Anschlag auf Nord Stream
Der wunde Punkt Europas
Von Anna Hansen und Morten Hübbe
Lesedauer: ca. 11 Minuten
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Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat an Tag 214 einen Sabotageakt seltenen Ausmaßes hervorgebracht. Eine der wichtigsten Erdgas-Versorgungsleitungen zwischen Russland und Europa wurde nur einen Tag vor der Eröffnung der polnischen Gasleitung Baltic Pipe gesprengt.
Von wem, weiß bis heute niemand. Doch die Auswirkungen des Anschlags gehen weit über die europäische Energiesicherheit hinaus und geben eine Ahnung davon, wie hybride Kriegsführung im 21. Jahrhundert aussehen und Gesellschaft und Wirtschaft destabilisieren sowie die Umwelt beeinträchtigen könnte.
Kritische Infrastruktur – ein leichtes Ziel?
Als am 26. September 2022 der erste Druckabfall in einer der Nord-Stream-Röhren aufgezeichnet wurde, ließen die Spekulationen um einen möglichen Sabotageakt nicht lange auf sich warten. Denn: Die Sprengungen sind nicht der erste Angriff auf Europas kritische Infrastruktur.
Beispielsweise wurden in der Ostsee bereits Seekabel durchschnitten, nachdem russische Schiffe mehrfach ihren Verlauf abfuhren. Es gab Sabotageakte auf das Kommunikations- und Ticketsystem der Deutschen Bahn, auf schottischen Inseln fiel das Internet aus.
Besonders anfällig ist nach Meinung von Expert:innen aber die kritische Infrastruktur in internationalen Gewässern. Denn diese könne nicht vollständig überwacht werden. „Wir haben große Defizite in der Überwachung von Seeräumen, je weiter weg diese von Land liegen“, erklärte Göran Swistek, Sicherheitsexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik, im ZDF. Zwar bemühen sich die Anrainerstaaten um eine bessere Überwachung, doch noch sei es durchaus möglich, sich unbemerkt auf See zu bewegen und Sabotageakte durchzuführen, so der Fregattenkapitän.
Zur sogenannten kritischen Infrastruktur zählen Anlagen und Systeme, die wesentlich für ein funktionierendes gesellschaftliches Leben sowie die Sicherheit und Gesundheit einer Bevölkerung sind. Werden sie angegriffen und zerstört, kann das erhebliche Auswirkungen auf das soziale und wirtschaftliche Wohlergehen einer Gesellschaft haben.
Reaktion auf Vermessung des Meeresbodens
Russische Schiffe sollen kritische Infrastruktur am Meeresgrund im Bündnisgebiet der Nato kartiert haben. Es bestehe die Sorge, dass Russland Unterwasserkabel angreifen und das öffentliche Leben lahmlegen könnte. Der öffentlich-rechtliche dänische Sender DR erklärte, dass Russland Marineschiffe, U-Boote und Unterwasserdrohnen sowie zivile Forschungsschiffe, Frachtschiffe und Fischtrawler einsetze, um Sabotageakte gegen Internet-, Strom-, Gas- und andere Infrastrukturkabel vorzubereiten.
Als direkte Reaktion auf die mutmaßlichen Sabotageakte auf die Nord-Stream-Leitungen will die Nato nun Pipelines und Datenkabel im Meer besser schützen und plant dafür ein „Maritimes Zentrum für die Sicherheit kritischer Unterwasser-Infrastruktur“. Damit soll ein neues Überwachungssystem geschaffen werden, das sowohl für Teile des Atlantiks als auch für Nordsee, Ostsee, Mittelmeer und Schwarzes Meer zuständig ist.
Größte Treibhausgasemission der Geschichte
Bisher ist die ungeschützte unterseeische Infrastruktur nicht nur kritisch für unseren Alltag. Im Fall eines Anschlags kann auch die Umwelt stark betroffen sein. Abgesehen von den massiven Druckwellen, die die Explosionen zu einer potenziell tödlichen Gefahr für Meeressäuger machten, wurde durch die Beschädigungen der Gasleitungen eine enorme Menge Methan in die Atmosphäre freigesetzt. Nach Angaben des Integrated Carbon Observation System (ICOS), eines europaweiten Klimagas-Forschungsnetzwerks, entsprach das aus den Lecks ausgetretene klimaschädliche Gas innerhalb weniger Tage etwa dem jährlichen Methanausstoß von ganz Dänemark oder einer Stadt, so groß wie Paris.
