Die Klimakrise bedroht unsere natürlichen Lebensgrundlagen, unsere Sicherheit und das Überleben zukünftiger Generationen. Und ganz aktuell auch unsere psychische Gesundheit. Susanne Nicolai ist Umweltpsychologin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Nachhaltigkeitswissenschaft und Angewandte Geographie der Universität Greifswald. Sie forscht zur Wahrnehmung von Ungerechtigkeit und Emotionen in der Klimakrise und ist Mitautorin des Buches „Climate Emotions“, das im Oktober 2022 erscheint.
KATAPULT MV: Sie erforschen die Auswirkungen der Klimakrise auf unsere psychische Gesundheit. Gibt es wirklich Menschen, die sich wegen der Klimakrise in psychotherapeutische Behandlung begeben?
Susanne Nicolai: Ja, tatsächlich. Ich bin bei den Psychologists For Future, einer Initiative von Psycholog:innen nach dem Vorbild von Fridays For Future, die sich unter anderem gegründet haben, weil Klimaangst mehr und mehr als Thema in Therapien auftaucht. Es gibt viele Menschen, die sich angesichts der Krisen in der Welt hilflos fühlen, vielen macht gerade die Klimakrise große Angst. Ich habe in Greifswald beim Stammtisch für Psychotherapeut:innen herumgefragt, bei wem bereits Sorgen über die Klimakrise Thema in den Therapien war. Das waren so gut wie alle. Klimaangst betrifft übrigens Menschen aller Altersgruppen, besonders häufig aber junge Erwachsene im Familiengründungsalter.
Die Leute kommen in die Sprechstunde und sagen: „Ich brauche Hilfe, ich habe Angst vor der Klimakrise“?
Naja, es ist eher meist eines von mehreren Problemen unter denen Patient:innen leiden. Psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen ist weiterhin mit hohen Stigmata belegt. Außerdem kann es etwa ein Jahr dauern, bis man einen Therapieplatz bekommt. Da ist der Leidensdruck, bevor sich Menschen um einen Platz bemühen, oft sehr hoch. Aber die Klimakrise ist ein Thema, das Menschen stark bewegt und auch belastet.
Ab wann ist diese Angst gefährlich, wann ist es eine Störung?
Also erstmal ist es total natürlich, Angst zu haben. Die Klimakrise ist eine existenzielle Gefährdung für die Menschheit und wir reagieren nun mal mit Angst auf Gefahren. Das finde ich sehr wichtig zu betonen. Wenn ich im Wald einem Bären gegenüberstehe, würde sich ja auch keiner wundern, dass ich Angst habe.
Die Klimakrise ist der Bär?
Genau. Nicht die Angst, sondern die Klimakrise ist das Problem. Die meisten Menschen mit Klimaangst brauchen keine Therapie. Im besten Fall ist die Angst sogar ein effektiver Bewältigungsmechanismus. Die Klimaangst kann ein Auslöser sein, sich zu engagieren. Sie kann uns als Menschheit am Ende also sogar retten. Schwierig und behandlungswürdig wird die Angst erst, wenn ich meinen Alltag nicht mehr schaffe, wenn ich nur noch grüble und mich nicht mehr ablenken kann.
Ist die Entstehung von Protestbewegungen wie Fridays For Future so etwas wie eine Reaktion auf kollektive Ängste?
Ja, das kann man so sehen. Sich zusammenzuschließen ist eine weitere, sehr wirkungsvolle Bewältigungsstrategie gegen Angst und Ohnmachtsgefühle. Indem man zusammen ein Problem angeht, erlebt man Selbstwirksamkeit. Menschen mit großer Klimaangst würde ich genau das empfehlen: Engagiert euch, schließt euch mit anderen zusammen. Allerdings muss ich dazu sagen, dass wir als Umweltpsycholog:innen mehr zum Thema beitragen können als emotionale Probleme aufzufangen und Seelsorge zu betreiben.
Nämlich was?
Wir können helfen zu erklären, wieso die Klimakrise so unzureichend bekämpft wird, welche Hindernisse bestehen, warum wir nicht endlich beginnen zu handeln. So genannte „Climate Emotions“, Klimagefühle, werden zwar erst seit einigen Jahren erforscht, aber die Umweltpsychologie beschäftigt sich schon seit den 1980er Jahren damit, unter welchen Umständen sich Menschen nachhaltig und verantwortungsvoll verhalten. Und wann nicht.
Und welche Antworten gibt es darauf? Dass es einen menschengemachten Klimawandel gibt, ist ja schon seit mindestens den 1990er Jahren bekannt und weitreichende Handlungen sind bisher ausgeblieben.
Erstmal ist der Klimawandel wirklich ein schwieriger Gegner: Es ist ein globales Problem, das nicht sichtbar ist und schleichend über einen langen Zeitraum voranschreitet. Der Einfluss jedes Einzelnen ist im Vergleich zu dem von Staaten oder Unternehmen gering und es ist auch nicht immer vollkommen klar, wie sehr jede einzelne Handlung den Klimawandel voranschreiten lässt.
Ob ich noch einmal in den Urlaub fliege oder dieses eine Mal Fleisch esse oder nicht, scheint dann keinen großen Unterschied zu machen?
Ja, genau. Zudem ist es für uns Menschen unglaublich schwierig, unsere Gewohnheiten zu verändern. Es ist paradox, aber es fällt uns viel leichter, unsere Einstellungen als unsere Gewohnheiten zu verändern. Wenn ich also einen SUV fahre und Statistiken lese, wie viel mehr CO₂ die ausstoßen als ein normaler Kleinwagen, dann ist es leichter für mich, den Quellen für die Statistiken zu misstrauen, als den SUV zu verkaufen. Und diese Trägheit im Verhalten macht sich auch die Werbeindustrie zunutze.
