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Häusliche Gewalt

Beratungsstellen an der Belastungsgrenze

Mit einem offenen Brief wendet sich die Landesarbeitsgemeinschaft häusliche Gewalt an Justizministerin Jacqueline Bernhardt. Sie kritisiert darin unzureichende Mittel und Förderungen zum Schutz vor häuslicher Gewalt. Insbesondere die Bereiche Barrierefreiheit und Sprachmittlung benötigten in Mecklenburg-Vorpommern dringend mehr Unterstützung. Sogenannte Femizide – die Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts – können nur verhindert werden, wenn die Gesellschaft sensibilisiert und Präventionsmaßnahmen ausreichend finanziert werden.

Angesichts eines Femizids am 12. Oktober in Barth, bei dem eine 38-Jährige von ihrem Ehemann erstochen wurde, fordert die Landesarbeitsgemeinschaft der Interventionsstellen gegen häusliche Gewalt und Stalking (LAG) in einem offenen Brief an Justizministerin Jacqueline Bernhardt (Die Linke), das Hilfesystem in Mecklenburg-Vorpommern angemessen auszustatten. Es fehle im Land an finanziellen und personellen Ressourcen, um die Beratung und den Schutz der Betroffenen von häuslicher Gewalt, Stalking, sexualisierter Gewalt und Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung sowie Zwangsverheiratung sicherzustellen. Dazu gehörten in jedem Fall auch die Kosten für professionelle Sprachmittlung und Dolmetscher:innen, betont die LAG.

In MV gibt es bislang fünf Interventionsstellen gegen häusliche Gewalt und Stalking: in Schwerin, Rostock, Stralsund, Anklam und Neubrandenburg, wo die Beratungsstellen jeweils auch für die umgebenden Landkreise zuständig sind. Die Frauenhäuser und Gewaltberatungsstellen im Land erhielten im vergangenen Jahr im Schnitt täglich 22 Hilferufe. Sie registrierten 4.553 Fälle von Gewalt gegen Erwachsene sowie 3.760 Fälle, in denen Kinder und Jugendliche mit häuslicher oder sexualisierter Gewalt, Menschenhandel oder Zwangsprostitution konfrontiert waren. „Diese insgesamt mehr als 8.000 bekannt gewordenen Fälle sind nicht hinnehmbar“, hatte Ministerin Bernhardt im Juni anlässlich der Vorstellung der Zahlen betont. Sie seien ein trauriges Zeichen dafür, dass Gewalt in Familien, Beziehungen und auch im gesellschaftlichen Raum in Mecklenburg-Vorpommern ein gravierendes Problem ist.

Beratungsstellen an der Belastungsgrenze

Die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen von Stark Machen, dem Trägerverein der Interventionsstellen in Rostock und Stralsund, fordern vor allem mehr Stellen, um der stetig wachsenden Nachfrage in MV gerecht zu werden. Dazu brauche es mehr Barrierefreiheit – sprachlich und räumlich. Vor allem aber benötigt der Verein dringend barrierearme Räume für die Interventionsstelle in Stralsund. Besonders rufen sie andere Institutionen wie Wohnheime und Werkstätten für Menschen mit Behinderungen und Gemeinschaftsunterkünfte auf, sich ebenso mit dem Thema auseinanderzusetzen: „Häusliche und sexualisierte Gewalt finden im familiären Umfeld und sozialen Nahraum statt“, hier gelte es, Verantwortung zu übernehmen, Betroffene zu unterstützen und Gewalt nicht zuzulassen.

Die Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt, deren Trägerverein Stark Machen ist, fordert eine Rückkehr zum traumasensiblen Umgang mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt in allen Opferschutzambulanzen in Mecklenburg-Vorpommern: Seit 2020 ist die vertrauliche Spurensicherung nach häuslicher und sexualisierter Gewalt gesetzlich als Leistung der Krankenkassen verankert – auch wenn man keine Anzeige erstattet. Eine Umsetzung des Gesetzes steht zwei Jahre später jedoch immer noch aus. Außerdem sollte die Zahl der Ambulanzen erhöht und ihre Erreichbarkeit rund um die Uhr sichergestellt werden. Vor allem im ländlichen Raum müssen Betroffene immer noch weite Wege auf sich nehmen. Der Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (BFF) brachte im Mai ein Forderungspapier zur medizinischen Versorgung und vertraulichen Spurensicherung heraus. Darin fordert der Verband unter anderem, dass Betroffene eine Klinik, niedergelassene Praxis, rechtsmedizinische Untersuchungsstelle und Fachberatungsstelle innerhalb von 20 bis 45 Minuten erreichen können müssen. In Mecklenburg-Vorpommern ist das bislang Zukunftsmusik.

Die Istanbul-Konvention ist geltendes Recht und verpflichtet Deutschland dazu, eine kostenfreie und flächendeckende Akutversorgung nach sexualisierter oder körperlicher Gewalt sicherzustellen, sonst ist die Gesundung von Betroffenen massiv gefährdet.

