Diskussionsgespräch zur Asylpolitik

Arbeiten in einem fremden Land – Wie kann es funktionieren?

Der Flüchtlingsrat Mecklenburg-Vorpommern hat heute zu einem Flüchtlingsgipfel im Justizministerium eingeladen. Damit will der Verein die Perspektive der Flüchtlingshilfe in der Debatte um Migration und Flucht stärker einbringen. Vor allem gehe es darum, die Möglichkeiten im Land auszuloten, sagte Ulrike Seemann-Katz, Organisatorin und ehrenamtliche Geschäftsführerin des Landesflüchtlingsrates. Im Vorfeld hat KATAPULT MV mit ihr, Peter Todt, dem stellvertretenden Hauptgeschäftsführer der IHK zu Schwerin und Fabian Scheller, dem Geschäftsführer der DGB Region Rostock-Schwerin, gesprochen.

KATAPULT MV: Welche Bedeutung hat der Arbeitsmarkt für Geflüchtete? 

Ulrike Seemann-Katz: Es ist so, dass Geflüchtete natürlich auch ein Recht auf Arbeit haben. Es ist ein Menschenrecht, dass man arbeiten darf und es bedeutet, dass man aus der Finanzierung durch den Staat rauskommt. Die Asylbewerberleistungen, die man während des Asylverfahrens beispielsweise bekommt, liegen ja unter dem Bürgergeld. Asylbewerber:innen können nicht entscheiden, wo sie wohnen, wenn sie noch im Asylverfahren sind. Wenn dann die Arbeitserlaubnis da ist, geht das aber. Arbeit hat auch den Wert für Geflüchtete als Teilhabe an unserer Gesellschaft.

Man ist dann in Kontakt mit der übrigen Gesellschaft und verkümmert nicht in einer Unterkunft. 

Was kann die Wirtschaft tun, um Integration und Aufnahme in unsere Gesellschaft zu ermöglichen?

Peter Todt: Jeder, der zu uns kommt, ist eine eigene Persönlichkeit und diese muss unterstützt werden. Wichtig ist, dass die Menschen in ihrem Selbstwertgefühl wahrgenommen werden und an der Gesellschaft teilnehmen können. Wenn der Geflohene in seiner Persönlichkeit wahrgenommen wird, wenn er mitgenommen wird, dann wird er auch motiviert.

Fabian Scheller: Es geht darum, eine Willkommenskultur zu schaffen, in der sich geflüchtete Menschen wohlfühlen und in der sie auch auf den Arbeitsmarkt zugehen können. Gleichzeitig brauchen wir aber eine Offenheit der Beschäftigten im Betrieb. Da ist das klassische Beispiel die Sprachbarriere. Sprachbarrieren gibt es auch in beide Richtungen. Viele Geflüchtete können gut Englisch sprechen, aber in unseren Betrieben ist Englisch als Zweitsprache nicht so weit verbreitet. Mehr Offenheit für mehr Sprachkompetenz aller Beschäftigten wäre hilfreich. Für uns als Gewerkschaft ist wichtig, dass die Willkommenskultur am Arbeitsmarkt gut funktioniert. Niemand flüchtet aus Langeweile, die Leute flüchten, weil sie vor Krieg und Gewalt fliehen. Sie sollen hier in Arbeit kommen, von der sie gut leben können, wo sie gute Bedingungen haben und wo sie nicht in neue Abhängigkeiten geraten.  Uns ist es wichtig, dass sie keine Arbeitnehmer:innen zweiter Klasse sind.

Hat die Wirtschaftsstruktur in Mecklenburg-Vorpommern, viele kleine und mittlere Betriebe, den Vorteil, dass Flüchtende schneller Beschäftigung finden?

