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Reethäuser

Chinesisches Dach überm Kopf

Reetdächer gehören zu MV wie der Wind zum Meer. Doch stammen nur noch 15 Prozent des Reets aus hiesigen Beständen. Statt jahrhundertealtes norddeutsches Handwerk zu pflegen, wird das Schilf aus Osteuropa oder China importiert. Warum heimische Tradition mittlerweile im Ausland eingekauft wird.

Sie haben etwas Bilderbuchartiges, die Häuser an der Küste. Ein kleines Haus mit blumenbewachsenen Steinwänden, darauf ein Dach aus Reet. Das Schilf dafür geerntet an den Ufern von MVs Seen, in Flusstälern und am Bodden. 2014 erkannte die Unesco das Reetdeckerhandwerk sogar als immaterielles Kulturerbe an. Reethäuser machen Mecklenburg-Vorpommern aus, und doch kommt das Reet kaum noch von hier. Sind wir dabei, eine Tradition zu verlieren?

16 Betriebe sind momentan in der Reetdachdeckerinnung Mecklenburg-Vorpommern gelistet. Im ganzen Land wissen also weniger als zwanzig Betriebe, wie man Häuser traditionell mit Reet deckt. Von diesen ernten laut Innungsgeschäftsführerin Marlies Händschke höchstens noch vier bis fünf selbst Reet. Ernten bedeutet, in den Wintermonaten von November bis Februar auf vereiste Felder zu ziehen und das Schilf in Form trockener Bündel zu bergen. An der kleinen Anzahl von Betrieben wird bereits deutlich, dass das Rohr auf den romantischen Reetdächern kaum mehr aus Deutschland kommen kann. Genau genommen stammen nur noch rund 15 Prozent des Reets aus heimischen Beständen.

Importierte Tradition

Zu stark ist die Konkurrenz durch Reet aus dem Ausland. Derzeit ist es lukrativer, das Schilf aus süd- und osteuropäischen Ländern wie Ungarn, Rumänien oder der Ukraine zu importieren. Oder sogar aus China. Trotz des weiten Weges? Wegen des weiten Weges!

Reet wird aus China mit Containerschiffen hertransportiert. Der Schiffsdiesel dafür ist bisher noch unbesteuert. Innerhalb Europas hingegen muss auf Transportwegen, um die Euro-6-Schadstoffnorm zu erfüllen, eine Energiesteuer auf den Diesel bezahlt werden. So analysiert Tom Hiss vom norddeutschen Unternehmen Hiss Reet die derzeitigen Herausforderungen einheimischer Reetproduzenten. Importe aus China würden gegenüber europäischen Produkten bevorzugt. Daher fordert der Unternehmer eine Besteuerung der Transportwege – nicht nur um den Eigenanbau wieder zu stärken, sondern auch um das Klima zu schonen.

So gingen nach Informationen des „Greifswald Moor Centrums“ (GMC) die inländischen Reetflächen zwischen 1997 und 2017 um zwei Drittel zurück. Heutzutage würden nur noch etwa 200.000 Bund pro Jahr geerntet. Ein weiterer Grund für diesen Ernterückgang sei neben der internationalen Konkurrenz die fehlende Förderung. Während in Polen die Schilfernte durch EU-Fördermittel unterstützt werde, gilt Rohrmahd in Mecklenburg-Vorpommern nicht als Landwirtschaft, sondern ist als wirtschaftliche Nutzung eines besonders geschützten Biotops nicht beihilfefähig.

Naturprodukt vs. Naturschutz

Dadurch, dass Reet meist in Uferbereichen von Küsten oder Seen wächst, ist es auch Lebensraum und Brutort einmaliger Vogelarten. Um diese zu schützen, ist die Reetmahd zeitlich beschränkt. Die Pflanzen dürfen lediglich von Anfang November bis Ende Februar von Reetwerbern geerntet werden. Brauchen sie dafür länger, bedarf es einer kostenpflichtigen Beantragung. Dabei gewinnt vielleicht der Naturschutz, doch gehören Reetwerber somit zu den ersten Verlierern des Klimawandels – die für die Ernte notwendigen Frostperioden verschieben sich immer weiter nach hinten, die Naturschutzrichtlinien nicht.

Von 2.000 angehenden Dachdeckern entschieden sich nur sechs, eine Spezialisierung zum Dachdecken mit Reet einzuschlagen, schreibt Zeit Online. Kein Wunder beim Blick auf die aktuellen Bedingungen. Dabei wäre es für den Erhalt der jahrhundertealten Tradition und der Vermeidung langer Transportwege notwendig, das Schilfhandwerk in Deutschland zu stärken.

Die Nachfrage ist da

Um den Bedarf an Dachreet in Deutschland durch regionale Produktion zu decken, seien circa 10.000 Hektar Schilffläche erforderlich. Momentan würden 550 ha genutzt, so das GMC. Ein Kompromiss, trotzdem nicht den Brutvögeln in Uferzonen in die Quere zu kommen, wäre, Reet aktiv anzubauen. Da die Pflanzen nasse, morastige Böden brauchen, am besten in Mooren. Die wurden in MV zwar größtenteils für die konventionelle Landwirtschaft trockengelegt. Doch womöglich schafft der Reetanbau einen Anreiz, bestimmte Flächen wiederzuvernässen: um die norddeutsche Reetdachromantik mit regionalem Schilf zu erhalten.

Quellen

  1. Reet wird auch Rohr, Schilf oder Schilfrohr genannt.
  2. Landesinnungsverband des Dachdeckerhandwerks Mecklenburg-Vorpommern (Hg.): Die Reetdachdecker-Innung Mecklenburg-Vorpommern stellt sich vor, auf: dachdecker-mv.de.
  3. Zeit Online (Hg.): Schilfrohrernte in MV geht zu Ende: Wieder zu früh, auf: zeit.de (25.2.2021).
  4. Greifswald Moor Centrum (Hg.): Faktenpapier Rohrwerbung Mecklenburg-Vorpommern, auf: greifswaldmoor.de (2019).
  5. Naturschutzgemeinschaft Sylt (Hg.): Reet – Ein Baustoff aus der Natur, auf: naturschutz-sylt.de.
  6. Greifswald Moor Centrum (Hg.): Paludikultur Newsletter, März 2020, S. 12-13, auf: moorwissen.de.
  7. Greifswald Moor Centrum (Hg.): Faktenpapier Rohrwerbung Mecklenburg-Vorpommern, auf: greifswaldmoor.de (2019).
  8. Zeit Online (Hg.): Schilfrohrernte in MV geht zu Ende: Wieder zu früh, auf: zeit.de (25.2.2021).
  9. Zeit Online (Hg.): Reetdachdecker haben hohen Nachwuchs-Bedarf, auf: zeit.de (28.6.21).
  10. Hiss Reet (Hg.): Die Geschichte des Reetdaches und der Reetdachdecker, auf: hiss-reet.de.

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