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Kita-Report

Betreuungsschlüssel in MV deutschlandweit am schlechtesten

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Dirk Heidrich hat viele Jahre als Erzieher in Kitas gearbeitet, 2019 aber in den Tagesvater-Job gewechselt. Mitten in Greifswald hat er eine kleine Wohnung angemietet, in der er fünf Mädchen und Jungen betreut. Wenn er wie jetzt mit ihnen draußen unterwegs ist, schiebt er die Kinder in einem Wägelchen. Die Sonne scheint, die Luft ist mild, deshalb geht es heute auf den Spielplatz am Museumshafen. Heidrich lässt die Kinder aussteigen, und die Ein- und Zweijährigen verteilen sich im Sand. Er bleibt stehen. Der Platz ist nicht eingezäunt, auf der einen Seite ist der Ryck, auf der anderen die Straße. Alle paar Minuten zähle er innerlich bis fünf, sagt er. Und jetzt kommt er nur bis vier. „Wo ist Marina?“, ruft er und läuft los.

Nirgendwo in Deutschland gehen mehr Kinder in die Kita oder zu Tageseltern als in Mecklenburg-Vorpommern. Und nirgendwo werden sie von so wenigen Erziehern und Erzieherinnen betreut. Laut der aktuellen Kita-Studie der Bertelsmann-Stiftung kommen 13 Überdreijährige und sechs Unterdreijährige auf eine Fachperson – der höchste Wert in ganz Deutschland. Dieser Wert gibt aber nur den sogenannten „Personalschlüssel“ an, das Verhältnis, wie viele Fachkräfte pro Kind eingestellt sind. Rechnet man Urlaub, Krankheit, Team- und Elternbesprechungen, Bürotätigkeiten und Fortbildungen dazu, landet man bei einem anderen, stärker der Realität angepassten Wert, nämlich der sogenannten Fachkraft-Kind-Relation. Eine Art Praxisangleich des Personalschlüssels. Und der fällt ernüchternd aus. Durchschnittlich kommt man in Mecklenburg-Vorpommern so auf fast neun Kinder unter drei und auf 19 Kinder über drei, die von einer einzigen Erzieherin oder einem Erzieher betreut werden.

Eine Erzieherin betreut im Schnitt neun Kinder unter drei. Und 19 über drei

Man kann sich das vielleicht so vorstellen: 19 Kinder in einem Raum, einer vermisst seine Eltern, eine muss aufs Töpfchen, eine andere hat sich erbrochen, einer wirft mit Bausteinen. Und die Erzieherin absolviert einen Feuerwehreinsatz nach dem anderen. „Was dieser Personalschlüssel bedeutet, kann man, denke ich, schon intuitiv ganz gut erfassen“, sagt Susanne Viernickel, Professorin für Pädagogik der frühen Kindheit in Leipzig. „Es kann unmöglich funktionieren, wesentlich mehr als den äußeren Rahmen für so viele Kinder zur Verfügung zu stellen.“ Der äußere Rahmen: Kein Kind läuft zu lange mit einer nassen Windel herum, alle bekommen etwas zu essen, wenn ein Kind weint, wird es getröstet. Und selbst da sei höchst fraglich, dass dies bei neun Ein- und Zweijährigen wirklich zuverlässig gelingen könne. Auf der Strecke bleibe alles, was gute Kitaarbeit auszeichne. Viernickel nennt „interessante Aktivitäten, Ausflüge, Bastel- und Lernprojekte, Gespräche, Eins-zu-eins-Interaktionen, auch mal mit Kindern philosophieren“. Und, vielleicht noch wichtiger: das, was all das zusammen ist – Beziehungsarbeit, die es ermöglicht, den Kindern eine verlässliche Bezugsperson zu sein.