Todt: Es gilt für kleine wie große Unternehmen gleichermaßen: Unsere Unternehmen in der Region können nur dann Produkte auf den Markt und Dienstleistungen an die Kunden bringen, wenn sie von entsprechender Qualität sind. Um diese Qualität zu erreichen, braucht es Fachkräfte, also bestens qualifizierte Arbeitskräfte. Ohne sie funktioniert es nicht, funktioniert die ganze Wirtschaft nicht. Wenn ich als Unternehmer offen bin und Geflüchtete beschäftige, dann ist dieser oder diese auch wie jeder andere ein Arbeitnehmer in meinem Unternehmen, mit allen Rechten und Pflichten.

Welche Hindernisse müssen überwunden werden, um Geflohene zu beschäftigen?

Todt: Das entscheidende Hindernis sind natürlich die Arbeits- und die Aufenthaltserlaubnis. Wenn diese rechtliche Grundlage gegeben ist, dann kann es losgehen. Wenn diese rechtliche Grundlage nicht gegeben ist, sagen wir natürlich ganz klar als Wirtschaftsvertreter: Vorsicht, davon ist dringend abzuraten!

Seemann-Katz: Das ist richtig, weil es ja strafbar ist, Menschen, die keine Arbeitserlaubnis haben, zu beschäftigen. Das kann für den Unternehmer teuer werden und für den Geflüchteten, wenn er arbeitet, obwohl er keine Arbeitserlaubnis hat. Die Arbeitserlaubnis ist die erste Hürde, die man nehmen muss.  Als ich mit der Flüchtlingsarbeit angefangen habe, durften Menschen im Aufnahmeverfahren überhaupt nicht arbeiten. Dann wurde es verkürzt auf vier Jahre, ferner gab es die Vorrangsprüfungen, ob nicht ein deutscher oder ein EU-Bürger oder ein sonstiger Ausländer mit dem vollständigen Zugang zum Arbeitsmarkt die Arbeit hätte machen können. 

Das hat sich geändert und man kann nach drei Monaten, wenn man in der Kommune untergebracht ist, arbeiten. Schon vorher kann man eine Beratung durch die Agentur für Arbeit in Anspruch nehmen, wenn man aus bestimmten Herkunftsländern kommt. Da gibt es immer noch bei bestimmten Herkunftsländern eine Ausgrenzung. Aber die „normalen“ Fluchtländer, die wir zurzeit haben, Syrien, Afghanistan, Türkei, und eine große Anzahl von Menschen kommen im Moment aus der Türkei, die dürfen alle relativ schnell arbeiten. Da kommen Individuen. Es sind keine Zahlen, die da kommen. Die Menschen kommen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen, manche sehr gebildet, manche weniger gebildet. 

Aus der Ukraine sind es über 22.000 Geflüchtete, die in Mecklenburg-Vorpommern sind. Sie könnten quasi vom ersten Tag an bei uns arbeiten?

Seemann-Katz: Wenn sie das Niveau erfüllen. Zum Beispiel, ein ukrainischer Jurist oder eine Juristin, kann hier nicht arbeiten, weil unser Rechtssystem gänzlich anders ist. Bei der Medizin ist es wieder einfacher, weil der menschliche Körper in der Ukraine und Deutschland gleich ist. So muss man das runterbrechen. Elektriker zum Beispiel müssen deutsche Industrienormen und verschiedene Vorschriften dann noch lernen.

Scheller: Und dann gibt es noch Sekundärthemen wie beispielsweise die Kinderbetreuung. Viele Ukrainerinnen sind mit Kindern gekommen und auf dem Arbeitsmarkt muss man natürlich auch so flexibel sein. Eine alleinerziehende Mutter, wenn der Mann vielleicht in der Ukraine an der Front steht, ist erstmal auf sich allein gestellt. Da gibt es zwar Gemeinschaften, die versuchen Lösungen zu finden, aber der Arbeitsmarkt steht natürlich alleinerziehenden Müttern nicht unkompliziert offen.