Zwischen dem 26. September und dem 1. Oktober 2022 wurden mindestens 220.000 Tonnen Methan aus den Lecks der Pipelines freigesetzt. Damit gilt der Vorfall als die größte jemals gemeldete spontane Treibhausgasemission. Das unter Druck stehende Methan stieg aus den geborstenen Rohrleitungen am Meeresgrund auf. Mit abnehmendem Umgebungsdruck wuchsen die Gasblasen, die an der Meeresoberfläche einen Durchmesser von bis zu 700 Metern erreichten.
Methan ist eines der stärksten Treibhausgase. In einem Zeitraum von 100 Jahren erwärmt es die Atmosphäre etwa 25- bis 30-mal stärker als Kohlendioxid. Die konkreten Umweltauswirkungen der Sprengung werden jedoch unterschiedlich eingeschätzt: Ausmaß und Zeitpunkt des Lecks erhöhten den Druck auf die Klimamaßnahmen, weil die kritischen Jahre zur Verlangsamung des Klimawandels gerade jetzt seien, erklärt das ICOS. Auch das Leibniz-Institut für Ostseeforschung Warnemünde (IOW) hält die freigesetzte Menge an Methan für erheblich. „Das globale Klimageschehen wird durch die Nord-Stream-Entgasung jedoch nicht grundlegend verändert.“
Aufgrund der hohen Ausströmgeschwindigkeit habe das ausgetretene Gas auf Fische, Meeressäuger oder Vögel vermutlich kaum Auswirkungen gehabt. Statt sich im Wasser zu lösen, sei das meiste Gas in die Atmosphäre entwichen, urteilte das IOW. Zwar könne die stark mitreißende Bewegung des ausströmenden Methans passiv treibende Organismen wie Plankton Richtung Wasseroberfläche gerissen haben, doch da „das Bornholmbecken in der Tiefe ohnehin an Sauerstoffmangel leidet“, sei Bodenfauna kaum vorhanden und daher auch kaum betroffen gewesen.
Sprengkraft wie 300 Kilogramm TNT
Dass die Leitungen von Nord Stream 1 und 2 gesprengt wurden, gilt als sicher. Doch Fragen zum Tathergang und den Urheber:innen bleiben weiterhin offen. David Domjahn, Lehrbeauftragter für Sprengtechnik am Karlsruher Institut für Technologie, hält es für unwahrscheinlich, herauszufinden, welche Art von Sprengstoff verwendet wurde. Die schwedische Regierung hält den Tatortbefund unter Verschluss und auch die Bundesregierung und andere europäische Staaten halten ihre Ermittlungsergebnisse zurück. Auch das entwichene, unter Druck stehende Gas und das in die Leitungen eingedrungene Meerwasser haben Spuren am Tatort verwischt. Außerdem ist das Seegebiet um Bornholm mit versenkten Kampfmitteln aus dem Zweiten Weltkrieg belastet. Dass diese Munition an mehreren Stellen und spontan im Bereich der Pipelines detonierte, ist unwahrscheinlich. Erst recht, da die Nord Stream AG im Vorfeld des Pipelinebaus eine Munitionsaltlastenuntersuchung durchführen ließ.
Allerdings könnten in die Jahre gekommene Kriegswaffen absichtlich für die Zerstörung der kritischen Infrastruktur eingesetzt worden sein, wie auch moderne Seeminen. „Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde der Anschlag auf die Gasversorgung durch Fachkundige mit Zugriff auf entsprechende Hilfsmittel und Logistik durchgeführt“, schreibt Domjahn auf seiner Internetseite.
Alles deutet darauf hin, dass die Sprengung der betonummantelten Gasleitungen von außen erfolgte. Eine genaue Auskunft über ihre Wirkung könne allerdings nur eine „metallografische Untersuchung von zweckmäßig entnommenen Materialproben“ liefern, heißt es in einem für Greenpeace erstellten Gutachten Ende November 2022.