Katharina Göpner, Geschäftsführerin des Bundesverbandes der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe

Beim weltweiten Aktionstag One Billion Rising am 14. Februar machten die Beratungsstellen bereits auf ihre prekäre Lage in MV aufmerksam. Schon zu Jahresbeginn stellten sie klar: Die Beratungsstellen und Frauenhäuser im Land arbeiten an der Belastungsgrenze. Beratungszeiträume müssen verkürzt werden, um allen Hilfesuchenden gerecht werden zu können. Denn es werden immer mehr. Die Corona-Krise verstärkt häusliche und sexualisierte Gewalt: 2020 war ein Anstieg der Fallzahlen in Mecklenburg-Vorpommern zu verzeichnen, um 123 von 1.651 im Jahr 2019 auf 1.774 im Jahr 2020. Mit 350 Beratungen erreichte die Rostocker Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt 2021 einen neuen Höchststand. Vor allem die Beratungen von Kindern und Jugendlichen nahmen zu – von 134 auf 181.

Auch in den Frauenhäusern ist die Situation weiterhin angespannt: 2021 konnten in Rostock nur 35 Frauen aufgenommen werden – so wenige wie noch nie in der 31-jährigen Geschichte des Frauenhauses. Das Problem: Aufgrund des angespannten Wohnungsmarktes finden Frauen keine bezahlbare Wohnung und müssen länger im Frauenhaus bleiben. Deshalb mussten im vergangenen Jahr mehr als 40 hilfesuchende Frauen in Rostock abgewiesen oder weiterverwiesen werden.

Häusliche und sexualisierte Gewalt kostet täglich 148 Millionen Euro

Eine Studie des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen schätzt die Kosten geschlechtsspezifischer Gewalt in der EU auf 366 Milliarden Euro pro Jahr. Gewalt gegen Frauen kostet die Gesellschaft jährlich mehr als die Folgen von Verkehrsunfällen. Die gesellschaftlichen Folgekosten von häuslicher und sexualisierter Gewalt gegen Frauen belaufen sich für Deutschland demnach auf etwa 54 Milliarden Euro jährlich, das sind 148 Millionen Euro pro Tag.

Die hohen Kosten entstehen unter anderem im Gesundheitssystem, bei Polizei und Justiz und durch den Arbeitsausfall der Betroffenen. Nur ein verschwindend geringer Teil der 54 Milliarden entfällt bisher auf die staatliche Finanzierung von Unterstützungsangeboten, wie Fachberatungsstellen, stellt der BFF fest. Allein die jährlichen Kosten im deutschen Gesundheitswesen belaufen sich auf 287 Millionen Euro für die Erstversorgung, 9 Millionen Euro für psychotherapeutische Behandlungen und 145 Millionen Euro für die Versorgung nach Suizidversuchen.

Um Gewalt und ihre Folgekosten langfristig zu reduzieren, muss laut dem Bundesverband BFF die Istanbul-Konvention des Europarates vollständig umgesetzt werden. Sie verlangt eine staatliche Gesamtstrategie zur Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt. Und: ausreichend Geld im Unterstützungssystem.

Medien in der Verantwortung

Damit das Thema auch gesellschaftlich enttabuisiert werden kann, müssen Medien häusliche Gewalt angemessen in den Fokus rücken. Bislang, so stellte im vergangenen Jahr eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung fest, wird in der medialen Berichterstattung in Deutschland hauptsächlich besonders brutale Gewalt gegen Frauen dargestellt, vor allem, wenn sie von den Opfern vorher unbekannten Tätern verübt wird. Dabei sind diese Fälle statistisch weitaus seltener als Gewalt durch den eigenen Partner oder nahe Familienangehörige. Alltägliche oder einordnende Berichte zu häuslicher Gewalt ohne Todesfolge sucht man in den Medien jedoch vergeblich. Es werde sich zu sehr auf Einzelfälle in der Berichterstattung konzentriert und das gesamtgesellschaftliche strukturelle Problem selten als solches erkannt, heißt es. Die Studie der Brenner-Stiftung stellt jedoch auch Lösungsansätze vor, wie bei sehr individuellen Fällen traumasensibel und verantwortlich berichtet werden kann. Medienschaffende können laut Studienleiterin Christina Meltzer mit geringem Aufwand, wie durch den Verweis auf Statistiken und das Einbeziehen von Expert:innen, schrittweise zum gesellschaftlichen Verständnis der Dimension des Problems – und damit auch zum Gewaltschutz – beitragen. Ein Vorschlag der Untersuchung für künftige Medienberichterstattung lautet, ähnlich wie bei der Berichterstattung über Suizide, die Nennung von konkreten Hilfsangeboten. Auch die Deutsche Presseagentur nahm sich des Themas an und reagierte zu ihrem 70. Jubiläum auf einen offenen Brief der Organisation Gender Equality Media. Die Forderungen: Unsensible Sprache in Bezug auf Frauenmorde künftig durch diskriminierungsfreie und sensiblere Begriffe zu ersetzen. Denn: Eine diskriminierende Berichterstattung fördert Diskriminierung im Alltag. Die DPA distanziert sich seitdem von gewaltverharmlosenden Wörtern wie Familiendrama, Eifersuchtstragödie, Kinderprostituierte oder Sextäter.