Noch eine Bemerkung zur Beschäftigung im produzierenden Gewerbe: Wir haben das Projekt Correct für eine Beratung ausländischer Beschäftigter. Verschiedene Muttersprachler:innen beraten ausländische Beschäftigte und sie sind mittlerweile hochfrequentiert. Es geht um Rechtsfragen rund um die Arbeitswelt.

Seemann-Katz: Das Projekt Correct wird vom Land gefördert und wir haben das vom Bund geförderte Projekt Faire Integration. Es gibt auch Beratung für Menschen, deren Aufenthaltstitel von der Arbeit abhängig ist. Diese Menschen wenden sich oftmals nicht an Arbeitgeber oder Gewerkschaften, weil sie Angst haben, den Aufenthaltstitel zu verlieren. Der ist abhängig davon, dass man beschäftigt ist. Wir beraten, wie man im Aufenthaltsrecht möglicherweise einen anderen Status bekommen und den Arbeitgeber wechseln kann.

„Fachkräfte gesucht” – wie steht es mit den Qualifikationen, mit der Aus- und Weiterbildung?

Todt: Wir gehen davon aus, dass diejenigen, die zu uns kommen, nicht die passenden Qualifikationen haben. Sie haben in ihrem Heimatland eine andere Kultur, eine andere Ausbildung und eine andere Schule durchlaufen. Wir wissen nicht, welche Fähigkeiten sie mitbringen. Manchmal liegen Dokumente über Abschlüsse vor. Als Arbeitgeber ist man gut beraten, erstmal einen Test des möglichen Mitarbeiters zu machen. 

Bei den ukrainischen Geflüchteten mussten wir unsere Annahmen beispielsweise deutlich korrigieren. Im Sommer letzten Jahres dachten wir, sie haben ein hohes Sprach- und Qualifikationsniveau. Beides ist nicht der Fall. Das Sprachniveau holen wir derzeit mit erheblichem Zeitverzug nach. Viele ukrainische Geflüchtete stehen deshalb unseren Unternehmen nicht zur Verfügung. Gute Qualifikationen liegen zwar auf dem Papier vor, aber gerade Frauen haben häufig keine praktische Berufserfahrung. Für einen möglichen Einsatz im Unternehmen müssen die Fähigkeiten der Menschen und die zu erbringende Leistung im Unternehmen deshalb jetzt mit den Qualifikationen auf das passende Level gebracht werden.

Wie schaffen wir das?

Seemann-Katz: Das ist ein individuelles Problem. Manche lernen ganz schnell. Es hängt vom Alter ab, der Lerngeschwindigkeit, vom Sprachverständnis. Und wir wissen, dass die Integrationskurse des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf), die ein halbes Jahr dauern, oft überhaupt nicht ausreichend sind. Die sind so, dass man sich gerade unterhalten kann. Natürlich ist bei einer Fachsprache im beruflichen Sinne nach einem halben Jahr noch nicht viel passiert. Wir müssen mehr fördern. 

Aber wir haben jahrelange, jahrzehntelange Erfahrung damit. Nur dass eben nicht so viele auf einmal kamen und dass nicht so viele auf einmal gesucht wurden.

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit hat dazu Forschung betrieben und meint, dass Ukrainer:innen im Durchschnitt leichter integrierbar sind als beispielsweise ein Mensch aus Afghanistan. Wie gesagt, durchschnittlich. Aber es kommen Individuen. Jetzt gerade hatten wir einen afghanischen Mitarbeiter, der Wirtschaftswissenschaften in Polen studiert hat. Wir  brauchten nicht mal mehr eine Anerkennung, weil das ein europäischer, internationaler Abschluss war. Er hat fließend Englisch gesprochen. Leider war es so, dass in Schwerin die Ausländerbehörde nicht so nett war und er ein Angebot in Dresden hatte, wo er sofort die Bluecard EU gekriegt hat. Natürlich hat er dann gewechselt. Es gibt noch andere Hürden, verwaltungstechnische, bei denen man dann sagen könnte, wenn die Behörden offener wären, dann könnten wir sogar noch mehr einstellen. Dann können auch noch mehr in Mecklenburg-Vorpommern bleiben. Das gesamte gesellschaftliche Klima muss sich ändern.

