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Krieg in der Ukraine

„Die große Politik muss jetzt sprechen und den Krieg sofort stoppen!“

Yuriy Kadnykov, Landesrabbiner von MV, wurde auf der Halbinsel Krym geboren. Er lebte unter anderem zwei Jahre in Moskau und arbeitete als Rabbiner in Sewastopol – ebenfalls auf der Krym. Mit KATAPULT MV sprach er über den Krieg in der Ukraine und dessen Auswirkungen auf die Mitglieder der jüdischen Gemeinde in MV.

Yuriy Kadnykov wurde 1975 in der Hafenstadt Jewpatorija auf der Halbinsel Krym geboren. Am Institut der World Union for Progressive Judaism in Moskau absolvierte er ab dem Jahr 2000 eine zweijährige Weiterbildung. Anschließend begann er in Sewastopol als Rabbiner und Vertreter des liberalen Judentums zu arbeiten. Nach einem Studium an den Universitäten Potsdam und Jerusalem und Stationen als Rabbiner in Bamberg, Hannover, Magdeburg und Bad Pyrmont übernahm er am 1. April 2015 das Amt des Landesrabbiners von Mecklenburg-Vorpommern.

KATAPULT MV: Herr Kadnykov, wie geht es Ihnen?Yuriy Kadnykov: Mir persönlich geht es gut. Aber natürlich sind alle Menschen besorgt wegen der Weltereignisse und der Kriegszustände, die in der Ukraine herrschen. Die Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft in MV sehen das, was im Osten von Europa geschieht, mit großer Sorge und Trauer. In der jüdischen Gemeinde kommen viele Mitglieder sowohl aus der Ukraine als auch aus Russland. Unsere Gemeinde hat etwa 1.200 Mitglieder und ungefähr 20 Prozent kommen aus dem Gebiet des heutigen Russlands. Wir haben in der jüdischen Gemeinde Mitglieder aus allen ehemaligen Republiken der Sowjetunion. Historisch lebte der größte Teil der Juden in der Ukraine, in der moldauischen Sowjetrepublik und Weißrussland. Die Alltagssprache unserer Gemeindemitglieder ist oftmals Russisch.

Sie wurden auf der Krym geboren. Haben Sie dort noch Familie oder Freunde?Ja, ich habe sowohl auf der Krym als auch im stark umkämpften Charkiw Verwandte und Freunde. Aber auch in Moskau. Das ist typisch für jede jüdische Familie, dass die Verwandtschaft in der Welt verstreut ist.

Was tut die jüdische Gemeinde in MV, um den aktuell Flüchtenden zu helfen?Bis heute ist noch niemand gekommen, der ausdrücklich wegen seines jüdischen Glaubens die Hilfe unserer Gemeinde gesucht hat. Unsere Gemeindemitglieder helfen den ukrainischen Vereinen bei der Bewältigung ihrer Arbeit. Die vor 30 Jahren eingewanderten Juden aus Osteuropa haben beispielsweise den Umgang mit deutschen Ämtern und der deutschen Bürokratie gelernt. Viele sprechen sowohl Ukrainisch als auch Russisch und sie helfen als Dolmetscher. Aber natürlich holen wir auch Menschen an der Grenze ab, wenn sie uns kontaktieren.

Gibt es gemeinsame Hilfsaktionen von russischen und ukrainischen Gemeindemitgliedern?Ja, die gibt es. Aber nicht jeder macht dabei mit. Leider wirken der russische und ukrainische Propagandakrieg. Den Krieg der Bilder, den gibt es auch hier. Es gibt prowestliche und antiwestliche Propaganda. Und bei der Verbannung von russischen Lebensmitteln hat man das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, denn beispielsweise ukrainische Händler können jetzt keine russischen Lebensmittel mehr verkaufen. Manche Läden, die als russischer Supermarkt firmieren, haben gerade mal den Wodka aus Russland, aber sie werden nun von dem Bann der russischen Waren getroffen. So leiden alle unter diesen Maßnahmen. Das ist eine verrückte Sache. Die Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion, die schon lange hier leben, sind oftmals deutsche Bürger:innen und sie wollen mit diesem Russland nichts zu tun haben. Aber sie leiden jetzt ebenfalls unter den Boykotten.