Inwiefern?
Viele Unternehmen versuchen durch Greenwashing, indem sie ihre Produkte also als möglichst umweltfreundlich und nachhaltig darstellen, Kund:innen zu gewinnen. Das macht es mir als Verbraucherin leicht, mich auf der guten Seite zu wähnen und an meinem Konsumverhalten erstmal nichts zu verändern. Eine Rolle spielt dabei auch der Single Action Bias.
Was ist das?
Das ist das Gefühl, mit einer einzigen guten Tat hätte ich genug getan. Nach dem Motto: Ich benutze einen Recup-Becher und damit habe ich die Erde gerettet. Das ist auch ein Versprechen vieler Marketingkampagnen. Aber um die zu durchschauen, müsste ich eine richtige Recherche starten, mich intensiv mit Studien beschäftigen – das kann nicht jede:r leisten. Wir bräuchten daher dringend eine Kontrolle der Werbeindustrie und auch Kontrolle von Lobbyismus. Es gibt Hoffnung machende Beispiele, dass Menschen, wenn sie die richtigen, wissenschaftlich fundierten Informationen bekommen, auch richtige Entscheidungen treffen.
Was sind das für Beispiele?
Mein Lieblingsbeispiel sind die Bürger:innenräte, die in vielen europäischen Ländern gegründet wurden. Deren Zusammensetzung wurde zwar nach soziodemografischen Merkmalen quotiert, um eine repräsentative Stichprobe zu erhalten, die Mitglieder wurden allerdings gelost, so dass es quasi jede:n treffen konnte. Diese Räte sind zu kreativen, weitreichenden und zum Teil radikalen Forderungen zur Bekämpfung der Klimakrise gekommen. Ich glaube, dass wir in Deutschland mehr Instrumente wie diese Räte brauchen.
Das heißt, Sie haben trotz der bisher ausgebliebenen politischen Handlungen noch Hoffnung?
Ich setze tatsächlich sehr viel Hoffnung in Schwarmintelligenz und kollektives Handeln. In der Gerechtigkeitsforschung gibt es starke Belege dafür, dass Menschen Gerechtigkeit so wichtig ist, dass sie den Drang haben, ungerechte Situationen aufzulösen und sogar Privilegien herzugeben. Dass sie zum Beispiel einen Geldgewinn teilen.
Was hat die Klimakrise mit Gerechtigkeit zu tun?
Sehr viel! Bei Klimagerechtigkeit geht es natürlich um Gerechtigkeit gegenüber nachfolgenden Generationen, aber vor allem auch um globale Gerechtigkeit. Denn während wir uns hier in Europa noch immer den Luxus herausnehmen, von der Klimakrise als einem zukünftigen Problem zu sprechen, leidet der Süden der Welt in einer Art Fortführung der kolonialen Strukturen schon lange unter Extremwetterereignissen und Hungersnöten. Es gibt Forschungsergebnisse, die nahelegen, dass nahezu alle aktuellen Krisen – die Biodiversitätskrise (also das Artensterben), die Migrationsbewegungen, die Hungersnot, die den Arabischen Frühling ausgelöst hat – in dieser Riesenkrise, der Klimakrise, wurzeln. Sie alle sind Symptome der gleichen Ursache: unserem individuellen Lebensstandard im Norden der Welt und des damit verbundenen CO₂-Ausstosses.
Nehmen wir diese globalen Ungerechtigkeiten denn überhaupt wahr?
Ich denke schon. Auch wenn ein gewisses Maß an Reflexionsvermögen und Informiertheit dazu gehört und sich sicher nicht alle Menschen des Ausmaßes der verschiedenen Ungerechtigkeiten bewusst sind.
Kann die Wahrnehmung einer Ungerechtigkeit zum Handeln bewegen?
Auf jeden Fall. Die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit kann ganz verschiedene Emotionen hervorrufen. Zu den sogenannten „Klimagefühlen“, die wir erforschen, gehört nicht nur die Klimaangst, sondern auch die Klimascham und -schuld, eine Umweltwut und Umwelttrauer. Auch die sind handlungsleitend und haben das Potential, uns zu nötigen Veränderungen zu bewegen.
Was ist denn „Umwelttrauer“?
Das ist eine Emotion, die zum Beispiel Menschen haben, die Zeit ihres Lebens miterlebt haben, wie immer mehr Natur verschwindet, weil Städte und Dörfer wachsen und Sehnsuchtsorte aus der Kindheit nicht mehr existieren. Oder wie Arten verschwinden. Zum Beispiel gibt es viele Menschen mittleren Alters, die als Kinder noch regelmäßig Rebhühner gesehen haben, die nun quasi verschwunden sind.
Würden Sie auch Menschen mit Umwelttrauer empfehlen, sich zusammenzuschließen und zu engagieren?
Auf jeden Fall. Diese Gefühle kommen sowieso häufig in einem Mix, selten in Reinform vor. Wenn ich mich um das Klima sorge, kann ich Trauer, Wut, Angst, Scham oder Schuld empfinden, oft alles gleichzeitig.
Ist bei allem Engagement auch erlaubt, ab und zu die Klimakrise zu verdrängen?
Ja klar, wenn das nötig ist, um psychisch gesund zu bleiben. Oder, was noch besser ist als Verdrängung: Erfolge feiern! Auch wenn sie klein sind. Gerade kleine Siege werden oft weggeredet. Dabei sind sie enorm wichtig. Nicht nur, um voranzukommen, sondern auch, um motiviert zu bleiben weiterzumachen.