Dirk Heidrich gibt sich alle Mühe, seinen fünf Tageskindern eine solche Bezugsperson zu sein. Trotzdem, wenn er fünf Kindern hintereinander das Essen pürieren, sie an- und ausziehen oder fünf Windeln wechseln muss, geht Zeit drauf, die nicht mehr da ist, um Käfer zu beobachten, Lieder zu singen oder in der Malecke Farben zu mischen. Da hilft neben Erfahrung und pädagogischem Talent vor allem strikte Rhythmisierung. „Das Personal muss dann eben auf gruppenorientierte Tagesrhythmen  zurückgreifen, anstelle die Kinder individuell zu betreuen“, sagt Susanne Viernickel. „Das widerspricht allerdings stark dem aktuellen Stand der Forschung und dem Ziel, die Kinder einzubinden und partizipieren zu lassen.“ In der Kindertagespflegegruppe Sternschnuppe ist zum Beispiel morgens um 8:30 Uhr Töpfchenrunde. Im Halbkreis sitzen die Kinder da, jedes auf einem Töpfchen. Weitverbreitet ist auch der obligatorische Mittagsschlaf. In vielen Kitas müssen die Kinder oft noch bis zum Vorschulalter zwei Stunden schlafen oder wenigstens ruhen, egal ob sie müde sind oder nicht. In vielen Kitas findet in dieser Zeit ein Personalwechsel statt. Die häufig teilzeitbeschäftigten Erzieherinnen und Erzieher (in MV wie im Bundesdurchschnitt sind übrigens nur sechs Prozent des Kitapersonals männlich) wechseln dann. Und weil während der Schlafenszeit weniger Personal gebraucht wird, können die Träger so quasi Arbeitsstunden für die Wachzeiten der Kinder am Vor- und Nachmittag „aufsparen“. Für Viernickel ist der oft obligatorische Mittagsschlaf ein „deutliches Alarmsignal“. Wie auch die Bertelsmann-Stiftung fordert sie einen Personalschlüssel von 1:3 für die Kleinsten und 1:7,5 für die Kindergartenkinder. Lichtjahre entfernt von der Situation in den Kindertageseinrichtungen in MV.

Kinder in Baden-Württemberg von doppelt so vielen Erwachsenen betreut

Peggy Lehm ist im Vorstand der GEW, der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft. Sie hat im Landkreis Rostock – der beim Personalschlüssel innerhalb Mecklenburg-Vorpommerns noch einmal besonders schlecht abschneidet – einen Bürgerentscheid für mehr Kitapersonal mitinitiiert, der vergangene Woche im Kreistag abgelehnt wurde. Dass Kinder in Baden-Württemberg von doppelt so vielen Erwachsenen betreut werden wie in Mecklenburg-Vorpommern, sieht sie nicht nur als Gerechtigkeitsproblem, sondern auch unter dem Aspekt des Kindeswohls kritisch. „Deutschland hat die UN-Kinderrechtskonvention unterschrieben“, sagt sie. „Bei der Prävention von Kindeswohlgefährdung geht es auch um eine angemessene Zahl und die Eignung des Personals“, sagt sie. „Dass Kindeswohl für die Kinder in Mecklenburg-Vorpommern offensichtlich anders definiert wird als in Baden-Württemberg, darf nicht sein.“

Aber warum ist die Situation in den Kitas überhaupt so schlecht? „Das ist natürlich auch ein Erbe der DDR“, sagt Susanne Viernickel, „hier gab es traditionell große Gruppen, eine ganz andere Praxis als in Westdeutschland, wo großflächige Kinderbetreuung für sehr kleine Kinder noch eine neuere Entwicklung ist.“

Es gibt auch Bereiche, in denen Mecklenburg-Vorpommern deutlich besser abschneidet. Das Personal ist zum Beispiel überdurchschnittlich gut qualifiziert. Und anders als in anderen, vor allem westdeutschen Bundesländern ist die Angebotslücke relativ gering. Fast alle Eltern, die einen Kitaplatz wollen, bekommen ihn auch.