Waffenlieferungen sind keine Lösung.

Yuriy Kadnykov

Wie stehen Sie zu den Waffenlieferungen, unter anderem auch aus Deutschland?Ich bin gegen Waffenlieferungen. Sie sind keine Lösung. Ja, eine Panzerfaust kann einen Panzer zerstören. Es wird aber von der anderen Seite wieder neue Gewalt geben und dann werden noch mehr Bomben fallen und auf beiden Seiten immer mehr Menschen sterben. Ich persönlich bin gegen die Unterstützung der ukrainischen Armee durch Waffen und Gelder. Hier müssen wir den Menschen helfen, die fliehen. Sie haben alles verlassen und viele haben auch alles verloren. Seit acht Jahren haben wir nun schon den Bürgerkrieg. Die Familien werden zerrissen und die Folgen werden noch lange bleiben.

War der Angriff auf die Ukraine durch Russland abzusehen?Dieser Krieg sollte eigentlich schon vor 30 Jahren stattfinden, denn Russland führt einen Krieg gegen den Westen auf dem Boden der Ukraine. Wir haben in der Geschichte einige Zeichen, zum Beispiel Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, nicht wahrgenommen. Wir haben politische Fehler gemacht und die Ukraine zahlt den Preis. Und wenn es uns nicht gelingt, schnell wieder diplomatischen Erfolg zu haben, werden wir die nächsten sein, die den Preis zahlen müssen.

Und wie kann es jetzt weitergehen?Putin erwartet ein Gespräch mit US-Präsident Biden, nicht ein Gespräch mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj. Europa spielt in den Augen Putins als würdiger Gesprächspartner keine Rolle, weil Europa nicht liefern kann, was er erwartet hat. Deshalb hat er seine Offensive begonnen. Ich kann nur hoffen, dass Gespräche zwischen Biden und Putin schnell zum Schweigen der Waffen führen werden. Ich hoffe, dass die Menschen sich bald an einen Tisch setzen. Die große Politik muss jetzt sprechen und den Krieg sofort stoppen!

Wir müssen aufpassen, dass sich Patriotismus nicht gegen andere Menschen richtet.

Yuriy Kadnykov

Welche Auswirkungen hat der Krieg in der Ukraine auf die jüdische Gemeinde in MV?Das ist, wie schon gesagt, auch ein Krieg der Bilder, der durch das Internet von allen Seiten geführt wird. Das findet dann im Kopf statt. Und das gibt es nicht nur in unserer Gemeinde. Das gibt es ja auch in der gesamten deutschen Gesellschaft. Es ist gut, Solidarität mit der Ukraine zu zeigen, aber es darf sich nicht gegen Menschen mit russischen Pässen richten, die hier leben. Wir müssen aufpassen, dass sich Patriotismus nicht gegen andere Menschen richtet. Es gab schon Vorfälle, wo Menschen angegriffen wurden, weil sie Russisch sprachen oder russische Pässe hatten. Und man muss sehen, dass wir Anfragen von Russen haben, die (aus Russland, Anm. d. Red.) ausreisen wollen. Das, was die russische Regierung gemacht hat, wollen sie nicht mittragen. Andererseits gibt es auch Medien, die Ukrainer:innen als Nazis bezeichnen. Es ist einfach sehr gefährlich, wenn Bilder auf die ganze Bevölkerung projiziert werden.

Wie gestaltet sich in MV die Zusammenarbeit der Kirchen?Wir haben Kontakte in den Städten zwischen den Kirchengemeinden. Wir treffen uns einmal im Monat. Doch wenn die Religionsgemeinschaften gemeinsam zum Frieden aufrufen, ist das nicht die Lösung. Die Politik hat versagt. Leider sind die Missionen des Bundeskanzlers und der Außenministerin ebenso wie der Besuch des französischen Präsidenten Macron gescheitert. Russland hat den Weg der Diplomatie verlassen.

Sie haben auch in Jerusalem studiert. Was erwarten Sie von der israelischen Regierung?Ich hoffe, dass sie nicht den Fehler unserer deutschen Regierung macht, Waffen zu liefern. Waffen sind keine Hilfsmittel. Ich erwarte, dass sich Israel aus der militärischen Auseinandersetzung heraushält.

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