Scheller: Wenn wir über Geflüchtete reden, reden wir immer auch über Menschen, die nur in zweiter Instanz zu uns kommen, weil sie dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen wollen. Manche Menschen kommen zu uns, weil sie ihre berufliche Perspektive woanders sehen. Sie wollen sich dem europäischen Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen. Reden wir aber über Geflüchtete aus der Ukraine, hört man manchmal den Unterton: „Wir freuen uns, dass die Ukrainerinnen zu uns kommen, denn wir brauchen ja so dringend Arbeitskräfte.“ 

Auch wenn wir wissen, dass viele wieder in ihre Heimat zurück wollen, ist es wichtig und richtig, Sprachkurse für alle anzubieten und zu sagen, wir wollen die Möglichkeiten, die wir als Land haben, um die Menschen hier willkommen zu heißen, nutzen. Da gehört Sprache dazu, da gehört Arbeit dazu. Diese Zugänge wollen wir öffnen. Wir sollten nicht mit der Erwartungshaltung an die Menschen herantreten: „Du bist jetzt hier bei uns im Land, also stehst du gefälligst auch uns zur Verfügung.“ Vielmehr sollten wir uns immer erinnern, dass es schutzsuchende, geflüchtete Menschen sind. In ihrem Land herrscht Krieg und Vertreibung und wir hoffen natürlich, dass in der Ukraine nicht jahrzehntelang Krieg herrscht, sondern dass wieder Frieden herrscht. Wir haben natürlich auch Regionen aus denen Menschen hierher flüchten, wo seit Jahrzehnten Krieg, und bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen. Da ist dann die Frage, welche Rückkehrperspektive haben diese Menschen.

Seemann-Katz: Dieser humanitäre Aspekt ist unbedingt zu sehen. Zugleich ist auch zu sehen, wenn Menschen länger irgendwo leben, weil diese Auseinandersetzungen andauern, dass sie dann auch Wurzeln schlagen und dann wollen sie auch in den Arbeitsmarkt. Dann ist es wichtig, dass sie integriert werden.

Wie wichtig ist es für die Integration, dass Flüchtende nicht in Zentren untergebracht werden, sondern in der Stadtgesellschaft verteilt leben?

Seemann-Katz: Es ist ein Grundsatz, dass die Integration über das Lebensumfeld stattfindet. Leider steht das Bundesgesetz dagegen. Im Asylgesetz steht, wer nicht mehr in einer Aufnahmeeinrichtung wohnen muss. Wer nicht mehr verpflichtet ist, in Erstaufnahmeeinrichtungen der Länder zu wohnen, der wird auf die Kommunen verteilt. Und da steht dann tatsächlich drin, dass die Menschen in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht werden sollen. Diese Soll-Bestimmung aufzulösen, ist offensichtlich eine riesige Schwierigkeit. Man kann sich als Land  davon verabschieden und kann sagen, wir machen das anders. Wir haben ein Flüchtlingsaufnahmegesetz des Landes, das den Kommunen alle notwendigen Kosten erstattet. Das ist in anderen Bundesländern anders. Wir zahlen hier wirklich spitz abgerechnet alles an die Kommunen. Das Land gibt uns dann natürlich vor, wie die Leute zu wohnen haben. Und es ist einfacher, Menschen in Unterkünften zusammenzupferchen und vermeintlich auch preiswerter, als ihnen Wohnungen zu geben.

Die Freizügigkeit wäre etwas, was wirklich dazu beiträgt, dass die Integration schneller geht. Man lernt Nachbarn kennen, sieht, dass Leute, die auch Angst vor Geflüchteten hatten, sich plötzlich ganz doll um die Nachbarskinder kümmern. Man merkt es, wenn man direkt mit Menschen in Kontakt kommt und das ist wesentlich besser für unsere Gesellschaft.

