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Ein Jahr Fahrradstraße, ein Jahr Konflikt

Seit gut einem Jahr hat der Fahrradverkehr auf der Langen Straße in Rostock Vorrang gegenüber motorisierten Fahrzeugen. Was mit einem zwölfmonatigen Testbetrieb begann, wird nun dauerhaft fortgeführt. Dabei sind alle Beteiligten unzufrieden. Die Kritik an der Fahrradstraße ebbt nicht ab.

Vorrang für nichtmotorisierte Zweiräder lautete das Ziel, als die Lange Straße im Mai 2022 probeweise zur Fahrradstraße umgewidmet wurde. Es ist nicht die erste Straße dieser Art in Rostock, aber von Beginn an die meistdiskutierte, denn sie befindet sich mitten im Zentrum der Stadt. Das Ideal sah zunächst vielversprechend aus: Fahrräder fahren nebeneinander, Autofahrerinnen ordnen sich dem Radverkehr unter, dürfen ihn nicht überholen. Das Modellprojekt wurde vom damaligen Oberbürgermeister Claus Ruhe Madsen angeschoben.

Piktogramme auf der Fahrbahn machen auf die Regelung aufmerksam. Besser gesagt, sie versuchen es. Denn die wenigsten Verkehrsteilnehmerinnen scheinen das Prinzip der Fahrradstraße wirklich verstanden zu haben. Das ist um so erstaunlicher, als dass Überholmanöver von Autos schon vorher verboten waren, weil der Mindestabstand zu Radfahrerinnen nicht eingehalten werden kann. Die Fahrbahn war und ist nicht breit genug.

Die Fahrradstraße wurde eingeführt, um die Zahl der Unfälle zu reduzieren und das Sicherheitsgefühl der Radfahrerinnen zu erhöhen. Durch die seitlich zur Fahrbahn ein- und ausparkenden Autos kam es oft zu gefährlichen Situationen für Radfahrerinnen auf dem ehemals separaten Radstreifen zwischen Fahrbahn und Parkplätzen.

Dieses Gefahrenpotenzial ist nun gebändigt. Dennoch fühlen sich Radfahrerinnen weiterhin unsicher, weil sie sich jetzt eine Fahrbahn mit dem Kraftverkehr teilen. Auch wenn sie theoretisch Vorrang haben, verzichten viele Radfahrerinnen zur eigenen Sicherheit darauf, ihr Recht konsequent wahrzunehmen. Motorisierte Verkehrsteilnehmerinnen überholen weiterhin mit viel zu geringem Abstand. Manche drängeln, andere pöbeln und fordern freie Fahrt; unabhängig davon, ob sie sich mit vier oder zwei Rädern auf der Straße fortbewegen.

So kommt es vor, das Radfahrerinnen selbst gegen die Verkehrsregeln verstoßen und auf den gesperrten Radweg oder die Fußwege ausweichen und damit sich selbst oder Fußgängerinnen gefährden.

„Alle sind irgendwie unzufrieden“

Polizeihauptmeister Ronny Schoof kennt die Herausforderungen auf der Langen Straße. Er sei nahezu täglich auf der Fahrradstraße unterwegs – sowohl mit dem Dienstrad, dem Streifenwagen als auch zu Fuß. Seine persönliche Wahrnehmung: Die Lage ist nicht zufriedenstellend. „Ich spreche dort mit vielen Leuten und alle sind irgendwie unzufrieden“, berichtet er.

Viele Radfahrerinnen fühlen sich von hinterherfahrenden PKW verunsichert, so der Beamte. Das Stressniveau steige, weil sich die Radfahrerinnen „genötigt fühlen, schneller zu fahren oder Platz zu machen“. Allein die Anwesenheit eines Kraftfahrzeugs im Rücken genüge, damit Radfahrerinnen mit höherer Geschwindigkeit fahren, als sie es eigentlich möchten, oder sich „durch Gesten oder genervtes ständiges Umdrehen bemerkbar machen“.

Viele Radfahrende nutzten außerdem massiv die Fußwege, schreibt Schoof. Das seien Personen, die ein bestimmtes Ziel in der Stadt hätten und nicht bereit seien, Umwege in Kauf zu nehmen. „Einige davon sind auch ältere Personen, die der Radstraße nicht trauen und Angst vor der Situation mit den Kraftfahrzeugen haben.“

Andere Verkehrsteilnehmerinnen beschäftigten sich gar nicht mit der geänderten Verkehrsgestaltung und seien der Fahrradstraße gegenüber völlig gleichgültig eingestellt, berichtet der Polizeihauptmeister. Das seien Leute, die teilweise seit Jahrzehnten durch die Lange Straße fahren, „wie sie es für nötig halten“.

