduktionen und die extrem langen und monopolisierten Lieferketten. Ulbricht nennt ein Beispiel: An nur sechs Standorten weltweit wird derzeit überhaupt der Wirkstoff Ibuprofen gewonnen. Damit muss die ganze Welt versorgt werden. Als vor Jahren ein Feuer in einer der Produktionsstätten ausbrach, habe sich das auch bei ihnen in der Apotheke sofort bemerkbar gemacht. Entsprechende Präparate waren nicht mehr zu bekommen. Zwar habe es gerade für die Hersteller enorme Vorteile, die Produktion so zu konzentrieren – vor allem aus Kostengründen. Es mache das System aber eben auch anfälliger und „verschärfe das Problem“, wie das Gesundheitsministerium schreibt.
Und, was nicht vergessen werden dürfe, wirft Pritzke ein, mit dem Wirkstoff ist die Tablette oder der Saft ja noch nicht hergestellt. Es braucht noch weitere Zutaten, die „die Tablette zur Tablette machen“. Dazu kommen die Materialien für die Flasche und die Verpackung. Dafür reisen die Bestandteile dann noch weiter um den Globus, bis schlussendlich ein fertiges Medikament samt Verpackung existiert, so Stahlhacke. Jede Strecke dieses Weges, jeder neue Punkt in der Lieferkette, mache diese anfälliger. Etwa für Lieferverzögerungen. Am Ende gipfelt alles dann noch in den Rabattverträgen, sagt Pritzke, die ihr Übriges beitragen, das System, wie Stahlhacke es formuliert, „kaputtzusparen“.
Rückkehr nach Europa
Wie geht es nun, auch über die kurzfristige Lösung des Landesgesundheitsministerium hinaus, weiter? Eine Frage, die sich die politisch Verantwortlichen stellen lassen müssen. Gerade auch vor dem Hintergrund, dass Kinderärzt:innen wie Steffen Büchner jetzt schon wieder voraus gen Herbst und Winter blicken. So habe die Corona-Pandemie einiges durcheinandergewirbelt, resümiert der Arzt. Nicht nur die Vorhersagbarkeit von Erkrankungswellen habe sich aus seiner Sicht wesentlich verschlechtert. Dazu fallen diese, wie an der Erkältungs- und Scharlachwelle zu sehen, stärker aus und halten länger an. Das Gesundheitsministerium müsse deshalb schon jetzt Pläne für die nächste Saison liefern, fordert Büchner.
Das Landesgesundheitsministerium beruft sich dahingehend auf das Bundesministerium und den von diesem vorgelegten Gesetzentwurf, das sogenannte Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz. Es wurde bereits im April vom Kabinett beschlossen und enthält von Minister Lauterbach vorgeschlagene Maßnahmen – etwa die Herausnahme von Kinderarzneimitteln aus der Rabattierung oder die bessere Berücksichtigung von Antibiotika mit Wirkstoffproduktionen in Europa. Nach einer Sitzung des Bundesrates am 12. Mai zum entsprechenden Entwurf, in deren Folge dieser unter anderem die Erarbeitung einer „langfristigen Strategie“ „unter Einbeziehung der Pharmabranche“, aber auch die Prüfung einer „angemessenen Vorhaltung von versorgungsrelevanten Arzneimitteln“ und ein Frühwarnsystem für die Versorgung in Deutschland forderte, lag die Entscheidung dann beim Bundestag. Dieser stimmte vergangenen Freitag für den Gesetzentwurf der Bundesregierung in einer vom Gesundheitsausschuss geänderten Fassung.
Die Rückkehr von Herstellern und Fertigung nach Europa wird auch vom Landesgesundheitsministerium als wichtiger Schritt angesehen. Mit dem neuen Gesetz des Bundes könnten so die nötigen auch finanziellen Anreize für die Unternehmen geschaffen werden, heißt es. Und die braucht es auch, sind sich Pritzke und Stahlhacke einig. Schließlich sind etwa die Lohnkosten in Europa ganz andere als beispielsweise in Asien, wo derzeit viele Wirkstoffe herkommen. „Es wäre gut, solche Produktionen nach Europa zu verlegen“, sagt der Kammerchef. Und dennoch sei die Pharmaindustrie natürlich dem Weltmarkt unterworfen. Es könne kein uneigennütziges Handeln der Unternehmen erwartet werden. Das sieht auch das Gesundheitsministerium so: Zur Wahrheit gehöre, „dass niemand die Industrie zwingen kann, diese Anreize auch zu nutzen“.
In Frankreich gibt es mittlerweile einen ersten Schritt hin zu einer europäischen Produktion von Paracetamol. So baut das Unternehmen Seqens dort aktuell eine entsprechende Industrieanlage südlich von Lyon, die nach eigenen Angaben 2024 fertiggestellt und 2026 die erste Charge liefern soll. Sie wäre dann die einzige in Europa.
Dieser Artikel erschien in KATAPULT MV-Ausgabe 20. Er wurde am 26. Juni aktualisiert und ergänzt.
Quellen
- Telefonat mit Steffen Büchner am 8.5.2023.↩
- Deutsches Zentrum für Infektionsforschung (Hg.): Reserveantibiotikum, auf: dzif.de.↩
- E-Mail der Universitätsmedizin Greifswald vom 9.5.2023.↩
- E-Mail der Universitätsmedizin Greifswald vom 10.5.2023.↩
- E-Mail vom Ministerium für Soziales, Gesundheit und Sport MV vom 11.5.2023.↩
- Telefonat mit Bernd Stahlhacke am 11.5.2023.↩
- PharmNet.Bund (Hg.): Veröffentlichte Lieferengpassmeldungen, auf: anwendungen.pharmnet-bund.de (Stand 26.6.2023).↩
- Landesamt für Gesundheit und Soziales MV: Allgemeinverfügung zur Umsetzung der Bekanntmachung des Bundesministeriums für Gesundheit (…) bzgl. des Versorgungsmangels mit antibiotikahaltigen Säften für Kinder, auf: lagus.mv-regierung.de (8.5.2023).↩
- Bundesministerium für Gesundheit (Hg.): Arzneimittel-Lieferengpässe – Lauterbach: Wir brauchen eine gesamteuropäische Lösung, auf: bundesgesundheitsministerium.de (5.5.2023).↩
- Bundesministerium für Gesundheit (Hg.): Bundeskabinett beschließt Gesetzentwurf zur Bekämpfung von Lieferengpässen, auf: bundesgesundheitsministerium.de (5.4.2023).↩
- Bundesrat (Hg.): Lieferengpässe bei Arzneimitteln – Bundesrat fordert langfristige Strategie, auf: bundesrat.de (12.5.2023).↩
- Deutscher Bundestag (Hg.): Bundestag stimmt für Frühwarnsystem gegen Medikamentenmangel, auf: bundestag.de (23.6.2023).↩
- Seqens (Hg.): Seqens chooses to reshore Paracetamol production in France : work on the future plant has begun, auf: seqens.com (16.1.2023).↩
- Finkenzeller, Karin; Salz, Jürgen: Deutschlands Dealer: Ohne China keine Pillen, auf: wiwo.de (29.8.2022).↩