Scheller: Diese großen Unterkünfte sind im weitesten Sinne Notunterkünfte, die vielleicht für den ersten Moment das richtige Instrument sind, um in kurzer Zeit sehr vielen Menschen ein Dach über dem Kopf, eine Dusche und eine trockene Bleibe zu geben. Das ist in einer humanitären Katastrophe, wie wir sie da gerade erleben, der erste Weg, um schnell Lösungen zu finden. Es darf aber nicht eine langfristige Lösung sein. Dieselbe Debatte führen wir in allen Städten, in denen Wohnraum eine soziale Frage ist. Die wird halt vor allem an den schwächsten Gliedern der Gesellschaft ausgetragen und da sind oft Geflüchtete die, die die geringsten Chancen haben, sich auf dem Wohnungsmarkt frei zu bewegen.

Sind wir eigentlich in Mecklenburg-Vorpommern besser als andere bei der Integration?

Todt: Ich komme nochmal auf das Programm MobiPro EU. Da haben wir in einer interessanten Größenordnung gelernt, dass es kompliziert ist, mit Menschen aus anderen Ländern zusammenzuarbeiten. Wir haben unsere Kultur. Sie haben ihre Kultur und da muss man zueinander finden. Und dieses Programm, das wir über ein paar Jahre betreut haben, hat unseren Unternehmen völlig neue Aspekte und Erkenntnisse gebracht. Wir haben erfahren, wie es ist, wenn ich junge Menschen  nach 16.30 Uhr allein lasse, es dunkel und kurz vor Weihnachten ist. Er oder sie hat Heimweh, ist traurig, fühlt sich einsam. Wir müssen uns um sie kümmern. Diese Erfahrung bringen wir derzeit in die gesamte Situation der Aufnahme der Geflüchteten ein. Hätten wir diese Erfahrung nicht gesammelt, quasi einen Kaltstart hingelegt, wäre es uns viel schwerer gefallen. Deswegen: Wir sind gut und wir brauchen uns von außen keine Vorwürfe machen zu lassen.

Seemann-Katz: Es ist tatsächlich örtlich unterschiedlich. Es ist abhängig davon, wie die Gemeinde die Geflüchteten unterbringt. Sind die jenseits des Gewerbegebiets? Sind da Menschen in heruntergekommenen Neubauten am Rande eines Industriegebiets zusammengepfercht oder wohnen sie tatsächlich mitten im Ort? Gibt es in dem Ort eine Kirchengemeinde, die sich kümmert? Gibt es in dem Ort ehrenamtliche Bürger:innen, die sich zusammengefunden haben, weil sie gemerkt haben, „Oh, hier wird Hilfe gebraucht“? Das ist so unterschiedlich. Es hängt auch davon ab, ob Arbeitsplätze am Ort vorhanden sind. Es hängt davon ab, ob die Leute umziehen dürfen oder nicht, denn das ist je nach Status unterschiedlich. Man hat meistens eine Zuweisung in das Bundesland und darf dieses nicht verlassen. Das macht die Sache schwierig, weil wir immer wieder mal Jobs in Hamburg oder Berlin haben. Da klappt es wunderbar. Aber wenn die Leute nicht umziehen dürfen, ist das richtig schwierig.

Scheller: Die kulturelle Offenheit ist sehr unterschiedlich ausgeprägt und was uns umtreibt ist, dass Rechtspopulistinnen und Neonazis den Ball aufnehmen und versuchen, Ängste zu schüren. Sie sagen „Das Land ist voll“. Das sind Parolen, die wir aus den 90ern kennen und die jetzt wieder aufgegriffen werden. Ich finde, an vielen Stellen machen wir das als Land schon gut. Auch mit den Betrieben und als Organisation halten wir dagegen und treten für kulturelle Offenheit ein. Das ist wichtig, damit Menschen sich hier wohlfühlen können. Man kann endlose Werbekampagnen machen, aber jedes Beispiel von Rassismus und Ausgrenzung wird immer das Zehnfache an negativer Publicity bringen. Es ist schon eine Gemeinschaftsaufgabe der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer und der Gesellschaft, hier auch ein positives Klima zu schaffen und zu verhindern, dass die Menschen den Rechtspopulisten nicht hinterherrennen. 