Zehntausende Fahrradfahrten und Aufregung um die Verkehrsordnung

Nichtsdestotrotz herrscht Bewegung auf der Fahrradstraße. Während der einjährigen Projektphase und darüber hinaus wurden und werden Verkehrsdaten erhoben und ausgewertet. Auf beiden Fahrbahnen der Langen Straße dokumentieren Zählschleifen den Radverkehr, teilt die Stadtverwaltung mit. Im April wurden 37.256 Fahrten entlang der Fahrradstraße registriert. 21.871 wurden auf der südlichen Fahrbahn in Richtung Marienkirche gezählt, 15.385 auf der nördlichen Fahrbahn in Richtung Kröpeliner Tor. An Werktagen sind es im Schnitt 1.352 Fahrten, knapp 8.000 pro Woche. In der letzten Aprilwoche lag das Fahrradaufkommen insgesamt bei 10.228.

Viel Verkehr verursacht viel Aufregung. „Uns erreichen zahlreiche negative Rückmeldungen zum derzeitigen Stand der Langen Straße“, berichtet Annika Haß von der Initiative Radentscheid Rostock. Täglich komme es zu gefährlichen Überholmanövern, bei denen Autofahrerinnen nicht den gesetzlich vorgeschriebenen Überholabstand einhalten. „Diese Erlebnisse führen dazu, dass einige Radfahrende wieder den ehemaligen Streifen befahren oder StVO-widrig auf dem Gehweg fahren.“

Die Breite der Langen Straße verleite Autofahrerinnen immer wieder zum Überholen, obwohl der Sicherheitsabstand zu gering sei, so Haß. Sie selbst erlebe die Lange Straße regelmäßig und werde bei fast jeder Fahrt über die Fahrradstraße zu dicht überholt oder durch dichtes Auffahren oder Hupen bedrängt.

Auf dem Fahrradforum, das aus Vertreterinnen der Bürgerschaftsfraktionen, der Ortsbeiräte, der Nutzerverbände, der Verwaltung, des Astas der Universität Rostock, der Polizei und anderen Institutionen besteht und etwa sechsmal jährlich zusammenkommt, habe die Stadt diese Wahrnehmung bestätigt.

Eine kurzfristige Lösung für weniger Verkehr sei die Sperrung der Zufahrt aus der Grubenstraße für Kraftfahrzeuge, sagt Haß. Diese Idee habe die Stadt allerdings bereits im letzten Jahr verworfen und wolle sie auch nicht wieder aufgreifen. „Der ursprünglich erhoffte Effekt einer signifikanten Reduzierung des KFZ-Verkehrs wird nicht mehr erwartet“, heißt es aus der Stadtverwaltung.

Ohne Rücksicht hilft nur die Trennung

Langfristig sei die einzig sinnvolle Maßnahme für mehr Sicherheit eine vollständige Trennung aller Verkehrsteilnehmerinnen, so Haß. Ihre Initiative habe dies schon vor Jahren vorgeschlagen. Haß denkt dabei an eine autofreie Fahrradstraße. „Eine Verkehrsreduzierung hat immer Vorteile für die Aufenthaltsqualität in einer Straße“, sagt sie und nennt als Beispiele die Fußgängerzone Kröpeliner Straße und den autofreien Neuen Markt.

Die Lange Straße ohne Autos? So weit geht die Stadtverwaltung nicht. Stattdessen sollen zusätzliche Piktogramme auf der Fahrradstraße noch deutlicher machen, welche Verkehrsteilnehmerinnen Vorrang genießen. Außerdem soll künftig eine linksseitig durchgezogene weiße Linie die Fahrbahn optisch verschmälern. Dadurch sollen unzulässige Überholvorgänge reduziert werden, hofft die Stadt. „Ob diese Wirkung tatsächlich eintritt, können auch wir erst nach erfolgter Umsetzung feststellen.

Perspektivisch könne es notwendig sein, Rad- und motorisierten Verkehr räumlich zu trennen, heißt es aus dem Amt für Mobilität. Letztlich sei neben einer guten Infrastruktur aber auch ein regelkonformes Verhalten aller Verkehrsteilnehmerinnen maßgeblich. Dazu gehöre gegenseitige Rücksichtnahme für die Sicherheit im Straßenverkehr und ein wachsendes Bewusstsein für das Miteinander in der Langen Straße.

Dieser Artikel erschien in Ausgabe 20 von KATAPULT MV.

Quellen

  1. Autor verwendet generisches Femininum.
  2. E-Mail von Ronny Schoff vom 5.5.2023.
  3. Hanse- und Universitätsstadt Rostock (Hg.): Lange Straße, auf: data.eco-counter.com.
  4. E-Mail von Annika Haß vom 10.5.2023.
  5. E-Mail von Kerstin Kanaa, stellvertretende Pressesprecherin der Hanse- und Universitätsstadt Rostock, vom 18.4.2023.
  6. Hanse- und Universitätsstadt Rostock (Hg.): Lange Straße bleibt Fahrradstraße, auf: rathaus.rostock.de (3.4.2023).
  7. E-Mail von Kerstin Kanaa vom 26.4.2023.
  8. Hanse- und Universitätsstadt Rostock (Hg.): Lange Straße bleibt Fahrradstraße, auf: rathaus.rostock.de (3.4.2023).

Autor:in

  • Freier Redakteur

    Ist KATAPULT MVs Inselprofi und nicht nur deshalb gern am Wasser. Nutzt in seinen Texten generisches Femininum.

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