Aber einen schlechten Schlüssel deutlich zu verbessern, ist teuer. Und auch wenn das Ziel eines Stufenplans für die Anhebung des Schlüssels im Wahlprogramm der SPD steht, so ist Peggy Lehm nicht besonders zuversichtlich, dass in diesem Bereich in den nächsten Jahren viel passiert. Am liebsten wäre ihr eine bundeseinheitliche Regelung. Schließlich gehört das Kindergartenwesen zum Bereich Soziales, nicht zu Bildung. Und darum könnte der Bund hier Gesetze erlassen – und die Gleichbehandlung aller Kindergartenkinder in Deutschland bewirken. Bisher werden aber noch nicht einmal alle Kinder in Mecklenburg-Vorpommern gleich behandelt. Denn die Landesregierung gibt zwar im Kinderförderungsgesetz einen durchschnittlichen Schlüssel (1:6 bzw. 1:15) vor, überlässt die Ausgestaltung aber den Kreisen. „Unsere wichtigste Forderung als GEW ist daher, erst einmal die Ausgestaltung des Personalschlüssel landesweit einheitlich zu regeln“, sagt Peggy Lehm.

Was aber bedeutet die Betreuungssituation für die Kinder? „Es besteht das Risiko, dass Kinder in eine krisenhafte Zeit stürzen, wenn es nicht gelingt, zu ihnen eine warme und vertrauensvolle Beziehung aufzubauen“, sagt Susanne Viernickel. Kinder könnten zu der Einschätzung kommen, „hilft dir selbst, sonst hilft dir keiner“. Sie tendierten dann dazu, nicht so enge Beziehungen aufzubauen, wirkten von außen oft besonders selbständig, hätten aber mit starken Angst- und Verlustgefühlen zu kämpfen.

Die Last tragen die, die es sowieso schon schwerer haben

Grundsätzlich geht Viernickel aber davon aus, dass die allermeisten Kinder auch mit einer Personalsituation wie in Mecklenburg-Vorpommern irgendwie klarkommen und unbeschadet ihre Kindergartenzeit überstehen. „Trotzdem kann es gerade an den Rändern Probleme geben“, sagt sie. Die Ränder, damit meint sie Kinder, die zu Hause nicht liebevoll betreut werden, die kaum Anregungen bekommen, mit denen wenig gesprochen wird. Die Entwicklungsverzögerungen oder emotionale Probleme haben, oder die sich fremd fühlen, weil zu Hause eine andere Sprache gesprochen wird und andere Regeln gelten. Die Last, so könnte man die Botschaft zusammenfassen, tragen besonders die, die es sowieso schon schwerer haben. Das ist nicht nur eine große Ungerechtigkeit, sondern auch eine vertane Chance. Denn gerade diese Kinder profitieren laut der aktuellen Studien in Kitas mit gutem Personalschlüssel und hoher pädagogischer Qualität am meisten von einer außerfamiliären Betreuung.

Aus Dirk Heidrichs Sicht ist der Betreuungsschlüssel in der kleinen Gruppe, die er jetzt zu betreuen hat, ein großer Fortschritt. Und er sieht die Sache mit dem Betreuungsschlüssel zwiespältig. Er bekommt sowieso weniger Geld pro betreutem Kind als die Sätze, die die Kitas mit dem Jugendamt aushandeln. Dass er nur fünf, nicht sechs Kinder – wie es der Personalschlüssel vorsieht – betreut, stellt ihn finanziell noch schlechter als jede Kitaerzieherin. „Für die Qualität meiner Arbeit wäre es aber natürlich besser, ich hätte nur drei oder vier Kinder zu betreuen“, sagt er. Was wäre anders, wenn er gleich viel Geld bekäme, aber weniger Kinder betreuen müsste? „Ich hätte mehr Zeit, mich einzeln mit ihnen zu beschäftigen“, sagt er. „Sie zu beobachten, einzeln zu fördern. Ich könnte ihnen viel individueller gerecht werden. Sie einfach so individuell betreuen, wie es sich gehört.“

Dieser Artikel erschien in Ausgabe 2 von KATAPULT MV. 

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Fußnoten

  1. Bertelsmann-Stiftung (Hg): Ländermonitor frühkindliche Bildungssysteme, auf: laendermonitor.de

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