Was müssen wir als Gesellschaft leisten, um Menschen, die zu uns geflohen sind, das Mitmachen im Wirtschaftsleben und am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen?

Todt: Als IHK-Vertreter sage ich, wir brauchen schnelle Entscheidungen über den Aufenthaltsstatus und die rechtlichen Möglichkeiten, die damit einhergehen. Zweitens: Auf die Tube drücken beim Vermitteln der deutschen Sprache, damit beide Seiten einfach schneller zueinander finden. Und drittens: Effizient sein bei der Prüfung der Nachweise oder dem Erkennen von fachlichen Qualifikationen. Und wenn diese dann nicht ausreichen, nachqualifizieren. Dann passt das!

Seemann-Katz: Bei den schnelleren Asylverfahren bin ich immer skeptisch, weil es nun mal einen Rechtsweg gibt, der offen steht. Den werden wir auch grundgesetzlich nicht abschaffen, weil er dann nämlich auch für uns abgeschafft würde. Es ist eine Illusion zu glauben, dass es sehr viel schneller gehen kann. Einiges kann man beschleunigen, indem man zum Beispiel bestimmte Behörden verstärkt. Das wäre dringend nötig. Bürokratieabbau wäre an der Stelle tatsächlich angesagt. Einige Rechtsänderungen, die es erleichtern, in Arbeit zu kommen. Und ansonsten tatsächlich Integrationshilfe, wo es nur geht. Gerne auch wieder Integrationslotsinnen und -lotsen finanzieren, die man schon mal hatte, die aber abgeschafft worden sind, nachdem die Flüchtlingszahlen nach 2016 wieder zurückgingen. Flüchtlingsaufnahme ist tatsächlich mehr als Unterbringung und der Arbeitsmarkt braucht dann tatsächlich auch Förderung. Da müssen möglicherweise auch Unternehmen gefördert werden, die speziell assistiert ausbilden.

Scheller: Wir müssen anerkennen, dass sie eben als geflüchtete Menschen zu uns kommen und bei uns Schutz suchen. Als Gewerkschaften müssen wir gemeinsam mit Arbeitgebern und der Politik darauf achten, den schutzbedürftigen Menschen gute Arbeitsmöglichkeiten zu geben. Wir müssen verhindern, dass sie in prekäre Arbeit kommen, dass sie ausgebeutet werden, dass sie zum Beispiel an dubiose Drückerkolonnen geraten. Sie brauchen gute Arbeitgeber, die mit sehr viel Engagement Menschen beschäftigen wollen, sie nicht als billige Arbeitskräfte sehen, sondern als Teil unserer Gesellschaft, mit dem wir gemeinsam gute Arbeit gestalten können. Dafür kann die Politik Rahmenbedingungen setzen, durch effektive Kontrollen, durch gute Sprachkurse und natürlich durch die Beratung der Kolleginnen und Kollegen selbst.

Vielen Dank für das Gespräch.

Quellen

  1. Die Blaue Karte der EU  ist im Aufenthaltsgesetz (§18 Absatz II) geregelt und sie ist ein besonderer Aufenthaltstitel für ausländische Akademikerinnen und Akademiker, die in Deutschland eine qualifizierte Beschäftigung aufnehmen wollen.
  2. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales führte zwischen den Jahren 2013 bis 2020 das Sonderprogramm MobiPro EU zur Förderung der beruflichen Mobilität von ausbildungsinteressierten Jugendlichen aus Europa durch. Ziel war es, die grenzüberschreitende Mobiltät zu erhöhen.

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