Gewalt unterm Tannenbaum

Besonders an Weihnachten, wenn die Harmonieerwartungen groß, der Alltag unterbrochen und durch permanente räumliche Nähe kein Aus-dem-Weg-Gehen möglich ist, kommt es vermehrt zu häuslicher Gewalt. Spannungen, ob durch Weihnachten, die Corona-Krise oder andere psychische Belastungen wie Sorgen um Zukunft, Gesundheit und Arbeitsplatz, entladen sich im schlimmsten Fall in tätlichen Übergriffen. Die sogenannte Weihnachtsgewalt findet sich jedoch nicht sofort am 27. Dezember in den Statistiken der Beratungsstellen. „Unsere Erfahrung zeigt aber auch, dass sich die Gewalttaten nicht schnell in sichtbaren Zahlen niederschlagen müssen“, sagt Jörg Ziercke vom Opferhilfeverein Weißer Ring. „Die Betroffenen melden sich nicht gleich nach der Tat und auch nicht auf einen Stichtag hin, etwa nach Ankündigung von Lockerungsmaßnahmen. Viele Betroffene leben jahrelang mit häuslicher Gewalt, bis sie sich Hilfe suchen. Es gibt Studien, nach denen eine von häuslicher Gewalt betroffene Frau sieben Anläufe benötigt, sich aus einer solchen Beziehung zu befreien.“

Von der Weihnachtsgewalt wissen die Opferhelfer also nicht, weil sich in dieser Zeit so viele Betroffene melden. Sondern weil Opfer, wenn sie sich irgendwann nach Jahren Hilfe holen, dann so oft von ihren schlimmen Weihnachtsfesten sprechen.

Häusliche Gewalt findet an jedem einzelnen Tag in Deutschland statt, nicht nur während der Corona-Krise. Wir gehen aber davon aus, dass es während der Corona-Einschränkungen vermehrt zu Fällen gekommen ist und auch noch kommt.

Jörg Ziercke, Ehrenvorsitzender der Opferschutzorganisation Weißer Ring

Von daher stellt sich nicht nur die Frage, wie sich die Fallzahlen entwickeln. Sondern auch, welche Aussagekraft die registrierte Anzahl der Hilfegesuche hat, wenn die Forschung von einer mindestens viermal höheren Dunkelziffer der Gewalttaten ausgeht. Und die Zahl der gemeldeten Fälle schwankt stark: Aufgrund von persönlichen Umständen, Lockdowns, Lockerungen, Aufklärungskampagnen, Sichtbarkeit. Muss die Gesellschaft erst darauf warten, dass sich die Zahl der Femizide und Familizide so stark erhöht, dass der Situation angemessene finanzielle Mittel für Prävention und Gewaltschutz freigegeben werden? Der Weiße Ring rechnet weiterhin mit dem Schlimmsten: Gewalt geschieht in Deutschland und auch in Mecklenburg-Vorpommern jeden Tag, alle paar Minuten – und besonders an Weihnachten.

Dieser Artikel erschien im Dezember in Ausgabe 14 von KATAPULT MV.

Die Beratungsstelle gegen häusliche Gewalt in Demmin sowie das Frauenschutzhaus in Stralsund sind seitdem bis auf weiteres geschlossen.

Quellen

  1. NDR (Hg.): Täglich 22 Hilferufe wegen Gewalt in MV – mehr Fälle registriert, auf: ndr.de (12.6.2022).
  2. Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (Hg.): Versorgungslücken nach Vergewaltigung schließen, auf: frauen-gegen-gewalt.de (23.5.2022).
  3. European Institut for Gender Equality (Hg.): The costs of gender-based violence in the European Union, auf: eige.europa.eu (28.10.2021).
  4. Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (Hg.): Gewalt gegen Frauen hat massive Folgen, auf: frauen-gegen-gewalt.de (23.11.2021).
  5. Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (Hg.): Arbeitskreis Frauengesundheit: Gemeinsam die psychische Gesundheit gewaltbetroffener Frauen stärken, auf: frauen-gegen-gewalt.de (1.11.2022).
  6. Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (Hg.): EIGE-Kostenstudie: Die Kosten geschlechtsspezifischer Gewalt in der EU 2021, auf: frauen-gegen-gewalt.de (19.11.2022).
  7. Otto-Brenner-Stiftung (Hg.): Tragische Einzelfälle? Wie Medien über Gewalt gegen Frauen berichten, auf: otto-brenner-stiftung.de (1.6.2021).
  8. Gender Equality Media (Hg.): Offener Brief zum 70-jährigen dpa-Jubiläum, auf: genderequalitymedia.org (14.8.2019).
  9. Krogmann, Karsten: Häusliche Gewalt: Die im Dunkeln sieht man nicht, auf: forum-opferhilfe.de.

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