Die seismografischen Aufzeichnungen der Nord-Stream-Sprengungen lassen eine Detonation mit der Kraft von rund 300 Kilogramm TNT-Sprengstoff vermuten. Allerdings könne auch eine geringere Sprengstoffmenge für die Beschädigungen an den Pipelines ausgereicht haben, so Domjahn. An Land hätten die Sprengsätze der Gasleitungen in Summe womöglich ein ähnliches Schadensbild wie der Bombenanschlag auf ein US-Bundesgebäude in Oklahoma City im Jahr 1995 erzeugen können. Der genaue Tathergang könne bis heute nicht ermittelt werden, weil sichergestellte Fragmente und Untersuchungsergebnisse „von der schwedischen Regierung immer noch zurückgehalten“ werden. Mit dem öffentlich zugänglichen Schadensbild könne lediglich eine grobe Abschätzung der Sprengstoffmenge und der Ausführung vorgenommen werden, erläutert der Sprengstoffexperte.
Für eine vollumfängliche Einschätzung der Explosion fehlen zusätzliche Daten, etwa zur Sedimentzusammensetzung und den Strömungsverhältnissen am Meeresgrund, eine geophysikalische Erfassung des Seebodens bis in eine Tiefe von zehn Metern und eine chemisch-analytische Auswertung der Spurenproben. Doch auch wenn alle Informationen erhoben seien, lasse sich „daraus zwar der Modus Operandi rekonstruieren“, aber keiner Gruppe, Organisation oder Staat die Täterschaft zuzuordnen, so das Greenpeace-Gutachten.
Die Andromeda-Theorie
Eine weitere Spur liefert die Motorjacht Andromeda. Mit ihr sollen über Polen, Rostock und Rügen Sprengladungen transportiert und anschließend an den Pipelines platziert worden sein. Nach Recherchen von Spiegel und ZDF ist es die heißeste Spur der Ermittler:innen, und sie führt bis in die Ukraine. Aber wie wahrscheinlich ist dieses Vorgehen?
Für Sprengungen unter Wasser braucht es wasserfesten Sprengstoff. C4 oder Semtex kämen dafür infrage. Semtex wird sowohl im militärischen als auch im gewerblichen Bereich eingesetzt und hat bei kleineren Abnahmemengen einen Kilopreis von etwa 100 Euro. Um die seismischen Auswirkungen der Explosionen an den Gasleitungen zu erzeugen, sind allerdings mehrere Hundert Kilogramm Sprengstoff notwendig. Diese Menge kann nur mit technischen Hilfsmitteln bis auf den Meeresgrund gelassen werden, erklärt Sicherheitsexperte Swistek. Dafür brauche es auch das notwendige Fachwissen im Umgang mit Sprengstoff. Es sei möglich, mit einer Jacht den Sprengstoff zu transportieren und ihn von dort in die Nähe der Pipelines zu bringen. Das könne bereits mit einer kleinen, aber spezialisierten Personengruppe gelingen. Überzeugend sei diese Argumentation jedoch nicht.
Für einen staatlichen Akteur sei es wesentlich einfacher, eine Sprengstoffmenge dieser Größe in Form einer Grundmine einzusetzen, die mit einem Schiffskran positioniert werden könne. Eine weitere denkbare Methode sei, dass Kriegsmunition und -waffen in der Nähe der Gasleitungen am Meeresgrund durch eine Schlagpatrone von wenigen Kilogramm Sprengstoff gezündet wurden. Dem entgegen steht die bereits erwähnte Altlastenuntersuchung vor dem Pipelinebau. Auch könnten alte Sprengmittel am Grund der Ostsee mit Hebewerkzeugen bewegt und in der Nähe der Pipeline abgelegt worden sein. So könnten Spuren auf die Täterschaft noch besser verschleiert werden.
Eine kleinere Gruppe hätte dagegen weit weniger Sprengstoff transportieren müssen, wenn sie die Ladungen direkt an den Verbindungsstellen der Rohrsegmente angebracht hätte, erklärt David Domjahn. Insgesamt scheint es wenig wahrscheinlich, eine Jacht „mit Hunderten Tonnen von Sprengstoff zu beladen und dabei zu riskieren, entdeckt zu werden“, so der Sprengstoffexperte.
Kein Geheimdienst kennt die Täter
Was die Täterschaft der Anschläge angeht, darüber rätseln Ermittlungsbehörden, Geheimdienste, Politiker:innen und Journalist:innen weltweit. Bundesnachrichtendienst-Chef Bruno Kahl erklärte im Mai: „Kein Geheimdienst weiß Bescheid.“ Es wurde bereits über eine Reihe von Akteuren spekuliert, die für die Sprengungen verantwortlich sein könnten. Die USA, Russland, die Ukraine, möglicherweise auch eine False-Flag-Operation – Hinweise gibt es für diese oder jene Täter:innen, belastbare Belege bislang nicht. Hinzu kommen unzählige Theorien – nicht zuletzt aus rechtskonservativen, Alt-right- und verschwörungstheoretischen Kreisen. Auch das sind Auswirkungen einer modernen, hybriden Kriegsführung, deren Ziel es ist, Gesellschaften zu destabilisieren, indem Verunsicherung und Misstrauen geschürt werden. Darüber, wer den Anschlag beauftragt und verübt hat. Darüber, wer welche Motive hätte. Darüber, wer am Ende eigentlich die Kontrolle über wen hat. Mit Russlands gesammeltem Wissen über die baltische Unterwasserinfrastruktur verschiedener Anrainerstaaten könnte Putin „ganz Europa lahmlegen“, heißt es in der Investigativrecherche Der Schattenkrieg der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten von Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland.
Es gibt keine Stellungnahme Russlands zur Anwesenheit russischer Schiffe um die Nord-Stream-Pipelines im Juni und September 2022. DR-Recherchen haben ergeben, dass sich das russische Marineschiff SB-123 fünf Tage vor den Explosionen mindestens 18 Stunden um den nördlichen und südlichen Explosionsort aufgehalten haben soll – vermeintlich unbeobachtet, mit abgeschaltetem Schiffsidentifizierungssystem. Putins Pressesprecher Dmitri Peskow bestritt jegliche Beteiligung Russlands an den Sabotageakten und betonte die Notwendigkeit internationaler Untersuchungen.
Scholz will Sprengung vor Gericht verhandeln
Im Kanzleramt herrscht indessen Nervosität wegen einer möglichen ukrainischen Beteiligung. Sollte bekannt werden, dass ukrainische Staatsbürger:innen hinter dem Sabotageakt stecken, könnte dies die Ampelregierung den Rückhalt in der Bevölkerung für deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine kosten. Auch, wenn die Frage nach den Hintermännern und Auftraggebern weiterhin ungeklärt ist.
Deutsche Ermittler:innen gehen Hinweisen auf eine Beteiligung von Ukrainer:innen nach, da bereits im Juni 2022 laut Medienberichten Anschlagspläne bekannt wurden. Der ukrainische Präsident WolodymyrSelenskyj bestreitet eine Beteiligung seines Landes an dem Sabotageakt. Doch gleich, wer dahintersteckt, Kanzler Olaf Scholz (SPD) will nun die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen und ihnen in Deutschland den Prozess machen: „Da kann keiner auf Rücksicht hoffen.“
Nächstes Infrastrukturprojekt in Gefahr?
Deutschland war lange abhängig von russischem Erdgas. Die Alternative heißt nun LNG. Flüssiggasterminals wurden an der Nordseeküste errichtet und auch in MV soll ein solches Terminal entstehen. Zunächst stand Lubmin im Zentrum der Planungen. Mittlerweile gilt der Hafen von Mukran auf Rügen als bevorzugter Standort an der Ostsee. Gegen das Großprojekt wehren sich die Menschen auf der Insel seit Monaten. Sie sehen eine Gefahr für Umwelt und Tourismus, befürchten, dass auch diese kritische Infrastruktur direkt vor ihrer Haustür gezielt angegriffen werden könnte. Ob es tatsächlich so weit kommt, kann niemand voraussagen. Dass die kritische Infrastruktur vor allem im Meer und an der Küste kaum geschützt ist, ist dagegen unbestritten.
Am 26. September wird zu dem Thema eine großangelegte Recherche von ARD, Süddeutscher Zeitung und Die Zeit um 21.45 Uhr im Ersten ausgestrahlt.
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Autor:innen
Redakteurin bei KATAPULT MV.
ist KATAPULT MVs Inselprofi und nicht nur deshalb gern am Wasser. Nutzt in seinen Texten generisches Femininum.